Kein Fahrradhelm

Der Schadensersatzanspruch eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, ist jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB gemindert.

Kein Fahrradhelm

Bei der Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB ist in erster Linie nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben1. Im vorliegend vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall war das Nichttragen eines Fahrradhelms ursächlich für das Ausmaß der von der Fahrradfahrerin erlittenen Kopfverletzungen. Ein Helm hätte das bei dem Sturz erlittene Schädel-Hirn-Trauma zwar nicht verhindern können. Ein Helm habe aber die Funktion einer Knautschzone, welche die stumpf einwirkenden Energien absorbiere. Die Kraft des Aufpralls werde auf eine größere Fläche verteilt und dadurch abgemildert. Im vorliegenden Fall hätte ein Fahrradhelm die Verletzungsfolgen deshalb zumindest in einem gewissen Umfang verringern können.

Die durch das Nichttragen eines Fahrradhelms begründete objektive Mitverursachung hinsichtlich des Ausmaßes der von der Fahrradfahrerin erlittenen Verletzungen führt entgegen der Auffassung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts2 jedoch nicht zu einer Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB.

Der Vorschrift des § 254 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei dessen Entstehung er in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat3. § 254 BGB ist eine Ausprägung des in § 242 BGB festgelegten Grundsatzes von Treu und Glauben4. Da die Rechtsordnung eine Selbstgefährdung und Selbstbeschädigung nicht verbietet, geht es im Rahmen von § 254 BGB nicht um eine rechtswidrige Verletzung einer gegenüber einem anderen oder gegenüber der Allgemeinheit bestehenden Rechtspflicht, sondern nur um einen Verstoß gegen Gebote der eigenen Interessenwahrnehmung, also um die Verletzung einer sich selbst gegenüber bestehenden Obliegenheit5. Die vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit der Anspruchsminderung des Geschädigten beruht auf der Überlegung, dass jemand, der diejenige Sorgfalt außer acht lässt, die nach Lage der Sache erforderlich erscheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, auch den Verlust oder die Kürzung seiner Ansprüche hinnehmen muss6, weil es im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem unbillig erscheint, dass jemand für den von ihm erlittenen Schaden trotz eigener Mitverantwortung vollen Ersatz fordert7. Eine Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB hängt nicht davon ab, dass der Geschädigte eine Rechtspflicht verletzt hat8. Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass er gegen eine gesetzliche Vorschrift9 oder eine andere Verhaltensanweisung wie etwa eine Unfallverhütungsvorschrift verstoßen hat10.

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Ein Mitverschulden des Verletzten im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB ist bereits dann anzunehmen, wenn dieser diejenige Sorgfalt außer acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt11. Er muss sich „verkehrsrichtig“ verhalten, was sich nicht nur durch die geschriebenen Regeln der Straßenverkehrsordnung bestimmt, sondern durch die konkreten Umstände und Gefahren im Verkehr sowie nach dem, was den Verkehrsteilnehmern zumutbar ist, um diese Gefahr möglichst gering zu halten12. Danach würde es für eine Mithaftung der Fahrradfahrerin ausreichen, wenn für Radfahrer das Tragen von Schutzhelmen zur Unfallzeit im Jahr 2011 nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich war.

In der Vorinstanz hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht2 angenommen, dass dies der Fall gewesen sei. Es meint, das allgemeine Verkehrsbewusstsein in Bezug auf das Tragen von Schutzhelmen beim Fahrradfahren habe sich in den letzten Jahren stark gewandelt, weshalb nach dem heutigen Erkenntnisstand grundsätzlich davon ausgegangen werden könne, dass ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens beim Radfahren einen Helm trage, wenn er sich in den öffentlichen Straßenverkehr begebe. Dieser Beurteilung widerspricht der Bundesgerichtshof:

Das OLG Schleswig stützt seine Beurteilung im Wesentlichen auf Überlegungen hinsichtlich des besonderen Verletzungsrisikos, dem Radfahrer im Straßenverkehr heute ausgesetzt seien. Allein mit dem Verletzungsrisiko und der Kenntnis davon lässt sich ein verkehrsgerechtes Verhalten jedoch nicht begründen. Auch der heutige Erkenntnisstand hinsichtlich der Möglichkeiten, dem Verletzungsrisiko durch Schutzmaßnahmen zu begegnen, rechtfertigt noch nicht den Schluss, dass ein Radfahrer sich nur dann verkehrsgerecht verhält, wenn er einen Helm trägt. Insoweit mag der Fortschritt der Sicherheitstechnik zwar in gewissem Maße Berücksichtigung finden13. Die technische Entwicklung hat aber nur bedingte Aussagekraft für die Beurteilung der Frage, welches Verhalten tatsächlich dem heutigen allgemeinen Verkehrsbewusstsein entspricht.

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Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung, in der es um die Frage des Mitverschuldens eines Mopedfahrers ging, der bei einem Verkehrsunfall im Jahr 1974 eine Kopfverletzung erlitt, weil er keinen Helm trug, zu den Voraussetzungen für die Annahme eines verkehrsgerechten Verhaltens näher Stellung genommen14. Er hat dazu ausgeführt, dass weder die Gefährlichkeit noch das gegenüber früher – nicht zuletzt wegen der zunehmenden Dichte des Verkehrs – bei Mopedfahrern möglicherweise gesteigerte Bewusstsein für solche Gefährdungen ausreichten, um das Fahren ohne Helm als nicht verkehrsgerecht zu bewerten. Zur Beurteilung einer allgemeinen Überzeugung könnten Umfrageergebnisse, Statistiken und amtliche oder nichtamtliche Erhebungen herangezogen werden, die jedoch nicht vorhanden seien. Ohne solche zureichend verlässlichen Unterlagen könne von einer allgemeinen Überzeugung, dass es für einen ordentlichen und gewissenhaften Mopedfahrer zum eigenen Schutz in jedem Falle erforderlich sei, auf seinen Fahrten einen Schutzhelm zu tragen, so lange nicht gesprochen werden, als selbst der Verordnungsgesetzgeber, von dem zu dieser Frage gewissenhafte Überlegungen und Nachforschungen erwartet werden könnten, noch Ende 1975 die einschlägigen Gefahren relativiert und die Anordnung entsprechender Anschaffungen der Mopedfahrer im Hinblick darauf noch als unzumutbar angesehen habe. Bei dieser Sachlage habe sich dem verunglückten Mopedfahrer zu damaliger Zeit nicht aufdrängen müssen, dass er zu seinem Schutz einen Helm aufsetzen müsse. Davon abgesehen sei nicht festgestellt, ob gerade in der Umgebung, in der er gewohnt habe, bei Mopedfahrern schon eine entsprechende Übung bestanden habe.

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Diese Erwägungen können auch vorliegend zur Beurteilung verkehrsgerechten Verhaltens herangezogen werden. Anders als damals gibt es, worauf die Revision zutreffend hinweist, amtliche Statistiken über die tatsächliche Akzeptanz von Fahrradhelmen. Die Bundesanstalt für Straßenwesen führt seit Mitte der 70er Jahre regelmäßig repräsentative Verkehrsbeobachtungen im gesamten Bundesgebiet durch, bei denen jährlich u.a. das Tragen von Schutzhelmen und Schutzkleidung bei Zweiradbenutzern erfasst wird. Danach trugen im Jahr 2011 über alle Altersgruppen hinweg innerorts elf Prozent der Fahrradfahrer einen Schutzhelm15. Damit sei, so die seinerzeitige Beurteilung seitens der Bundesanstalt für Straßenwesen, die Helmtragequote gegenüber dem Vorjahr (9%) leicht gestiegen, sie befinde sich aber weiterhin auf niedrigem Niveau. Bei dieser Sachlage ist die Annahme, die Erforderlichkeit des Tragens von Fahrradhelmen habe im Jahr 2011 dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entsprochen, nicht gerechtfertigt.

Allerdings hat der Arbeitskreis – IV des 47. Verkehrsgerichtstages 2009 eine Empfehlung beschlossen, in der es unter Nr. 6 heißt: „Teilnehmern am Radfahrverkehr wird das Tragen eines Helmes sowie dringend der Abschluss einer Haftpflichtversicherung empfohlen“16. Der Verordnungsgesetzgeber hat aus verkehrspolitischen Erwägungen bislang jedoch bewusst davon abgesehen, eine Helmpflicht für Radfahrer einzuführen. Die Bundesregierung hat im Jahr 2012 auf eine kleine Anfrage von Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Verkehrssicherheit im Radverkehr erklärt, dass die Freiwilligkeit des Tragens eines Fahrradhelmes der Ansatz des gerade verabschiedeten Verkehrssicherheitsprogramms 2011 sei17. Die Einführung einer Helmpflicht wird auch von der derzeitigen Bundesregierung bislang nicht verfolgt. So heißt es im Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“ zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode zum Thema Fahrradverkehr vielmehr, man wolle darauf hinwirken, dass deutlich mehr Fahrradfahrer Helm tragen. Solche Aussagen und Empfehlungen mögen langfristig dazu beitragen, die Akzeptanz des Tragens von Fahrradhelmen zu erhöhen. Einen Beleg für ein entsprechendes allgemeines Verkehrsbewusstsein im Jahr 2011 vermögen sie nicht zu liefern.

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Entgegen der Auffassung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts ist daher mit der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung und der überwiegenden Auffassung der Literatur daran festzuhalten, dass Schadensersatzansprüche eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB gemindert sind18. Inwieweit in Fällen sportlicher Betätigung des Radfahrers das Nichtragen eines Schutzhelms ein Mitverschulden begründen kann19, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 17. Juni 2014 – VI ZR 281/13

  1. BGH, Urteil vom 20.09.2011 – VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540 Rn. 14 mwN[]
  2. OLG Schleswig, Urteil vom 05.06.2013 – 7 U 11/12, r+s 2013, 353[][]
  3. vgl. BGH, Urteil vom 18.04.1997 – V ZR 28/96, BGHZ 135, 235, 240 mwN[]
  4. BGH, Urteile vom 14.03.1961 – VI ZR 189/59, BGHZ 34, 355, 363 f.; und vom 22.09.1981 – VI ZR 144/79, VersR 1981, 1178, 1179 mwN[]
  5. vgl. BGH, Urteil vom 17.11.2009 – VI ZR 58/08, VersR 2010, 270 Rn. 16 mwN; BGH, Urteile vom 14.10.1971 – VII ZR 313/69, BGHZ 57, 137, 145; vom 18.04.1997 – V ZR 28/96, aaO; und vom 29.04.1999 – I ZR 70/97, VersR 2000, 474[]
  6. vgl. BGH, Urteil vom 29.04.1953 – VI ZR 63/52, BGHZ 9, 316, 318 f.[]
  7. vgl. BGH, Urteile vom 14.03.1961 – VI ZR 189/59, aaO; und vom 22.09.1981 – VI ZR 144/79, aaO; BGH, Urteil vom 14.05.1998 – I ZR 95/96, VersR 1998, 1443, 1445[]
  8. vgl. MünchKomm-BGB/Oetker, 6. Aufl., § 254 Rn. 3 mwN[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 30.01.1979 – VI ZR 144/77, VersR 1979, 369 f. mwN[]
  10. vgl. BGH, Urteile vom 10.03.1970 – VI ZR 218/68, – VI ZR 86/69, VersR 1970, 469, 470; vom 25.01.1983 – VI ZR 92/81, VersR 1983, 440; und vom 10.03.1987 – VI ZR 123/86, VersR 1987, 781[]
  11. st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteile vom 29.04.1953 – VI ZR 63/52, aaO, S. 318; vom 27.06.1961 – VI ZR 205/60, BGHZ 35, 317, 321; vom 18.04.1961 – VI ZR 166/60, VersR 1961, 561, 562; vom 22.06.1965 – VI ZR 53/64, VersR 1965, 816, 817; und vom 09.05.1978 – VI ZR 212/76, VersR 1978, 923, 924[]
  12. BGH, Urteile vom 30.01.1979 – VI ZR 144/77, VersR 1979, 369, 370; und vom 10.04.1979 – VI ZR 83/78, VersR 1979, 532[]
  13. vgl. Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearb.2005, § 254 Rn. 51 mwN[]
  14. BGH, Urteil vom 30.01.1979 – VI ZR 144/77, aaO[]
  15. Bundesanstalt für Straßenwesen, Forschung kompakt 06/12[]
  16. 47. VGT 2009, 8[]
  17. BT-Drs. 17/8560, S. 13[]
  18. vgl. OLG Stuttgart, VRS 97, 15, 18 f.; OLG Hamm, VersR 2001, 1257, 1259; OLG Düsseldorf, NZV 2007, 38, 39 mit Anm. Kettler; OLG Düsseldorf, NZV 2007, 614, 618 f.; OLG Saarbrücken, NZV 2008, 202, 203 f. mit Anm. Jahnke, jurisPR-VerkR 1/2008 Anm. 3; OLG Celle, VD 2014, 101, 102 ff. mit Anm. Wenker, jurisPR-VerkR 5/2014 Anm. 3; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl., § 22 Rn. 62; Jahnke in FS Gerda Müller, 2009, S. 396 mwN; Kettler, Recht für Radfahrer, 3. Aufl., S. 174 ff.; Hufnagel, DAR 2007, 289, 292; Kettler, NZV 2007, 603 f.; PrelingerPR-VerK 21/2013 Anm. 2 [Anm. zum Urteil des Berufungsgerichts]; Türpe, VRR 2013, 404, 405 f. [Anm. zum Urteil des Berufungsgerichts]; aA: Geigel/Knerr, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl. Kap. 2 Rn. 58; Staudinger/Schiemann, aaO; vgl. dazu auch Stöhr, zfS 2010, 62, 66 sowie Scholten, SVR 2012, 161 ff.[]
  19. vgl. dazu OLG Düsseldorf, NZV 2007, 614, 618; OLG Düsseldorf, NZV 2007, 619, 622; OLG Saarbrücken, NJW-RR 2008, 266, 267 f.; OLG München, Urteil vom 03.03.2011 – 24 U 384/10 32; OLG Celle, aaO; MünchKomm-BGB/Oetker, aaO Rn. 42; Kettler, NZV 2007, 603 ff.[]
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