Keine Zinsschätzung zur richterlichen Arbeitserleichterung

Darf ein Richter Zinsen im Schätzungswege (§ 287 Abs. 1 ZPO) ermitteln, nur weil die genaue Berechnung aufgrund von elf zwischenzeitlichen (bekannten und unstreitigen) Änderungen des zugrunde liegenden Schuldsaldos zeitraubend wäre? Das Oberlandesgericht Celle sah hierin angesichts der eigenen Arbeitserleichterung kein Problem und schätzte die angefallenen Zinsen1. Das OLG sah sich dazu berechtigt, die Zinsen pauschal für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 5. Juli 2000 auf den Anfangssaldo berechnet, weil sich der Negativsaldo in diesem Zeitraum zwar reduziert habe, zwischenzeitlich aber auch auf über 300.000 DM angestiegen sei. Auch wenn eine taggenaue Abrechnung der Zinsen diskutabel sein könne, sei bei der Vielzahl der Positionen eine genaue Abrechnung ohnehin nicht möglich gewesen. Die Berechnung habe nach dem Rechtsgedanken des § 287 Abs. 1 ZPO anhand von Wertungen erfolgen müssen.

Keine Zinsschätzung zur richterlichen Arbeitserleichterung

Das Bundesverfassungsgericht sah dies jedoch als keine zulässige Arbeitserleichterung für das Gericht an und hob die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf:

Die fehlerhafte Anwendung eines Gesetzes in einer richterlichen Entscheidung begründet noch keinen Verfassungsverstoß; die Auslegung und Anwendung der einfachrechtlichen Normen obliegt den jeweils zuständigen Fachgerichten. Schlechthin unhaltbar und verfassungsrechtlich zu beanstanden ist ein Richterspruch aber dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht; dies ist anhand objektiver Kriterien zu ermitteln2.

§ 287 ZPO soll die normalen Darlegungs- und Beweisanforderungen im Falle der Entstehung und Höhe eines Schadens (§ 287 Abs. 1 ZPO) und im Falle sonstiger vermögensrechtlicher Streitigkeiten nur bezüglich der Höhe (§ 287 Abs. 2 ZPO) abschwächen und so verhindern, dass materiell berechtigte Ansprüche an prozessualen Anforderungen scheitern3. Die Norm soll in erster Linie den Geschädigten entlasten, das Gericht hingegen nur bedingt4. Für eine Schätzung ist deshalb dann kein Raum, wenn das Fachgericht den Schaden ohne Schwierigkeiten exakt berechnen kann5.

Die auf den Rechtsgedanken des § 287 Abs. 1 ZPO gestützte Vorgehensweise des Oberlandesgerichts bei der Zinsberechnung ist mit Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot nicht vereinbar, weil im vorliegenden Fall keine Veranlassung für eine Schätzung der angefallenen Zinsen bestand. Eine exakte Berechnung der Zinsforderung der Bank war anhand der Daten aus dem bereits in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachten ohne besondere Sachkunde oder gar sachverständige Hilfe möglich, zumal das Gericht von einem festen Zinssatz nach § 352 HGB in Höhe von 5 % ausging, also nicht mit dem variablen Basiszins rechnen musste. In den fraglichen Zeitraum fallen nur elf Saldenänderungen, deren Zeitpunkte sich hinsichtlich der Rechtsverfolgungskosten den Buchungsvermerken auf den im fachgerichtlichen Verfahren vorgelegten Rechnungen und im Übrigen der Aufstellung in dem Sachverständigengutachten entnehmen lassen. In einem solchen Fall ist für eine Schätzung ersichtlich kein Raum.

Die durch das Oberlandesgericht durchgeführte Schätzung wäre selbst dann sachlich nicht zu rechtfertigen, wenn man § 287 Abs. 2 ZPO wegen des mit einer genauen Berechnung verbundenen Aufwandes für anwendbar hielte. Denn das Oberlandesgericht wäre zu einer wesentlich exakteren Schätzung in der Lage gewesen, wenn es nicht wesentliche Bemessungsfaktoren außer Acht gelassen hätte6. Das Oberlandesgericht hat bei der Schätzung ohne Begründung den vollständigen Zeitraum bis zur Vereinnahmung der Versicherungssumme durch die Bank zugrunde gelegt, obwohl bereits mehr als zwei Jahre zuvor der Negativsaldo ausgeglichen worden war und nach diesem Zeitpunkt keine Zinsen mehr angefallen waren.

Das angefochtene Urteil beruht auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil sich bei einer genauen Berechnung zu Lasten der Beschwerdeführerin eine Differenz von 5.484,37 € zu der vom Oberlandesgericht geschätzten Summe ergibt. Dieser Verstoß wird durch den Beschluss des Oberlandesgerichts über die Anhörungsrüge nicht geheilt. Das Gericht führt in diesem Beschluss insoweit nur aus, die taggenaue Abrechnung sei zwar diskutabel, aber wegen der Vielzahl der Einzelpositionen nicht möglich gewesen.

Da das Oberlandesgericht auch auf die Gehörsrüge der Beschwerdeführerin hin seinen Fehler nicht korrigiert hat, ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde wegen des besonderen Gewichts des Verfassungsverstoßes zur Durchsetzung des Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

Danach kann offen bleiben, ob das Oberlandesgericht in den angefochtenen Entscheidungen auch gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen hat, indem es unstreitigen Sachvortrag der Parteien überging.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Dezember 2009 -1 BvR 3041/06

  1. OLG Celle, Urteil vom 27.09.2006 – 3 U 111/06, Beschluss vom 03.11.2006 – 3 U 111/06[]
  2. vgl. BVerfGE 4, 1, 7; 80, 48, 51; stRspr[]
  3. vgl. Ahrens, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Aufl. 2006, Bd. 2 Teilbd. 2, § 287 Rn. 2; Prütting, in: MüKo-ZPO, 3. Aufl. 2008, Bd. 1, § 287 Rn. 1; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2008, Bd. 4, § 287 Rn. 1[]
  4. vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 19.03.2002 – XI ZR 183/01, NJW-RR 2002, S. 1072, 1073; Foerste, in: Musielak, ZPO, 7. Aufl. 2009, § 287 Rn. 6[]
  5. vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 67. Aufl. 2009, § 287 Rn. 2; ähnlich Foerste, in: Musielak, ZPO, 7. Aufl. 2009, § 287 Rn. 9: „Das Gericht darf sich nicht mit grober Schätzung begnügen, wo eine genauere Schätzung möglich ist“.[]
  6. vgl. Foerste, in: Musielak, ZPO, 7. Aufl. 2009, § 287 Rn. 9[]