Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist.

Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.
Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird1. Es ist Aufgabe der staatlichen Organe, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen2. Dies kann es erfordern, dass Beweisangeboten des Schuldners, ihm drohten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, besonders sorgfältig nachgegangen wird3.
Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen – beim Fehlen eigener Sachkunde – zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann4.
Der Tatrichter hat festzustellen, ob aufgrund einer Maßnahme der Zwangsvollstreckung ernsthaft mit einer Gefahr für Leib oder Leben des Schuldners zu rechnen ist. Die damit einhergehende Prognoseentscheidung hat er mit Tatsachen zu untermauern5.
Eine Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit kann im Vollstreckungsschutzverfahren nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids gegeben sein. Die Vollstreckung kann auch aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründen oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne von § 765a ZPO darstellen6.
Einzubeziehen sind zudem nicht nur die Gefahren für Leben und Gesundheit des Schuldners während des Räumungsvorgangs, sondern auch die Lebens- und Gesundheitsgefahren im Anschluss an die Zwangsräumung7.
Ist mit der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr verbunden, bedeutet dies noch nicht, dass ohne Weiteres Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO gewährt werden muss. Vielmehr ist eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht notwendig, wenn der Gefahr durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann. Dies setzt aber voraus, dass die Fachgerichte die Geeignetheit der Maßnahmen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt haben8.
Nach diesen Maßstäben war hier zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht stehende Beschluss des Landgerichts München II9 über die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Starnberg10 mit dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Grundrecht des Beschwerdeführers auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht zu vereinbaren. Das Landgericht ist seiner Pflicht, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen und im Hinblick darauf den Sachverhalt aufzuklären und die Interessen der Beteiligten sorgfältig zu ermitteln, nicht in dem gebotenen Umfang nachgekommen.:
Zwar hat das Beschwerdegericht eine durch die Räumung drohende Suizidgefahr mangels hinreichenden Vortrags des Beschwerdeführers verfassungsrechtlich unbedenklich ohne Beweiserhebung verneint. Es ist aber den in dem Sachvortrag des Beschwerdeführers enthaltenen und durch das im Betreuungsverfahren eingeholte Sachverständigengutachten untermauerten Anhaltspunkten dafür, dass dem Beschwerdeführer durch die Zwangsvollstreckung sonstige erhebliche gesundheitliche Gefahren drohen könnten, nicht hinreichend nachgegangen.
Der Vortrag des Beschwerdeführers zum Vorliegen einer Suizidgefahr ist unzureichend, weil die von ihm vorgelegten ärztlichen Unterlagen eine solche Gefahr nicht konkret beschreiben und hierfür auch keine entsprechenden Indizien beinhalten. Die zwischen April 2020 und Mai 2021 ausgestellten ärztlichen Atteste bescheinigen einzig eine fehlende Reise- und Gerichtsfähigkeit bis mindestens Ende des Jahres 2021. Aus dem psychiatrischen Gutachten vom 22.07.2021 ergibt sich nichts anderes. Vielmehr ist – worauf auch die Vollstreckungsgläubigerin hingewiesen hat – dort ausgeführt, es bestehe kein Anhalt für eine Suizidalität. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer in seinem Schriftsatz vom 13.12.2021 lediglich vorgetragen, es sei ihm innerhalb der vom Amtsgericht (nach Verlängerung) bis zu diesem Tag gesetzten Frist nicht möglich gewesen, ein aktuelles fachärztliches Gutachten vorzulegen. Weshalb ihm dies auch im Nachgang dazu vor der landgerichtlichen Entscheidung vom 20.12.2021 nicht möglich war, obwohl er am 15.12.2021 einen zahnärztlichen Termin wahrnehmen konnte, hat der Beschwerdeführer nicht dargetan.
Ungeachtet dessen lagen für die Fachgerichte aufgrund des Vortrags des Beschwerdeführers und des von ihm vorgelegten psychiatrischen Gutachtens vom 22.07.2021 konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung sonstige erhebliche Gefahren für das Leben und die Gesundheit des Beschwerdeführers drohen könnten.
Der Beschwerdeführer hat bereits in seinem Vollstreckungsschutzantrag vom 29.11.2021 vorgetragen, aufgrund seines sich wesentlich verschlechternden gesundheitlichen Zustands, seines Alters, der Mietdauer, der psychischen Erkrankung und des Umstandes, dass er alleinstehend sei, bestehe eine deutlich verringerte Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umgebung. Dies begründe die Gefahr, dass er in einer neuen Umgebung seine Autonomie verliere und bald zum Pflegefall werden könne. Die Beschwernisse eines Umzugs oder gar einer Zwangsräumung brächten die konkrete Gefahr mit sich, dass der Beschwerdeführer jegliche Orientierung verliere. Zu berücksichtigen sei auch, dass er aufgrund seiner Erkrankungen und seines chronisch progredienten Leidens selbst nicht zur Bewältigung seiner Angelegenheiten in der Lage sei und bereits Schwierigkeiten habe, einfache administrative Angelegenheiten zu klären und zu erledigen, weshalb sein Verfahrensbevollmächtigter im Vollstreckungsverfahren ihn hierbei unterstütze und regelmäßig Gespräche mit ihm führe.
Diesen Vortrag hat er durch Vorlage des Sachverständigengutachtens vom 22.07.2021 untermauert. In diesem Gutachten wird ausgeführt, der Beschwerdeführer leide chronisch progredient an einem beginnenden dementiellen Syndrom mit deutlich wahnhafter Komponente und an einer Persönlichkeitsstörung. Aufgrund dieser psychischen Erkrankung könne er seinen Willen nicht mehr frei bestimmen beziehungsweise nicht entsprechend seiner Einsicht handeln. Das Krankheitsbild zeige einen Ausprägungsgrad, bei dem nach gutachterlicher Auffassung die Voraussetzungen zur Errichtung einer umfassenden Betreuung vorlägen. Es sei eine umfassende Unterstützung im Rahmen einer Betreuung zur Strukturierung der anstehenden Probleme erforderlich. Die psychische Erkrankung werde, dem bisherigen Verlauf folgend, auf unbestimmte Zeit fortbestehen. Erfahrungsgemäß zeige ein derartiges Krankheitsbild wenig Tendenz zur Stabilisierung. Aufgrund der Erkrankung könne der Beschwerdeführer nicht mehr Sorge für seine persönlichen Angelegenheiten tragen.
Vor diesem Hintergrund ist schon die Annahme des Landgerichts, es gebe keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage wäre, die Wohnung zu wechseln – nicht er selbst müsse den Umzug durchführen, dafür stünden Umzugsfirmen zur Verfügung, nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, dass das Landgericht die Feststellungen des Sachverständigen zur psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers zwar referiert, sich mit deren Auswirkungen im Falle einer Zwangsräumung aber – jenseits der Frage einer nicht bestehenden Suizidgefahr – nicht weiter auseinandersetzt. Damit ist es der ihm obliegenden Pflicht, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen und im Hinblick darauf den Sachverhalt aufzuklären und die Interessen der Beteiligten sorgfältig zu ermitteln, nicht gerecht worden. Vielmehr hätten es die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstände geboten, seinen Beweisangeboten nachzugehen und alle Erkenntnismittel auszuschöpfen, um überprüfen zu können, ob dem Beschwerdeführer tatsächlich aufgrund der von dem Sachverständigen diagnostizierten psychischen Erkrankung die behaupteten schwerwiegenden Gefahren für seine Gesundheit bis hin zur Pflegebedürftigkeit drohen und ob und wie diesen gegebenenfalls vor oder während einer Zwangsräumung begegnet werden kann.
Der Beschluss des Landgerichts vom 20.12.2021 war deshalb wegen des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.
Ergeben sich bei der weiteren Prüfung durch das Landgericht, insbesondere bei Einholung eines Sachverständigengutachtens, nicht unerhebliche konkrete Gefahren für das Leben oder die Gesundheit des Beschwerdeführers durch eine Zwangsräumung, wird es zur Wahrung der Grundrechte der Vollstreckungsgläubigerin und zu der erforderlichen Abwägung der beiderseitigen Belange auch Feststellungen zu deren konkreter Situation und Interessenlage bedürfen. Das drängt sich vor allem deshalb auf, weil der Beschwerdeführer bereits im Vollstreckungsschutzverfahren vorgetragen hat, er werde alle Rückstände ausgleichen und die laufende monatliche Nutzungsentschädigung pünktlich bezahlen. Infolgedessen ist nicht auszuschließen, dass die einer Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Beschwerdeführers im konkreten Fall erheblich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll11. Bei den vom Vollstreckungsgericht nachzuholenden Feststellungen wird das Gericht allerdings nicht nur die finanziellen Interessen der Vermieterin in den Blick zu nehmen und zu gewichten haben, sondern auch die von ihr vorgetragenen gesundheitlichen und sonstigen Belange, die bei der Gewährung von Vollstreckungsschutzmaßnahmen beeinträchtigt würden.
Darüber hinaus wird das Landgericht unter Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Mittel den Möglichkeiten einer Gefahrabwendung nachzugehen haben12. Dabei kommt es nicht nur – wie vom Beschwerdeführer beantragt – in Betracht, die Zwangsvollstreckung dauerhaft auszusetzen. Das Landgericht wird auch zu prüfen haben, ob und gegebenenfalls in welchem Zeitraum eine Unterstützung für den Beschwerdeführer organisiert werden kann, die einer Gefahr für Leib und Leben im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung hinreichend begegnet, so dass die Möglichkeit einer nur einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung greift.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. Juni 2022 – 2 BvR 447/22
- vgl. BVerfGE 52, 214 <220 f.> BVerfGK 6, 5 <10> BVerfG, Beschluss vom 26.01.2021 – 2 BvR 1786/20, Rn. 27 m.w.N.[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 06.07.2016 – 2 BvR 548/16, Rn. 12[↩]
- vgl. BVerfGE 52, 214 <220 f.> BVerfG, Beschluss vom 15.05.2019 – 2 BvR 2425/18, Rn.20 m.w.N.[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 26.05.2020 – VIII ZR 64/19 18; Beschluss vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133, Rn. 48[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.02.2014 – 2 BvR 2457/13, Rn. 13 m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.09.1997 – 1 BvR 1147/97 7; Beschluss vom 19.02.2014 – 2 BvR 2455/12 14; Beschluss vom 29.07.2014 – 2 BvR 1400/14 12; Beschluss vom 17.05.2022 – 2 BvR 661/22, Rn. 21; BGH, Beschlüsse vom 13.10.2016 – V ZB 138/15 8; vom 13.08.2009 – I ZB 11/09 12[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.09.1997 – 1 BvR 1147/97 7; Beschluss vom 19.02.2014 – 2 BvR 2455/12 14; Beschluss vom 17.05.2022 – 2 BvR 661/22, Rn. 21; BGH, Beschluss vom 13.08.2009 – I ZB 11/09 12[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 26.01.2021 – 2 BvR 1786/20 28 m.w.N.[↩]
- LG München II, Beschluss vom 20.12.2021 – 12 T 4785/21[↩]
- AG Starnberg, Beschluss vom 14.12.2021 – 730 M 2075/21[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.09.1997 – 1 BvR 1147/97 6; Beschluss vom 19.02.2014 – 2 BvR 2455/12 15; Beschluss vom 25.02.2014 – 2 BvR 2457/13, Rn. 15[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.01.2021 – 2 BvR 1786/20 37[↩]
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