Mit der Frage, ob für einen Fahrer eines Leichtkraftrades die Obliegenheit besteht, Protektorenschutzkleidung zu tragen, beschäftigt sich ein aktuelles Urteil des Landgerichts Heidelberg:

Nach § 9 StVG findet § 254 BGB auf den Anspruch nach § 7 Abs. 1 StVG entsprechende Anwendung. § 254 BGB regelt das Mitverschulden. Das Mitverschulden betrifft sogenannte Obliegenheitsverletzungen. Dabei handelt es sich um ein Verschulden gegen sich selbst. Der Geschädigte muss alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen treffen, um sich selbst vor Schäden zu schützen. Natürlich steht es ihm frei, auf derartige Schutzvorkehrungen zu verzichten. Er muss sich seinen Anspruch dann aber gegebenenfalls kürzen lassen [1].
Das Landgericht Heidelberg neigt zu der Auffassung, dass einen Leichtkraftradfahrer generell keine Obliegenheit trifft, Protektorenschutzkleidung zu tragen.
Es gibt keine gesetzliche Pflicht, Motorradschutzkleidung zu tragen. § 21a Abs. 2 StVO normiert lediglich eine Pflicht, einen Schutzhelm zu tragen.
Das schließt natürlich nicht aus, eine Obliegenheit anzuerkennen, Schutzkleidung zu tragen. Denn Mitverschulden erfordert im Gegensatz zu einem Verschulden nicht, dass der Geschädigte gegen eine Rechtspflicht verstößt. Der Kraftfahrer, der sich in den Verkehr begibt, muss vielmehr alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Gefahr für sich möglichst gering zu halten [2].
In diesem Sinne hat der Bundesgerichtshof im Jahr 1979 ein Mitverschulden angenommen, wenn ein Autofahrer sich nicht anschnallt [3]. Der damals zu entscheidende Fall weist gewisse Parallelen zum hiesigen Fall auf. Für den zur Entscheidung stehenden Zeitpunkt existierte nämlich noch keine gesetzliche Anschnallpflicht. Allerdings unterschied sich der damalige Fall in einem wesentlichen Punkt vom hier zu entscheidenden. Als der BGH den Fall entschied, war nämlich kurz zuvor eine Gurtpflicht in der StVO verankert worden. Wegen einer Übergangsfrist war sie lediglich auf den zur Entscheidung stehenden Fall noch nicht anwendbar. Gegenwärtig besteht hingegen für keinen Zweiradfahrer eine Pflicht, Schutzkleidung zu tragen.
In einem anderen, noch älteren Fall hatte der Bundesgerichtshof zu entscheiden, ob es ein Mitverschulden darstellt, wenn ein Motorradfahrer keinen Helm trägt. Damals gab es noch keine Helmpflicht. Der Bundesgerichtshof nahm gleichwohl ein Mitverschulden an. Dabei stellte er darauf ab, dass die Post und die Bundeswehr ihre Bediensteten verpflichtet hatten, einen Helm zu tragen. Zudem habe der Bundesminister für Verkehr Kraftradfahrern empfohlen, Helme zu benutzen. Hierbei habe der Minister für das Jahr 1958 festgestellt, dass bereits zahlreiche Fahrer einen Schutzhelm benutzen. Der BGH nahm ein allgemeines Bewusstsein an, dass es notwendig sei, einen Helm zu tragen, um schwere Verletzungen zu vermeiden [4]. Eben in diesem Punkten unterscheidet sich der damalige Fall vom hier zu entscheidenden. Ein solches Bewusstsein besteht in der heutigen Zeit für Schutzkleidung bei Motorrollerfahrern nicht.
Sicherlich ist es im Hinblick auf den Verletzungsschutz vorteilhaft, auch auf einem Motorroller Schutzkleidung zu tragen. Das gilt auch für Innerortsfahrten.
Motorradschutzkleidung schützt in erster Linie vor Weichteilverletzungen. Grundsätzlich schützen die Protektoren nur bei geringeren Aufprallgeschwindigkeiten. Während eines Schlittervorgangs schützten sie auch vor scharfkantigen Gegenständen. Inwieweit die Protektoren vor knöchernen Verletzungen schützen, hänge von der Richtung des Anpralls ab. Vor seitlichen Stößen gegen die mit Protektoren geschützte Stelle schützten sie nicht, vor frontalen hingegen schon.
Andererseits greift es zu kurz, das Mitverschulden allein daraus herzuleiten, dass die unterlassene Maßnahme geeignet gewesen wäre, den eingetretenen Schaden zu verringern oder gar zu vermeiden. Denn diese Betrachtungsweise liefe darauf hinaus, maximale Sicherheitsforderungen einzufordern. Maßstab ist aber die vernünftige Verkehrsanschauung [1]. Mithin begründet es noch keine Obliegenheit, Schutzkleidung zu tragen, nur weil sie das Verletzungsrisiko verringert [5].
Eine Verkehrsauffassung dahin, dass es geboten ist, bei Innerortsfahrten auf einem Leichtkraftrad Schutzkleidung zu tragen, kann das Landgericht Heidelberg nicht feststellen.
Ein Indiz für eine Verkehrsauffassung sind jüngere gesetzliche Vorschriften. Sicherlich sieht die Anlage 2.1 zu § 4 der Fahrschüler-Ausbildungsordnung im Rahmenplan der Ausbildung vor: „Anforderungen an Schutzhelme, geeignete Schutzkleidung, Schuhwerk, Handschuhe und sonstiges Sicherheitszubehör; auffällige, auf weite Entfernung erkennbare Bekleidung, Verletzungsschutz, Wetterschutz“. § 17.03.3 der Ausbildungsordnung sieht vor: „Fahren mit Schutzkleidung“.
Die Ausbildungsordnung differenziert hinsichtlich der Schutzkleidung nicht zwischen Innerorts- und Überlandfahrten. Zu bedenken ist aber, dass die Ausbildung das Bewusstsein für die Gefahren im Straßenverkehr besonders schärfen soll (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 Fahrschüler-Ausbildungsordnung). Dieser Lernzweck endet aber mit bestandener Fahrerlaubnisprüfung. Und selbst bei dieser Prüfung ist keine Ganzkörper-Protektorenschutzkleidung vorgeschrieben.
Anlage 7 zur Fahrerlaubnisverordnung (FEV) sieht nämlich nur vor, dass bei Prüfungen der Klassen A, A1, A2 und AM der Bewerber geeignete Schutzkleidung (Schutzhelm, Handschuhe, anliegende Jacke, mindestens knöchelhohes festes Schuhwerk, z. B. Stiefel) tragen muss.
Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich der Gesetzgeber dazu entschlossen hat, den mit dem Straßenverkehr verbundenen Gefahren in einem detaillierten Regelungswerk zu begegnen. Mit der Helm- und Anschnallpflicht hat er sogar eine Pflicht vorgesehen, sich vor Eigenschäden zu schützen. Aufgrund dieser besonderen gesetzgeberischen Fürsorge kann sich der Verkehrsteilnehmer darauf verlassen, dass er sich nicht nur „rechtsneutral“, sondern in positivem Sinne verkehrsgerecht verhält, wenn er die Anforderungen der StVO einhält [6]. Der Gesetzgeber hat die schadensvermeidende Wirkung von Schutzhelmen gesehen. Er hat deren verbindliche Benutzung für Krafträder vorgeschrieben. Andererseits stellt er keine weitergehenden Schutzanforderungen an die Kleidung. Daraus darf ein Kraftfahrer zumindest für Innerortsfahrten schließen, dass er sich verkehrsgerecht verhält, selbst wenn er keine Motorradschutzkleidung trägt.
Man kann auch nicht darauf abstellen, dass Schutzkleidung primär bei geringeren Geschwindigkeiten schützt. Konsequenterweise müsste man dann nämlich auch für Fahrer von Kleinkrafträdern die Obliegenheit annehmen, vollständige Protektorenschutzkleidung zu tragen. Kleinkrafträder haben eine bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h. Man müsste sogar noch weitergehen: Geschwindigkeiten von 45 km/h werden durchaus auch von sportlich ambitionierten Fahrradfahrern erreicht. Für Rennradfahrer ist jedoch – soweit ersichtlich – noch niemand auf die Idee gekommen, eine Obliegenheit anzunehmen, Protektorenschutzkleidung zu tragen. Selbst eine allgemeine Obliegenheit, einen Fahrradhelm zu tragen, lehnen die Obergerichte überwiegend ab [7]; und dies, obgleich Helme unter Fahrradfahrern mittlerweile weit verbreitet sind.
Eine Obliegenheit, bei Innerortsfahrten auf einem Leichtkraftrad vollständige Schutzkleidung zu tragen, könnte man nach den vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätzen nur noch annehmen, wenn sich ein derartiges Verkehrsbewusstsein durchgesetzt hätte. Es ist durchaus möglich, dass sich künftig ein derartiges Bewusstsein bilden wird. Gegenwärtig hat sich ein derartiges Bewusstsein aber noch nicht durchgesetzt. Insbesondere besteht unstreitig keine dahingehende Verkehrssitte.
Insofern unterscheiden sich Leichtkrafträder von hochvolumigeren Motorrädern. Für hochvolumige Motorräder mag es eine Obliegenheit geben, Schutzkleidung zu tragen [8].
Das Landgericht Heidelberg hält es aber für unzumutbar, einem Leichtkraftradfahrer gegenwärtig die Obliegenheit aufzuerlegen, bei Innerortsfahrten einen Schutzkombi zu tragen. Er würde Gefahr laufen, spöttische Bemerkungen wegen seines ungewöhnlichen Kleidungsstils zu erhalten. Insofern unterscheiden sich Leichtkraftradfahrer von Motorradfahrern. Unter Motorradfahrern ist es durchaus üblich, vollständige Schutzkleidung zu tragen. Es besteht nicht die Gefahr, sich höhnische Bemerkungen anzuhören. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass hochvolumige Motorräder höhere Geschwindigkeiten erlauben als Leichtkrafträder.
Ob dieses Argument in den Hintergrund tritt, wenn ein Leichtkraftradfahrer bei Außerortsfahrten keine Schutzkleidung trägt, kann dahinstehen. Denn der Unfall ereignete sich innerorts bei maximal 50 km/h. Aus den genannten Gründen trifft den Fahrer eines Leichtkraftrades, jedenfalls wenn er innerorts fährt, keine Obliegenheit, Protektorenschutzkleidung zu tragen.
Landgericht Heidelberg, Urteil vom 13. März 2014 – 2 O 203/13
- Lorenz, in: Beck-OK-BGB, Stand: 01.03.2011, § 254 Rn. 9[↩][↩]
- OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.02.2007 – 1 U 182/06[↩]
- BGHZ 74, 25, 28[↩]
- BGH, Urteil vom 09.02.1965 – VI ZR 253/63 = NJW 1965, S. 1075[↩]
- ebenso für Fahrradhelme: OLG Saarbrücken, Urteil vom 09.10.2007 – 4 U 80/07[↩]
- OLG Saarbrücken a.a.O.[↩]
- jüngst OLG Celle, Urteil vom 12.02.2014 – 14 U 113/13 m.w.N.; OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.02.2007 – 1 U 182/06 58[↩]
- OLG Brandenburg, Urteil vom 23.07.2009 – 12 U 29/09 18, allerdings auch für Kleinkrafträder; LG Köln, Urteil vom 15.05.2013 – 18 O 148/08 18 mit zustimmender Anmerkung von Wenker, jurisPR-VerkR 18/2013 Anm. 1; a.A. OLG Nürnberg, Beschluss vom 09.04.2013 – 3 U 1897/1220[↩]