Pfändung eines Pkw bei Gehbehinderten

Ist ein Pkw für einen gehbehinderten Schuldner erforderlich, um die Gehbehinderung teilweise zu kompensieren und die Eingliederung des Schuldners in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern , kann das Fahrzeug nicht gepfändet werden1.

Pfändung eines Pkw bei Gehbehinderten

Maßgebend für diese Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist die in Art. 1 GG und Art 2 GG garantierte Menschenwürde gewesen, die sich auch in den Pfändungsverboten des § 811 Abs. 1 ZPO wiederfindet. Die Pfändungsverbote dienen dem Schutz des Schuldners aus sozialen Gründen im öffentlichen Interesse und beschränken die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen mit Hilfe staatlicher Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. So sind sie Ausfluss der in Art. 1 GG und Art. 2 GG garantierten Menschenwürde bzw. allgemeinen Handlungsfreiheit und enthalten eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Dem Schuldner soll dadurch die wirtschaftliche Existenz erhalten werden, um – unabhängig von Sozialhilfe – ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen zu können2.

In diesem Rahmen ist bei der Auslegung des Pfändungsverbots des § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO das gewandelte Verständnis über die soziale Stellung behinderter Menschen zu berücksichtigen. Aus den Gesetzen zu ihrer Gleichstellung, namentlich aus dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch, ergibt sich, dass behinderte Menschen in das gesellschaftliche Leben integriert und die mit ihrer Behinderung verbundenen Nachteile verringert werden sollen, soweit dies durch medizinische und technische Maßnahmen möglich ist. Der Zweck des § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO liegt vor diesem Hintergrund darin, die aus einem Gebrechen oder einer Behinderung resultierenden Nachteile auszugleichen oder zu verringern und dem Schuldner so ein angemessenes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Pfändung eines Fahrzeugs hat demnach zu unterbleiben, wenn sie dazu führt, dass der Schuldner in seiner Lebensführung stark eingeschränkt und im Vergleich zu einem nicht behinderten Menschen entscheidend benachteiligt wird. Es kommt dabei nicht darauf an, dass das Fahrzeug für den Schuldner unentbehrlich ist. Vielmehr ist ein Pfändungsverbot anzunehmen, wenn die Benutzung des Pkw dazu erforderlich ist, um die Gehbehinderung teilweise zu kompensieren und die Eingliederung in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern3.

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Im hier entschiedenen Fall ist der Schuldner gehbehindert. Sein Grad der Behinderung ist mit 70 festgestellt und ihm ist das Merkzeichen „G“ (= erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) zuerkannt. Der Schuldner ist nicht in der Lage, ortsübliche Wege zu Fuß zu bewältigen. Das geht nicht nur aus dem von ihm vorgelegten Attest hervor, sondern folgt bereits aus der Zuerkennung des Merkzeichens „G“. Die Anforderungen dafür ergeben sich aus der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 20084, deren Maßstäbe gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX für die Feststellung des Grades der Behinderung entsprechend gelten. Danach wird für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ vorausgesetzt,dass der Betroffene infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Strecke gilt dabei eine Strecke von zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde bewältigt wird. Nach dem Vortrag des Schuldners waren für seine – durch Bescheinigungen der Ärzte belegte – Arztbesuche Entfernungen von 2,3 km und mehr zurückzulegen. Das geht über das hinaus, was von ihm ohne eine Mobilitätshilfe in zumutbarer Weise leistbar ist.

Die Erforderlichkeit des Nachteilsausgleichs durch Belassung des Pkw kann nicht mit der Begründung verneint werden, der Schuldner könne statt seines Pkw öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Das Beschwerdegericht begründet seine gegenteilige Auffassung mit der Erwägung, beim Schuldner liege „nur“ eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr (Merkzeichen „G“) vor, so dass ihm die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel möglich und zumutbar sei5. Diese Überlegung greift nach Meinung des Bundesgerichtshofes zu kurz. Sie berücksichtigt nicht hinreichend, dass der gehbehinderte Schuldner sich nur dann auf öffentliche Verkehrsmittel verweisen lassen muss, wenn ihm deren Benutzung zugemutet werden kann und seine behinderungsbedingten Nachteile hierdurch ausreichend kompensiert werden6.

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Dementsprechend scheitert die Bewilligung von Pfändungsschutz entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts nicht bereits daran, dass der Schuldner nicht außergewöhnlich gehbehindert ist (Merkzeichen „aG“). Maßgeblich sind die konkrete Behinderung und deren Auswirkungen, auf deren Grundlage der Ausgleichsbedarf durch Belassung eines privat genutzten Pkw festzustellen ist. Dieser Ausgleichsbedarf kann auch für Personen mit solchen Behinderungen bestehen, für die lediglich das Merkzeichen „G“ zuerkannt ist. Die vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen rechtfertigen es nicht, den Schuldner auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu verweisen. Er hat durch Vorlage eines ärztlichen Attests dargetan, dass ihm wegen seiner Gehbehinderung die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zugemutet werden kann. Diese Einschätzung erscheint mit Rücksicht auf die im Bescheid des Versorgungsamtes wiedergegebenen körperlichen Ursachen für seine Gehbehinderung und den Umstand, dass der Schuldner in einer ländlichen Gegend mit naturgemäß schwach ausgeprägter Infra-struktur wohnt, nicht ausgeschlossen.

Nach Meinung des Bundesgerichtshofes ist zu beachten, dass im Rahmen des § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO eine ausreichende Kompensation behinderungsbedingter Nachteile durch den Verweis auf öffentliche Verkehrsmittel dann nicht mehr gewährleistet ist, wenn dies für den Schuldner bei seinen häufigen, teils täglichen Fahrten zu Ärzten und Therapeuten mit ungewöhnlich langen Fahr- und Wartezeiten verbunden wäre7.

Weiterhin kommt es für die Frage der Unpfändbarkeit nach § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO nicht darauf an, ob der Vollstreckungstitel auf Forderungen aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung beruht8. Denn das Pfändungsverbot sichert das Existenzminimum des Schuldners9, in das nicht im Wege der Zwangsvollstreckung eingegriffen werden kann10.

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Demgegenüber kann im Rahmen der umfassenden Abwägung nach § 765a ZPO, wenn es auf diese Vorschrift wegen einer Verneinung des Pfändungsschutzes nach § 811 ZPO ankäme, neben allen anderen zu berücksichtigenden Umständen der deliktische Rechtsgrund des Titels Bedeutung erlangen11.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. Juni 2011 – VII ZB 12/09

  1. im Anschluss an BGH, Beschluss vom 19.03.2004 – IXa ZB 321/03, NJW-RR 2004, 789[]
  2. BGH, Beschluss vom 28.01.2010 – VII ZB 16/09, NJW-RR 2010, 642 Rn. 11; BGH, Beschluss vom 19.03.2004 – IXa ZB 321/03, NJW-RR 2004, 789, 790 m.w.N.[]
  3. vgl. BGH, Beschluss vom 19.03.2004 – IXa ZB 321/03, NJW-RR 2004, 789, 790 m.w.N.[]
  4. Anlageband zum Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 57 vom 15. Dezember 2008, S. 114; so schon zuvor BSG, BSGE 62, 273, 274 ff.[]
  5. LG Kempten, Entscheidung vom 19.01.2009 – 43 T 2427/08[]
  6. vgl. BGH, Beschluss vom 19.03.2004 – IXa ZB 321/03, NJW-RR 2004, 789, 790[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2010 – VII ZB 16/09, NJW-RR 2010, 642 Rn. 16 zu § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO[]
  8. vgl. Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 811 Rn. 5; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 811 Rn. 2 und 7[]
  9. Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 811 Rn. 2; Gaul/Schilken/Becker-Eberhard, Zwangsvollstreckungsrecht, 12. Aufl., § 52 Rn. 24[]
  10. vgl. BGH, Beschluss vom 25.11.2010 – VII ZB 111/09, Rpfleger 2011, 164 Rn. 13 ff.[]
  11. vgl. Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 765a Rn. 10; Stein/Jonas/ Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 765a Rn. 7 m.w.N.[]
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