Die für die Anwendung des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO erforderliche Voraussetzung, dass die Rechtsansicht des Gerichts des ersten Rechtszugs den Sachvortag der Partei mit beeinflusst hat, ist (schon) dann erfüllt, wenn dieses die Partei durch seine Prozessleitung oder seine erkennbare rechtliche Beurteilung des Streitverhältnisses davon abgehalten hat, zu bestimmten Gesichtspunkten (weiter) vorzutragen [1]. Hierfür genügt es, dass das erstinstanzliche Gericht durch das Unterlassen von Hinweisen den Eindruck erweckt, weiterer Vortrag sei aus seiner Sicht nicht erforderlich [2].

Nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Berufungsverfahren zuzulassen, wenn sie einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt betreffen, der von dem Gericht des ersten Rechtszugs erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist. So verhält es sich hier.
Ein in zweiter Instanz konkretisiertes Vorbringen ist neu, wenn es einen sehr allgemein gehaltenen erstinstanzlichen Vortrag konkretisiert oder erstmals substantiiert, nicht jedoch dann, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus erster Instanz durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert wird [3].
Eine Zulassung neuen Vorbringens ist nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO nicht schon dann ausgeschlossen, wenn eine Partei unter Verstoß gegen ihre Prozessförderungspflicht (§§ 282, 277 Abs. 1 ZPO) Vorbringen aus prozesstaktischen Erwägungen zurückhält. Ein solches Verhalten begründet zwar Nachlässigkeit im Sinne von § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO und schließt damit die Berücksichtigung neuen Vortrags nach dieser Fallgruppe aus [4].
Im Rahmen des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt es jedoch nicht darauf an, ob ein neues Angriffs- oder Verteidigungsmittel schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können [5]. Denn diese Bestimmung soll verhindern, dass Prozessparteien gezwungen werden, in der ersten Instanz vorsorglich auch solche Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzutragen, die vom Standpunkt des erstinstanzlichen Gerichts unerheblich sind [6].
In einem solchen Fall scheitert eine Berücksichtigung des neuen Verteidigungsmittels nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO auch nicht aus anderen Gründen. Zwar kommt der Zulassungsgrund des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO nur dann zum Tragen, wenn der von dem neuen Vorbringen betroffene Gesichtspunkt in erster Instanz entweder von allen Verfahrensbeteiligten übersehen worden ist oder wenn das erstinstanzliche Gericht ihn für unerheblich gehalten hat. Damit findet die genannte Vorschrift nur unter der ungeschriebenen Voraussetzung Anwendung, dass die Rechtsansicht des Gerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst hat und daher, ohne dass deswegen ein Verfahrensfehler gegeben wäre, (mit-)ursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert [7].
Diese Voraussetzung ist jedoch (schon) dann erfüllt, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs die Partei durch seine Prozessleitung oder seine erkennbare rechtliche Beurteilung des Streitverhältnisses davon abgehalten hat, zu bestimmten Gesichtspunkten (weiter) vorzutragen [8]. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. So kann das Gericht eine Partei etwa durch die Erteilung von Hinweisen veranlassen, in erster Instanz von weiterem Vorbringen abzusehen [9]. Das erstinstanzliche Gericht kann aber auch durch das Unterlassen von Hinweisen den Eindruck erwecken, der bisherige Parteivortrag sei ausreichend [10].
Bundesgerichtshof, Urteil vom 21. Dezember 2011 – VIII ZR 166/11
- im Anschluss an BGH, Urteile vom 19.2.2004 – III ZR 147/03, WM 2004, 2213 mwN; vom 30.06.2006 – V ZR 148/05, NJW-RR 2006, 1292[↩]
- im Anschluss an BGH, Urteile vom 14.10.2004 – VII ZR 180/03, NJW-RR 2005, 213; vom 30.06.2006 – V ZR 148/05, NJW-RR 2006, 1292; Beschluss vom 22.02.2007 – III ZR 114/06, NJW-RR 2007, 774[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 08.06.2004 – VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245, 251; vom 18.10.2005 – VI ZR 270/04, BGHZ 164, 330, 333; Beschlüsse vom 21.12.2006 – VII ZR 279/05, NJW 2007, 1531 Rn. 7; vom 02.04.2009 – V ZR 177/08, NJW-RR 2009, 1236 Rn. 9; jeweils mwN[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 29.09.2009 – VI ZR 149/08, VersR 2009, 1683 Rn. 3; vom 24.11.2009 – VII ZR 31/09, NJW 2010, 376 Rn. 9; vom 10.06.2010 – Xa ZR 110/09, NJW-RR 2011, 211 Rn. 27 f.[↩]
- BGH, Beschluss vom 26.06.2008 – V ZR 225/07; Urteil vom 30.06.2006 – V ZR 148/05, NJW-RR 2006, 1292 Rn. 16[↩]
- vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 101; BGH, Urteile vom 19.02.2004 – III ZR 147/03, WM 2004, 2213 unter II 2 a; vom 30.06.2006 – V ZR 148/05, aaO; Beschluss vom 26.06.2008 – V ZR 225/07, aaO; jeweils mwN[↩]
- st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 19.02.2004 – III ZR 147/03, aaO; vom 23.09.2004 – VII ZR 173/03, NJW-RR 2005, 167 unter III 2 b aa; vom 30.06.2006 – V ZR 148/05, aaO Rn. 17 mwN; Beschluss vom 22.02.2007 – III ZR 114/06, NJW-RR 2007, 774 Rn. 7; BGH, Urteil vom 29.06.2011 – VIII ZR 212/08, NJW 2011, 3361 Rn. 27[↩]
- BGH, Urteile vom 19.02.2004 – III ZR 147/03, aaO mwN; vom 30.06.2006 – V ZR 148/05, aaO Rn. 18[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 23.09.2004 – VII ZR 173/03, aaO[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 14.10.2004 – VII ZR 180/03, NJW-RR 2005, 213 unter B II; vom 30.06.2006 – V ZR 148/05, aaO Rn.20 f.; Beschluss vom 22.02.2007 – III ZR 114/06, aaO Rn. 6 ff.[↩]
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