Stellen sich in einem Schadensersatzprozess wegen Produkthaftung medizinische Fragen, dürfen weder an den klagebegründenden Sachvortrag einer Partei noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden.

Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern1. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, tatsächliche und rechtliche Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen2. Dabei darf das Gericht die Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags nicht überspannen. Da die Handhabung der Substantiierungsanforderungen dieselben einschneidenden Folgen hat wie die Anwendung von Präklusionsvorschriften, verstößt sie gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie offenkundig unrichtig ist3.
Im Arzthaftungsprozess dürfen an die Substantiierungspflicht des Patienten nur maßvolle Anforderungen gestellt werden, weil vom Patienten regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann und er nicht verpflichtet ist, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen4. Dies gilt auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten. Insbesondere ist die Partei berechtigt, ihre Einwendungen gegen das Gutachten zunächst ohne sachverständige Hilfe vorzubringen5. Da diese Grundsätze auch außerhalb des Arzthaftungsprozesses in Fallgestaltungen Anwendung finden, in denen ein Erfolg versprechender Parteivortrag fachspezifische Fragen betrifft und besondere Sachkunde erfordert6, gelten sie auch, wenn sich in einem Schadensersatzprozess wegen Produkthaftung medizinische Fragen stellen. Hat eine Partei nur geringe Sachkunde, dürfen somit weder an ihren klagebegründenden Sachvortrag noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden7. Die Partei darf sich in diesem Fall auf den Vortrag von ihr zunächst nur vermuteter Tatsachen beschränken8.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. Februar 2021 – VI ZR 1104/20
- vgl. BVerfGE 19, 32, 36; 49, 325, 328; 55, 1, 6; 60, 175, 210; 64, 135, 143 f.[↩]
- BGH, Beschluss vom 29.05.2018 – VI ZR 370/17, VersR 2018, 1001 Rn. 8; BVerfGE 60, 1, 5; 65, 227, 234; 84, 188, 190; 86, 133, 144 ff.; BVerfG, NJW 2017, 3218 Rn. 47[↩]
- BGH, Beschlüsse vom 07.07.2020 – VI ZR 212/19, BeckRS 2020, 17823 Rn. 10; vom 02.07.2019 – VI ZR 42/18, VersR 2019, 1385 Rn. 5 mwN[↩]
- st. BGH-Rechtsprechung, vgl. nur BGH, Beschluss vom 12.03.2019 – VI ZR 278/18, VersR 2019, 1450 Rn. 8 mwN[↩]
- BGH, Urteil vom 08.06.2004 – VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245, 253 27 mwN[↩]
- BGH, Urteil vom 18.10.2005 – VI ZR 270/04, BGHZ 164, 330, 335 15[↩]
- BGH, Urteil vom 18.10.2005 – VI ZR 270/04, BGHZ 164, 330, 335 15; BGH, Urteil vom 19.02.2003 – IV ZR 321/02, NJW 2003, 1400 10[↩]
- BGH, Urteil vom 19.02.2003 – IV ZR 321/02, NJW 2003, 1400 10[↩]
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