Im Prozesskostenhilfeverfahren kann eine Vorabwürdigung der Erfolgsaussichten im Einzelfall vorgenommen werden. Dies gilt auch bei erforderlichen Grundrechtsabwägungen, solange die zugrunde liegenden rechtlichen Fragen sowie die Anforderungen an die Abwägung in der Rechtsprechung bereits geklärt sind.

So hat jetzt das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die Zurückweisung eines Prozesskostenhilfegesuchs für ein Vorgehen gegen einen Pressebericht richtete, und dabei klargestellt, dass eine Vorabeinschätzung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren auch dann zulässig ist, wenn eine solche Einschätzung – wie etwa regelmäßig im Presse- und Äußerungsrecht – eine abwägende Berücksichtigung der im Einzelfall widerstreitenden grundrechtlich geschützten Interessen voraussetzt. In einer solchen Abwägung liegt, obwohl sie mitunter komplexe Wertungsfragen aufwirft, nicht schon deshalb, weil sie als Einzelfallbeurteilung offen ist, eine „Vorabklärung schwieriger Rechtsfragen“, die im Prozesskostenhilfeverfahren verboten ist.
Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass die Zulässigkeit einer identifizierenden Berichterstattung über Strafverfahren einschließlich der Umstände von Tat und Täter im Fall einer Verurteilung nicht generell auf schwere Gewalttaten oder prominente Personen beschränkt ist, sondern von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Die Fachgerichte durften deshalb im vorliegenden Fall ohne Verletzung der Rechtschutzgleichheit davon ausgehen, dass ein Vorgehen des Beschwerdeführers gegen den Bericht im konkreten Fall nicht hinreichend aussichtsreich war, auch wenn es sich lediglich um einfache Körperverletzungstaten handelte.
Der Ausgangssachverhalt
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung eines Prozesskostenhilfegesuchs für ein gerichtliches Vorgehen gegen einen Pressebericht.
Der nicht öffentlich bekannte Beschwerdeführer wurde im Juli 2018 wegen zweier von ihm eingeräumter einfacher Körperverletzungen zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt. Wegen einer dritten angeklagten Körperverletzungstat, die ebenfalls in den eineinhalbmonatigen Zeitraum zwischen den abgeurteilten Taten fiel, wurde die Strafverfolgung nach § 154 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung eingestellt. Eine Anfechtung des Urteils erfolgte nicht. Über dieses Verfahren und seinen Ausgang berichtete die lokale Sektion einer Tageszeitung auf ihrer Internetseite unter der Überschrift „…“. Beim Artikel befindet sich ein Foto des Beschwerdeführers, das im Augenbereich durch einen breiten schwarzen Streifen unkenntlich gemacht ist, auf dem er für Bekannte aber möglicherweise erkennbar ist. Der unter der Abbildung stehende Text identifiziert ihn als „[Vorname] ([Alter])“. Der Artikel berichtet in knapper und zuspitzender Form über die zugrundeliegenden Taten und verschiedene Äußerungen im Strafverfahren, wobei er dem Beschwerdeführer unter anderem einen gefährlichen Hang zur Gewalt und zu anlasslosen „Ausrastern“ attestiert.
Das hierauf nach vorheriger Abmahnung gestellte Prozesskostenhilfegesuch für ein zivilgerichtliches Vorgehen gegen den verantwortlichen Presseverlag wies das Landgericht Berlin zurück [1]; die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Auch nicht schwerwiegende Gewalttaten und deren konkrete Umstände und Täter gehörten je nach konkreten Umständen zu dem die Öffentlichkeit berechtigterweise interessierenden Zeitgeschehen, über das auch individualisierend zu berichten der Presse erlaubt sei. Hier begründeten die besondere Begehungsweise und impulsive Aggressivität des Beschwerdeführers ein hinreichendes Interesse an einer auch identifizierenden Berichterstattung, einschließlich der Bebilderung. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde wies das Kammergericht mit ähnlicher Begründung zurück [2].
Prozesskostenhilfe und Rechtsschutzgleichheit
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer ausschließlich eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG. Die herangezogenen Präjudize beträfen allesamt andere Konstellationen. Solche schwierigen, nicht geklärten Rechtsfragen dürften nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden.
Das Bundesverfassungsgericht befand demgegenüber, dass sich die angegriffenen Entscheidungen im fachgerichtlichen Wertungsrahmen hielten und nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an; die Vorabeinschätzung der Erfolgsaussichten der angestrebten Rechtsverfolgung berücksichtige den grundrechtlichen Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit in hinreichender Weise:
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll das Institut der Prozesskostenhilfe auch unbemittelten Personen den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht ermöglichen [3]. Die Auslegung und Anwendung des die Gewährung von Prozesskostenhilfe regelnden § 114 ZPO obliegt dabei in erster Linie den Fachgerichten, die allerdings den Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben [4]. Maßgeblich ist daher, ob die Fachgerichte den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Vorabwürdigung der Erfolgsaussichten verfassungsrechtlich zukommt, überspannen und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, einen Gerichtszugang zu gewährleisten, deutlich verfehlen [5].
Die Fachgerichte dürfen Prozesskostenhilfe insbesondere dann nicht versagen, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt [6]. Prozesskostenhilfe braucht allerdings nicht gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in diesem Sinn als „schwierig“ erscheint [7]. Dies gilt insbesondere für abwägende Subsumtionsentscheidungen im Einzelfall, obwohl auch sie komplexe Fragen aufwerfen können. Auch wenn die Beurteilung der Erfolgsaussichten eine konkret abwägende Subsumtionsentscheidung erfordert, darf eine solche fachgerichtliche Voreinschätzung daher im Verfahren der Prozesskostenhilfe Berücksichtigung finden, soweit die generellen Maßstäbe dieser Abwägung hinreichend geklärt sind [8]. Andernfalls wäre Prozesskostenhilfe in einzelfallaffinen Rechtsbereichen, etwa im regelmäßig durch konkrete Abwägung von Berichterstattungs- und Persönlichkeitsinteressen bestimmten Äußerungsrecht, fast immer zu gewähren. Dies ist mit dem Verbot, „schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen“ im Prozesskostenhilfeverfahren zu entscheiden, nicht gemeint.
Ausgehend von diesen Maßstäben haben die Fachgerichte bei der grundsätzlich ihnen gebührenden Einschätzung der hinreichenden Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO die aus der Rechtsschutzgleichheit folgenden Anforderungen gewahrt.
Die Gerichte haben ihrer Abschätzung der Erfolgsaussichten als Maßstab zugrunde gelegt, dass eine identifizierende Presseberichterstattung über Strafverfahren und die zugrundeliegenden Taten in deren zeitlicher Nähe nicht generell auf Fälle schwerer Gewaltverbrechen oder öffentlich bekannter Personen beschränkt ist, sondern von den konkreten Umständen des Falles und dem darauf bezogenen öffentlichen Berichterstattungsinteresse abhängt. Ungeachtet der Frage, wieweit die vorliegend von den Gerichten hierfür unmittelbar angeführte Rechtsprechung ausdrücklich auf den von dem Beschwerdeführer herausgehobenen Punkt eingehen, ob das auch für Straftaten gilt, wie sie hier in Frage stehen, entspricht dieser Maßstab dem Stand der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, die insoweit auf das Fachrecht zurückwirkt. Danach sieht die Rechtsprechung für die aktuelle Berichterstattung über Straftaten grundsätzlich auch identifizierende Berichte als zulässig an, wobei hierüber nach Maßstab einer Abwägung zu entscheiden ist [9]. Bei dieser Abwägung ist auch das Gewicht der Straftaten einzubeziehen, aber verstanden als einzelfallbezogener Abwägungsgesichtspunkt und nicht abstrakt zu klärende Grundsatzfrage.
Die Einschätzung, ob in Anwendung der als solche nicht angegriffenen Maßstäbe ein gerichtliches Vorgehen gegen die individualisierende Berichterstattung hinreichend aussichtsreich war, verweist auf den konkreten Einzelfall, ist durch abwägende Würdigung des Inhalts und der Umstände der Berichterstattung, der Tat und ihrer Bedeutung für die Allgemeinheit zu beantworten und ist daher von vornherein einer allgemeinen Klärung entzogen. Sie ist auch nicht derart schwierig oder maßstäblich offen, dass sie einer antizipierenden Würdigung im Verfahren der Prozesskostenhilfe entgegenstünde. Die für die gerichtliche Einschätzung der Erfolgsaussichten maßgebliche Tatsachengrundlage war zudem in Gestalt des beanstandeten Presseberichts und des zugrundeliegenden Strafurteils hinreichend aus den Akten ersichtlich, um eine abwägende Vorabeinschätzung im Prozesskostenhilfeverfahren zu ermöglichen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 7. Juli 2020 – 1 BvR 2447/19
- LG Berlin, Beschluss vom 02.07.2019 – 27 O 252/19[↩]
- KG, Beschluss vom 26.09.2019 – 10 W 92/19[↩]
- vgl. BVerfGE 81, 347 <356 ff.>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.09.2017 – 1 BvR 2443/16, Rn. 10[↩]
- vgl. BVerfGE 81, 347 <357 f.>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.12.2013 – 1 BvR 2531/12, Rn. 13; Beschluss vom 04.09.2017 – 1 BvR 2443/16, Rn. 11[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.09.2017 – 1 BvR 2443/16, Rn. 12[↩]
- vgl. in der Sache ähnlich BVerfG, Beschluss vom 26.12.2013 – 1 BvR 2531/12, Rn. 15[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 – „Recht auf Vergessen I“[↩]
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