Rechtliches Gehör – oder: „Inkassokosten gibt es bei uns nicht!“

Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können1. Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsausführungen geschehen kann, gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern2.

Rechtliches Gehör – oder: „Inkassokosten gibt es bei uns nicht!“

Der Anspruch auf rechtliches Gehör bedeutet auch, dass das entscheidende Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muss3. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Nur dann, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass ein Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt4.

Zwar hat das Gericht bei der Abfassung seiner Entscheidungsgründe eine gewisse Freiheit und kann sich auf die für den Entscheidungsausgang wesentlichen Aspekte beschränken, ohne dass darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt. Wenn aber ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Prozessausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu erwägen5. Ein Schweigen lässt hier den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde. Davor schützt Art. 103 Abs. 1 GG6.

Weiterlesen:
Adhäsionsentscheidung - und die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten

Diesen Maßstäben wird das Urteil des Amtsgerichts Bremen nicht gerecht, dass die Erstattungsfähigkeit der Inkassokosten einer amerikanischen Kläger -bis auf je 2, 50 € Auslagen für zwei Mahnungen- pauschal abgelehnt hatte, ohne auf die Argumente der Klägerin zur Frage der Erstattungsfähigkeit und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs7 einzugehen8.

Die Ausführungen des Amtsgerichts zur Erstattungsfähigkeit der geltend gemachten Inkassokosten lassen jegliche Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17.09.20157 vermissen, auf die sich die Beschwerdeführerin mehrfach ausdrücklich berufen und deren Erwägungen sich die Beschwerdeführerin zu eigen gemacht hatte. Danach ist auch in rechtlich einfach gelagerten Fällen regelmäßig die Beauftragung eines Rechtsanwalts zweckmäßig und erforderlich, wenn der Schuldner in Zahlungsverzug gerät. Insbesondere kann sich der Versuch einer außergerichtlichen Erledigung unter Zuhilfenahme des Rechtsanwalts anbieten, wenn der Schuldner bislang gar nicht reagiert hat9. Eine solche Konstellation war vorliegend gegeben. Nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin reagierte die Beklagte auf das Schreiben vom 22.01.2019, mit welchem die Beschwerdeführerin den Rücktritt vom Kaufvertrag erklärte und die Rückzahlung des Kaufpreises verlangte, ebenso wenig wie auf die vorherigen Schreiben der Beschwerdeführerin, mit welchen sie die Beklagte zur Lieferung der Kaufsache aufforderte.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs betrifft zwar – anders als der vorliegende Fall – die Beauftragung eines Rechtsanwalts mit der außergerichtlichen Interessenwahrnehmung. Die dortigen Erwägungen könnten indes auf die hier erfolgte Beauftragung eines Inkassounternehmens übertragbar sein. Denn der Bundesgerichtshof führt aus, der Gläubiger könne seinem Erfüllungsverlangen durch Einschaltung eines Rechtsanwalts Nachdruck verleihen10. Entsprechendes dürfte auch für Inkassounternehmen gelten11.

Weiterlesen:
Abgabe der Vermögensauskunft - und der Verbrauch des Haftbefehls

Da auch die Beschwerdeführerin ersichtlich davon ausging, dass die Ausführungen des Bundesgerichtshofs zur Erstattungsfähigkeit vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten auf die Tätigkeit von Inkassounternehmen übertragbar seien, und die Argumentation der Beschwerdeführerin hiermit steht und fällt, wäre eine Auseinandersetzung des Amtsgerichts mit der von der Beschwerdeführerin in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu erwarten gewesen. Das Schweigen der Entscheidungsgründe zu diesem Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt insofern den Schluss zu, dass der Vortrag der Beschwerdeführerin nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde.

Dem steht nicht entgegen, dass in der mündlichen Verhandlung vom 18.11.2020 ausweislich des Verhandlungsprotokolls „die bereits erteilten Hinweise (…) erörtert“ wurden. Zwar ist nicht fernliegend, dass in diesem Rahmen auch die fragliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs und ihre Übertragbarkeit auf den vorliegenden Fall erörtert worden ist. Das Protokoll ist an dieser Stelle indes zu vage gehalten, um den durch die Entscheidungsgründe vermittelten Eindruck zu entkräften. Auch dem Anhörungsrügebeschluss lässt sich nicht entnehmen, dass sich das Gericht bereits in der mündlichen Verhandlung vom 18.11.2020 hinreichend mit dem Vortrag der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt hätte.

Die Entscheidung beruht auf diesem Gehörsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht, hätte es das Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen, zu einem anderen, der Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

Weiterlesen:
Erstattung der Zwischenfinanzierungskosten bei einem Behandlungsfehler

Durch den Anhörungsrügebeschluss vom 19.04.2021 wurde die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG nicht geheilt, da sich das Gericht auch in dieser Entscheidung in keiner Weise mit der von der Beschwerdeführerin in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17.09.2015 – IX ZR 280/14 – auseinandergesetzt hat. Nachdem auch die Beklagte auf den Vortrag der Beschwerdeführerin erwidert und die Vergleichbarkeit der Entscheidung mit der vorliegenden Konstellation diskutiert hat, wäre zumindest eine Auseinandersetzung des Amtsgerichts mit den insoweit von den Parteien vorgebrachten Argumenten zu erwarten gewesen.

Da die Entscheidung des Amtsgerichts bereits gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, bedarf es keiner Entscheidung, ob auch ein Verstoß gegen die weiteren von der Beschwerdeführerin als verletzt gerügten Grundrechte vorliegt. Insbesondere kann offen bleiben, ob die Entscheidung angesichts der Tatsache, dass das Amtsgericht die Nichtzulassung der Berufung allein unter Verweis auf übereinstimmende Rechtsprechung des übergeordneten Landgerichts begründet hat, ohne auch divergierende Rechtsprechung anderer Gerichte in den Blick zu nehmen und sich insbesondere mit der von der Beschwerdeführerin in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs auseinanderzusetzen, auch gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG verstößt12.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 28. April 2023 – 2 BvR 924/21

  1. vgl. BVerfGE 84, 188 <190> 107, 395 <409> m.w.N.[]
  2. vgl. BVerfGE 60, 175 <210 ff.> 64, 135 <143> 65, 227 <234> 86, 133 <144> stRspr[]
  3. vgl. BVerfGE 21, 191 <194> 96, 205 <216> stRspr[]
  4. vgl. BVerfGE 25, 137 <140 f.> 85, 386 <404> 96, 205 <216 f.> stRspr[]
  5. vgl. BVerfGE 47, 182 <188 f.> 86, 133 <146>[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.06.1992 – 1 BvR 600/92 11; Beschluss vom 14.09.2016 – 1 BvR 1304/13, Rn. 23[]
  7. BGH, Urteil vom 17.09.2015 – IX ZR 280/14[][]
  8. AG Bremen, Urteil vom 09.12.2020 – 23 C 81/20[]
  9. BGH, Urteil vom 17.09.2015 – IX ZR 280/14 9, 11[]
  10. BGH, Urteil vom 17.09.2015 – IX ZR 280/14 9[]
  11. vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.05.2020 – 2 BvR 1762/16, Rn. 16; Goebel, in: Goebel, Inkassodienstleistung und Inkassokosten, 3. Aufl.2022, § 2 Rn. 103[]
  12. vgl. BVerfG, Beschluss vom 28.05.2019 – 1 BvR 2006/16, 1 BvR 2029/16, Rn. 17 m.w.N.[]
Weiterlesen:
Kaufpreisklage des Insolvenzverwalters - und die internationale Zuständigkeit