Weiß ein Arbeitnehmer, dem der Arbeitgeber in der Krise noch Zahlungen auf rückständige Lohnforderungen erbringt, dass der Arbeitgeber außerdem noch anderen Arbeitnehmern Lohn schuldig ist, rechtfertigt allein diese Kenntnis nicht den Schluss auf die Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungseinstellung des Arbeitgebers. Ist der Gläubiger ein Arbeitnehmer des Schuldners ohne Einblick in die Liquiditäts- oder Zahlungslage des Unternehmens, trifft ihn in der ihm bekannten Krise insoweit keine Erkundigungspflicht.

Aus den Gründen des Verkehrsschutzes wird der Gläubiger der Deckungsanfechtung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO erst ausgesetzt, wenn er die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im maßgeblichen Zeitpunkt (§ 140 InsO) kennt. Kennt der Gläubiger die Zahlungseinstellung, ist gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO auch seine Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit anzunehmen. Denn die dort formulierte Vermutung gilt auch im Rahmen des Insolvenzanfechtungsrechts1. Kenntnis bedeutet im Allgemeinen ein für sicher gehaltenes Wissen. Der Gläubiger kennt die Zahlungsunfähigkeit oder die Zahlungseinstellung als komplexe Rechtsbegriffe nur, wenn er die Liquidität oder das Zahlungsverhalten des Schuldners wenigstens laienhaft bewerten kann. Nach § 130 Abs. 2 InsO steht der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Eröffnungsantrags die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag schließen lassen. Was mit dieser Regelung gemeint ist, erschließt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift nur lückenhaft2. Sicher ist nur, dass diese Formulierung, anders als noch der Regierungsentwurf3, die grob fahrlässige Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit nicht genügen lassen will. In dem Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages heißt es zu der beschlossenen Fassung, im Interesse der Rechtssicherheit dürfe die Anfechtbarkeit von Geschäften, bei denen der Vertragspartner des Schuldners nichts anderes als die geschuldete Leistung erhalte, nicht zu weit ausgedehnt werden; zudem sei der „unscharfe Begriff“ der groben Fahrlässigkeit zu vermeiden4. Vorausgesetzt wird demgemäß, dass der Insolvenzgläubiger die tatsächlichen Umstände kennt, aus denen bei zutreffender rechtlicher Bewertung die Zahlungsunfähigkeit zweifelsfrei folgt. Dann vermag er sich nicht mit Erfolg darauf zu berufen, dass er den an sich zwingenden Schluss von den Tatsachen auf den Rechtsbegriff selbst nicht gezogen habe5.
Die Kenntnis einzelner Tatsachen, die für eine Zahlungseinstellung oder Zahlungsunfähigkeit sprechen, kann deshalb nicht genügen, wenn sie nur die ungewisse Möglichkeit einer Zahlungsunfähigkeit befürchten lassen6. Der zwingende Schluss aus den Indiztatsachen auf die Zahlungsunfähigkeit kann vielmehr nur gezogen werden, wenn sich ein redlich Denkender, der vom Gedanken auf den eigenen Vorteil nicht beeinflusst ist, angesichts der ihm bekannten Tatsachen der Einsicht nicht verschließen kann, der Schuldner sei zahlungsunfähig7. Mischen sich in die Vorstellungen des Gläubigers – wenngleich möglicherweise irrtümlich – Tatsachen, die bei einer Gesamtbetrachtung den Schluss auf die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nicht zwingend nahe legen, fehlt dem Gläubiger die entsprechende Kenntnis. Bewertet er hingegen das ihm vollständig bekannte Tatsachenbild, das objektiv die Annahme der Zahlungsunfähigkeit gebietet, falsch, kann er sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass er diesen Schluss nicht gezogen habe8.
Nach der Rechtsprechung des BGH deutet gerade die Nichtzahlung von Löhnen und Sozialversicherungsbeiträgen, die typischerweise nur dann nicht bei Fälligkeit ausgeglichen werden, wenn die erforderlichen Geldmittel hierfür nicht vorhanden sind, auf die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens hin9. Diese Rechtsprechung betrifft allerdings institutionelle Gläubiger oder Gläubiger mit „Insiderkenntnissen“. Demgegenüber wird der Überblick eines Arbeitnehmers, insbesondere wenn er weder in der Finanzbuchhaltung des Unternehmens eingesetzt ist noch Leitungsaufgaben im kaufmännischen Bereich wahrzunehmen hat, in aller Regel begrenzt sein und nur Schlussfolgerungen allgemeiner Art wie diejenige auf Zahlungsschwierigkeiten, Zahlungsstockungen oder eine Tendenz zum Vermögensverfall zulassen10. Die Vorschrift des § 130 Abs. 2 InsO verlangt hingegen Kenntnisse von den konkreten Umständen, die ein eindeutiges Urteil über die Liquiditätsgesamtlage des Unternehmens ermöglichen. Andernfalls erfasste die Vorschrift entgegen dem zu respektierenden Willen des Gesetzgebers auch Fahrlässigkeitstatbestände.
Danach verschaffte die Kenntnis von den Lohnrückständen dem Beklagten nicht den erforderlichen Gesamtüberblick über die Liquiditäts- oder Zahlungslage des schuldnerischen Unternehmens. Insbesondere war für ihn nicht erkennbar, ob die Lohnrückstände gegenüber allen Arbeitnehmern gleich ausgeprägt waren und welchen Anteil die Lohnrückstände an den insgesamt fälligen und eingeforderten Geldschulden hatten. Dies ist aber für die Annahme zwingend auf Zahlungsunfähigkeit schließen lassender Tatsachen erforderlich, weil der Gläubiger wissen muss, dass der Schuldner von seinen als fällig eingeforderten Verbindlichkeiten einen nicht unwesentlichen Teil derzeit nicht erfüllen kann und auch keine konkreten Aussichten hat, hierfür ausreichende und verwendbare Geldmittel in den nächsten drei Wochen zu erlangen11.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. Februar 2009 – IX ZR 62/08
- BGHZ 149, 178, 184; BGH, Urt. v. 12. Oktober 2006 – IX ZR 228/03, ZIP 2006, 2222, 2223; MünchKomm-ZPO/Kirchhof, 2. Aufl. § 130 Rn. 31[↩]
- vgl. BGHZ 149, 178, 185[↩]
- vgl. BT-Drucks. 12/2443 S. 32[↩]
- vgl. BT-Drucks. 12/7302 S. 173 zu § 145 Abs. 1, 2[↩]
- vgl. BGHZ 149, 178, 185; HK-InsO/Kreft, 5. Aufl. § 130 Rn. 25; Jaeger/Henckel, InsO § 130 Rn. 121; FK-InsO/Dauernheim, 5. Aufl. § 130 Rn. 34[↩]
- vgl. MünchKomm-InsO/Kirchhof, aaO § 130 Rn. 33[↩]
- Jaeger/ Henckel, aaO § 130 Rn. 121; HK-InsO/Kreft, aaO § 130 Rn. 29; vgl. auch BGHZ 133, 246, 250, zu § 990 BGB[↩]
- BGHZ 149, 178, 185; MünchKomm-InsO/Kirchhof, aaO § 130 Rn. 34[↩]
- BGHZ 149, 178, 187; BGH, Beschluss vom 13. Juni 2006 – IX ZB 238/05, ZIP 2006, 1457, 1458; Urt. v. 12. Oktober 2006 – IX ZR 228/03, aaO S. 2224[↩]
- vgl. MünchKomm-InsO/Kirchhof, aaO § 130 Rn. 35; Bork ZIP 2007, 2337, 2338; a.A. Zwanziger BB 2007, 42, 45[↩]
- vgl. BGHZ 163, 134, 144 f; BGH, Urt. v. 12. Oktober 2006 – IX ZR 228/03, aaO S. 2223[↩]