Wer mit seinem Fahrzeug rückwärts fährt, muss auf andere Verkehrsteilnehmer ganz besonders achten. Auf die Rückfahrkamera darf man sich nicht verlassen.

Der Fall ist alltäglich: Auf dem Parkplatz eines Supermarktes ist viel los. Ein Mann steuert sein Auto geradeaus in Richtung Ausfahrt. Vor ihm parkt ein anderer Fahrer rückwärts aus und schaut dabei auf die Rückfahrkamera. Es kommt zum Zusammenstoß. Der Geradeausfahrende beschuldigt den Rückwärtsfahrenden, plötzlich ausgeparkt und den Zusammenstoß verursacht zu haben. Der Rückwärtsfahrende entgegnet, der Geradeausfahrende sei einfach weitergefahren und an seinem Fahrzeug entlanggeschrammt. Der Geradeausfahrende habe gar nicht bremsen wollen und den Unfall bewusst provoziert.
Das Landgericht Lübeck sah Fehler bei beiden Fahrern: Der Geradeausfahrende habe einen Fehler gmacht. Er sei etwa 15 km/h schnell gefahren. Auf einem Parkplatz müsse man aber sofort bremsen können. Man dürfe daher nur Schrittgeschwindigkeit fahren. Aber auch der Ausparkende habe sich nicht richtig verhalten. Er habe nicht die ganze Zeit über die Schulter nach hinten geschaut. Beim Rückwärtsfahren müsse man durchgängig sicherstellen, dass man niemanden gefährdet. Das Anschauen der Rückfahrkamera reiche dafür nicht aus. Den Rückwärtsfahrenden treffe die größere Schuld. Er muss jetzt 2/3 des Schadens bezahlen.
Dem Verkehrsunfall lag ein Verschulden des Ausparkenden gemäß § 276 BGB zugrunde, da er unfallursächlich gegen seine Sorgfaltspflichten aus § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Demgemäß hat er gem. §§ 249 ff. BGB der Eigentümerin des anderen PKWs die ihr insoweit entstandenen fahrzeugbezogenen Schäden zu ersetzen. Nach § 249 Abs. 1 BGB kann der Geschädigte verlangen, so gestellt zu werden, wie er stünde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Ein Vermögensschaden ist danach gegeben, wenn sich die infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretene Vermögenslage nachteilig von der ohne dieses Ereignis unterscheidet (sog. Differenzhypothese1. Das von dem Geschädigten zu beachtende Wirtschaftlichkeitspostulat gebietet ihm, den Schaden auf diejenige Weise zu beheben, die sich in seiner individuellen Lage als die wirtschaftlich vernünftigste darstellt, um sein Vermögen in Bezug auf den beschädigten Bestandteil in einen dem früheren gleichwertigen Zustand zu versetzen2. Darüber hinaus findet das Wahlrecht des Geschädigten seine Grenze an dem Verbot, sich durch Schadensersatz zu bereichern. Er soll zwar vollen Ersatz verlangen können, aber an dem Schadensfall nicht verdienen3. Bei dem Vorhandensein eines Alt- oder Vorschadens kann der Geschädigte nach der Differenzhypothese nur verlangen, so gestellt zu werden, wie er vermögensmäßig mit den zum Schadenszeitpunkt vorhandenen Alt- oder Vorschäden, aber ohne den Zweitschaden, stünde. Geschuldet sind daher nur die Kosten für eine zeitwertgerechte Reparatur. Im Fall von mit dem späteren Schadensereignis kompatiblen Schäden kann der durch einen Unfall Geschädigte diese grundsätzlich nur dann ersetzt verlangen, wenn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist, dass sie bereits im Rahmen eines Vorschadens entstanden sind4. Kann ein solcher Nachweis nicht erbracht werden, dass jedenfalls bestimmte abgrenzbare Beschädigungen im vorgeschädigten Bereich durch das streitgegenständliche Unfallereignis verursacht wurden, dann kommt es jedenfalls bei genügenden Anhaltspunkten in Betracht, das Vorliegen von nicht abzugrenzenden Vorschäden im Wege der Schadensschätzung nach § 287 ZPO durch einen Abschlag bei der Schadensbemessung zu berücksichtigen5, was aber nur bei Vorliegen hinreichender greifbarer Tatsachen der Fall ist, da auch § 287 ZPO eine völlig abstrakte Berechnung des Schadens grundsätzlich nicht zulässt, auch nicht in Form der Schätzung eines Mindestschadens6.
Die Eigentümerin des anderen PKWs muss sich in Bezug auf den vorstehend festgestellten deliktischen Anspruch kein anspruchsminderndes Mitverschulden ihres Fahrers gem. §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB gefallen lassen. Anders als bei der Gefährdungshaftung fehlt es insoweit an einer Zurechnungsnorm. Weder ist § 9 StVG auf den verschuldensabhängigen deliktischen Anspruch anwendbar noch erfolgt eine Zurechnung des Mitverschuldens über § 254 Abs. 2 Satz 2 BGB, da der Fahrer des anderen PKWs im Verhältnis zu den Beklagten kein Erfüllungsgehilfe i.S.v. § 278 BGB war7. Schließlich scheidet auch eine auf § 426 Abs. 1 BGB gestützte dolo-agit-Einrede gem. § 242 BGB aus7.
Dem Fahrer des anderen PKWs steht gegen die Beklagten ferner aus eigenem Recht – so wie er es geltend macht – ein Anspruch auf Zahlung der allgemeinen Unkostenpauschale in Höhe von 13, 33 € aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG zu. Nach der Rechtsprechung des BGH wird von § 7 Abs. 1 StVG auch der berechtigte unmittelbare Besitz geschützt7. Zwar war der Fahrer des anderen PKWs zum Unfallzeitpunkt nicht gem. § 854 Abs. 1 BGB im unmittelbaren Besitz des Fahrzeuges, da er dies an dem Unfalltag dem Zeugen R… überlassen hatte und es sich insoweit nicht nur um eine bloße Besitzlockerung gehandelt haben dürfte. Indessen ist auch der berechtigte mittelbare Besitz gem. § 868 BGB als sonstiges Recht i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB zu behandeln8. Wenngleich der BGH in den Fällen der vorliegenden Fallkonstellation – sei es bei sicherungsübereigneten Fahrzeugen, sei es bei Leasingfahrzeugen – soweit ersichtlich nur Ansprüche des Sicherungs-/Leasingnehmers aus berechtigtem unmittelbaren Besitz zuerkannt hat, so muss diesem auch bei berechtigtem mittelbaren Besitz ein Schadensersatzanspruch gegen den Unfallgegner zuerkannt werden, anderenfalls eine Haftungslücke – insbesondere im Hinblick auf den Nutzungsschaden – entstehen würde. Denn es gehört auch zur üblichen Verwendung auch eines sicherungsübereigneten oder geleasten Fahrzeuges, dass dieses zeitweilig beispielsweise an Familienangehörige oder Freunde zur Nutzung überlassen wird. Insoweit kann kein Unterschied darin bestehen, ob der Sicherungs-/Leasingnehmer das Fahrzeug im Unfallzeitpunkt gerade selbst fährt oder es zufälligerweise berechtigt an dem konkreten Tag einer nahestehenden dritten Person überlassen hat. Dies gilt im Streitfall umso mehr, als dass vorliegend die Überlassung nur kurzfristig erfolgte und der Fahrer des anderen PKWs zeitnah den unmittelbaren Besitz zurückerlangen würde. Insofern wurde durch den Unfall gleichsam der (zukünftige) unmittelbare Besitz des Fahrers des anderen PKWs, dessen kurzfristige Zurückerlangung ohne Weiteres bevorstand und absehbar war, quasi mittelbar durch den unmittelbaren Besitz des Zeugen R… hindurch geschädigt. Die als eigener Schaden geltend gemachte Unkostenpauschale ist auch von dem der Besitzverletzung zurechenbaren Haftungs- und Nutzungsschaden des Fahrers des anderen PKWs erfasst. Solche Aufwendungen sind ersetzbar, die dazu dienen, die uneingeschränkte Nutzungsbeeinträchtigung abzuwehren. Hierzu zählen in erster Linie der Nutzungsschaden (Nutzungsausfallschaden), aber auch die Auslagenpauschale sowie die vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten9. Die im Verkehrsunfallrecht allgemein anerkannte Pauschale in Höhe von 20, 00 € kann der Fahrer des anderen PKWs jedoch nur in Höhe von 13, 33 € verlangen. Anders als bei dem in Prozessstandschaft geltend gemachten Schaden der Sicherungseigentümerin gilt hier im Verhältnis zu den Beklagten § 17 StVG und der Fahrer des anderen PKWs muss sich insoweit gem. §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB das Mitverschulden des Zeugen R… anspruchsmindernd anrechnen lassen. Wie aus den nachstehend dargelegten Sorgfaltspflichtverletzungen des Zeugen R… und des Ausparkenden folgt, lag weder ein Fall höherer Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG vor noch ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG, sodass sich der Haftungsumfang aus § 17 Abs. 1 und 2 StVG ergibt. Die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie deren Umfang hängen damit nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG von den Umständen insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahren nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben10. Jede Seite hat dabei die Umstände zu beweisen, die der Gegenseite zum Verschulden gereichen und aus denen sie für die nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will11.
Zulasten des Fahrers des anderen PKWs ist ein Sorgfaltsverstoß des Zeugen R… gegen § 1 Abs. 2 StVO in die Abwägung des § 17 Abs. 1 und 2 StVG einzustellen. Wegen der auf einem Parkplatz ständig zu erwartenden Ein- und Ausparkvorgänge obliegen jedem Kraftfahrer auf einem Parkplatz erhöhte Sorgfalts- und Rücksichtspflichten. Angesichts der ständig wechselnden Verkehrssituationen auf einem Parkplatz muss bei stetiger Bremsbereitschaft mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden12. Schrittgeschwindigkeit bedeutet eine sehr langsame Geschwindigkeit, die der eines normal gehenden Fußgängers entspricht, also in der Größenordnung zwischen 4 und 7 km/h13. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht es zur Überzeugung des Gerichts fest, dass nicht nur entgegen der Behauptung des Fahrers des anderen PKWs der Zeuge R… nicht abgebremst und zum Unfallzeitpunkt gestanden hat und der Ausparkende in ihn hineingefahren ist, sondern der Zeuge R… vielmehr mit einer Kollisionsgeschwindigkeit mit zumindest 15 km/h gefahren ist. Der Sachverständige Dipl.-Ing. M… hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 07.12.2022 anhand der Unfallschäden sowie zweier Vergleichsversuche die Kollisionsgeschwindigkeit des klägerischen Pkw mit 15 km/h bis 20 km/h und die des Beklagtenfahrzeuges mit 3 km/h bis 7 km/h, also Schrittgeschwindigkeit, ermittelt. Der Zeuge R… selbst hat in seiner Aussage eine Ausgangsgeschwindigkeit von 15 km/h bis 20 km/h eingeräumt. Diese Geschwindigkeit fuhr er entgegen seiner Aussage aber nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen auch zum Kollisionszeitpunkt. Der Sachverständige hat ferner zur Überzeugung des Gerichts dargelegt, dass er bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit von unter 10 km/h den Unfall vermieden hätte, selbst wenn man zu seinen Gunsten ein ihm entgegenkommendes drittes Fahrzeug berücksichtigen würde. Darüber hinaus ergibt sich aber aus den Ausführungen des Sachverständigen auch, dass er den Unfall sogar bei einer Geschwindigkeit von 15 km/h hätte vermeiden können. In diesem Zusammenhang ist auch die insoweit glaubhafte Aussage des Zeugen P… zu berücksichtigen, dass der von dem Zeugen R… geführte weiße Mercedes ohne zu bremsen weitergefahren sei und er sogar den Eindruck gehabt habe, dieser wolle den Unfall gerade nicht vermeiden. Hierdurch wird auch die Bekundung des Zeugen R… widerlegt, er habe, als ein drittes Fahrzeug ihm in der Fahrgasse entgegengekommen sei, angefangen abzubremsen. Weiter hat der Zeuge P… angegeben, dass man auf der schmalen Fahrgasse nur mit Risiko an dem ausparkenden Beklagtenfahrzeug habe vorbeifahren können, und insoweit auch zu berücksichtigen sei, dass es sich bei dem weißen Mercedes um eine S-Klasse und somit um ein breites Fahrzeug gehandelt habe. Insoweit ist die von der Beklagtenseite geäußerte Vermutung, der Zeuge R… habe sich ein – auf Parkplätzen nicht bestehendes -Vorfahrtsrecht erzwingen wollen, nicht vollständig fernliegend. Demzufolge sind die Aussagen der Zeugen R… und T…, nach welchen der Ausparkende in das stehende Fahrzeug des Fahrers des anderen PKWs beim Ausparken hineingefahren sei, nicht glaubhaft und schlechterdings nichtzutreffend. Nach dem Unfallschaden – einem Streifschaden – sowie den Ausführungen des Sachverständigen war das von dem Zeugen R… geführte Fahrzeug des Fahrers des anderen PKWs zum Unfallzeitpunkt zumindest mit einer Geschwindigkeit von 15 km/h in Bewegung.
Zulasten der Beklagten ist ein Verstoß des Ausparkenden ebenfalls gegen § 1 Abs. 2 StVO beim Rückwärtsausparken aus der Parkbucht in Ansatz zu bringen. Auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter ist das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme (§ 1 Abs. 2 StVO) zu beachten. Danach muss sich ein Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung ist dabei die Wertung des § 9 Abs. 5 StVO zu berücksichtigen14. Entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO muss sich auch derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärtsfährt, so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann. Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein unfallursächliches Verschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende der dargestellten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat15. So verhält es sich hier. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht es zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Ausparkende noch nicht zum Stehen gekommen war, sondern sich im Zeitpunkt der Kollision bewegte. Der Sachverständige hat anhand von Vergleichsversuchen ermittelt, dass die Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeuges 3 km/h bis 7 km/h betragen habe, sodass es sich tatsächlich noch in Bewegung befand. Damit liegen die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises vor. Es ist demgegenüber den Beklagten nicht gelungen, den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Hierfür ist es noch nicht ausreichend, dass – wie bereits dargelegt – der Zeuge R… die Fahrgasse mit mehr als Schrittgeschwindigkeit befuhr. Erforderlich ist vielmehr der Nachweis der ernsthaften Möglichkeit, dass es zum Unfall gekommen sein kann, ohne dass denjenigen, gegen den der erste Anschein spricht, ein Verschulden treffen muss16. Hierfür kommt es auf den Umfang der sich aus § 9 Abs. 5 StVO ergebenden Pflichten an. Danach muss, wer ein Fahrzeug führt, beim Rückwärtsfahren sich über die Pflichten aus § 9 Abs. 1 StVO hinaus so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss man sich einweisen lassen. Der Fahrer muss sich nicht nur zu Beginn seiner Rückwärtsfahrt, sondern auch währenddessen ständig davon überzeugen, dass anderen Personen im Straßenverkehr durch sein Verhalten kein Schaden droht17. Nur überblickbarer und mit Gewissheit freier Raum darf rückwärts befahren werden. Der Rückwärtsfahrende muss dabei sicherstellen, dass nicht nur der Gefahrraum hinter seinem Kfz, sondern auch an den Seiten freibleibt. Es darf nur so langsam gefahren werden, dass er erforderlichenfalls sofort anhalten kann18.
Unter Zugrundelegung der vorstehenden Maßstäbe ist es den Beklagten nicht gelungen, den gegen den Ausparkenden streitenden Anscheinsbeweis zu erschüttern. Der Sachverständige Dipl.-Ing. M… hat in seiner mündlichen Erläuterung in dem Verhandlungstermin vom 05.04.2023 insoweit überzeugend ausgeführt, dass der Ausparkende den Unfall – auch bei einer zu seinen Gunsten unterstellten Geschwindigkeit des klägerischen Pkw von 20 km/h – hätte vermeiden können, wenn er während der gesamten Zeit des Ausparkvorganges über die Schulter nach hinten geschaut hätte. Anfangs – so hat der Sachverständige auch erläutert – sei der Blick in die Rückfahrkamera richtig gewesen, da er vor dem Losfahren mit einem Schulterblick ohnehin nichts hätte wahrnehmen können. Dies habe sich dann aber beim Rückwärtsfahren spiegelbildlich umgekehrt. Hätte er entsprechend verfahren und wäre hierdurch demgemäß noch langsamer gefahren, hätte er den von dem Zeugen R… geführten Pkw so rechtzeitig wahrnehmen können, dass er rechtzeitig hätte anhalten können. Wie oben ausgeführt, hätte ihm dies im Rahmen des Rechtsgedankens des § 9 Abs. 5 StVO oblegen. Er hätte sich demgemäß beim Rückwärtsfahren nicht lediglich auf die Rückfahrkamera beschränken dürfen, wie er es nach seinen eigenen Angaben – bis auf den nutzlosen Schulterblick beim Anschnallen und Losfahren – getan hat. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der Aussage der Zeugin L… und seinen eigenen Angaben im Rahmen seiner persönlichen Anhörung. Zwar hat er selbst angegeben, dass seine Ehefrau, die Zeugin L…, während des Rückwärtsfahrens, bei dem er selbst die Rückfahrkamera benutzt habe, nach rechts und nach links geschaut habe. Demgegenüber hat die Zeugin selbst bekundet, dass sie während des Rückwärtsfahrens ebenfalls nur in die Rückfahrkamera geschaut habe. Insofern können seine Angaben nicht überzeugen, abgesehen davon, dass sie den eben dargestellten Ausführungen des Sachverständigen widersprechen würden. Denn dann hätte die Zeugin L… das von dem Zeugen R… gefahrene Fahrzeug rechtzeitig sehen müssen, was sie nach ihren Angaben eben gerade nicht getan hat.
Ein weitergehendes Verschulden trifft den Ausparkenden nicht deshalb, weil er – wie der Fahrer des anderen PKWs geltend macht – die für die Situation falsche Einstellung der Rückfahrkamera, die das Fahrzeug lediglich von oben aus der „Vogelperspektive“ zeigt, benutzt hätte und quasi blind rückwärtsgefahren wäre. Zum einen ist die Wirkung der Rückfahrkamera – wie ausgeführt – begrenzt, sodass die Wahl der „falschen“ Perspektive sich nicht über den bereits festgestellten Pflichtenverstoß hinaus auf den Unfall ausgewirkt hätte. Zum anderen kann nicht die positive Feststellung getroffen werden, dass der Ausparkende tatsächlich die von vornherein ungeeignete Kameraeinstellung gewählt hätte. Dies folgt zur Überzeugung des Gerichts weder aus den Angaben des Ausparkenden noch aus der Aussage der Zeugin L…. Insoweit hat der Ausparkende zunächst angegeben, dass der Winkel seiner Rückfahrkamera eigentlich ziemlich weit gehe. Es gebe zwei Einstellungen. Wenn man die Normaleinstellung nehme, dann könne man zunächst über das Heck sehen und dann noch links und rechts 10 cm bis 20 cm zur Seite, es seien eher 20 cm, mit Zahlen sei es für ihn schwierig. Wenn er gefragt werde, wie weit er gerade nach hinten schauen könne, dann könne er sagen, dass er die Straße oder den Weg hinter ihm gut einsehen könne. Dann hat er weiter auf S. 8 des Protokolls bekundet, dass, wenn er nach der Einstellung seiner Rückfahrkamera gefragt werde, er sagen könne, dass sie auf normal eingestellt gewesen sei, das sei die Standardeinstellung. Das sei die, die er vorhin auch beschrieben habe. Die Zeugin L… hat diesbezüglich bekundet, dass sie wisse, dass man ein ganz kleines Bisschen zur Seite sehen könne. Wie genau, wisse sie aber nicht. Sie wisse, es gebe verschiedene Einstellungen für diese Kamera. Sie würde sagen, es öffne sich trichterförmig von ihrem Fahrzeug aus nach hinten. Aber wie viel das sei, das könne sie nicht sagen. Aus diesen Angaben ergibt sich nicht zweifelsfrei, dass es sich bei der Einstellung „Vogelperspektive“ um die Standard-Einstellung bei dem Beklagtenfahrzeug handelte und diese tatsächlich auch im Zeitpunkt des Unfalls eingeschaltet war. Zwar lässt sich den vorstehend wiedergegebenen Angaben entnehmen, dass bei der gewählten Einstellung nur geringfügig auch zu den Heckseiten geschaut werden kann. Dies kann sich aber auch lediglich auf die Perspektive bei Beginn der Rückwärtsfahrt bezogen haben. Wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen hierzu entnehmen lässt, öffnet sich dann der Winkel bei Losfahrt fortlaufend fächerförmig, der Winkel zur Seite vergrößert sich also. Auch die Zeugin L… hat insofern davon gesprochen, dass die (eingestellte) Kameraperspektive sich trichterförmig erweitere. Beides beschreibt jedoch nicht die Perspektive der „Draufsicht“, die starr ist. Gegen diese spricht auch die Schilderung des Ausparkenden, dass der Raum hinter ihm bei der zum Unfallzeitpunkt eingeschalteten und von ihm als Standardeinstellung bei seinem Fahrzeug beschriebenen Einstellungsperspektive gut nach hinten einsehbar ist. Dies ist bei der Draufsicht-Einstellung jedoch nicht der Fall, da hier nur jeweils 20 cm rund um das Fahrzeug geblickt werden kann. Schließlich hat der Sachverständige in seiner mündlichen Anhörung angegeben, dass die seinem Gutachten zugrunde gelegte Kameraeinstellung diejenige sei, die ihm von dem Ausparkenden als bei dem Unfall gewählte Einstellung genannt worden sei. Dies war jedoch die, die sich fächerförmig erweitert, und nicht die von vornherein für das Rückwärtsfahren ungeeignete.
Nach allem steht sich bei der gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmenden Abwägung auf beiden Seiten ein Sorgfaltsverstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO gegenüber. Bei der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass aus dem Rückwärtsfahren auch auf Parkplätzen eine besondere Gefährlichkeit für den rückwärtigen Verkehr folgt, da die Sicht des Rückwärtsfahrenden erheblich eingeschränkt ist. Während des Rückwärtsfahrens hat er daher sorgfältig darauf zu achten, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer von der Seite oder von hinten in den Gefahrenraum gelangt. Hieraus folgt, dass dem Sorgfaltsverstoß auf Seiten des Ausparkenden eine höhere Gewichtung beizumessen ist als dem des Zeugen R…. Bei der Kollision zwischen einem rückwärts aus einer Parklücke fahrenden Fahrzeug mit einem auf der Fahrspur für die Verhältnisse zu schnell fahrenden Fahrzeug überwiegt deshalb auch regelmäßig die Haftung des rückwärts Ausparkenden19. Im Streitfall ist eine Haftungsverteilung im Verhältnis 2/3 zu 1/3 zulasten der Beklagten angemessen20.
Landgericht Lübeck, Urteil vom 19. Juli 2023 – 9 O 113/21
- vgl. BGHZ 188, 78 = NJW 2011, 1962; BGH, NJW 1998, 302 = VersR 1998, 906; BGHZ 99, 182 = NJW 1987, 831). Nach § 249 Abs. 2 BGB kann der Geschädigte den zur Schadensbehebung erforderlichen Geldbetrag ersetzt verlangen, d.h. diejenigen Aufwendungen, die ein verständiger, wirtschaftlich denkender Mensch in der Lage des Geschädigten für zweckmäßig und erforderlich halten durfte ((vgl. BGH, NJW 2012, 50 = VersR 2011, 1582; BGH, NJW 2009, 58 = VersR 2008, 1706[↩]
- vgl. BGH, NJW 2012, 50 = VersR 2011, 1582; BGHZ 181, 242 = NJW 2009, 3022; BGHZ 171, 287 = NJW 2007, 1674; BGHZ 115, 375 = NJW 1992, 305[↩]
- vgl. BGH, NJW 2012, 50 = VersR 2011, 1582; BGHZ 171, 287 = NJW 2007, 1674; BGHZ 169, 263 = NJW 2007, 67; BGHZ 154, 395 = NJW 2003, 2085[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 27.03.1990, VI ZR 115/89 4; DAR 1990, 224; ebenso OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.02.2008, 1 U 181/07 27; DAR 2008, 344; OLG München, Beschluss vom 27.01.2006, 10 U 4904/05 21; NZV 2006, 261; OLG Düsseldorf, Urteil vom 06.02.2006, I-1 U 148/05[↩]
- BGH, Urteil vom 27.03.1990, VI ZR 115/89 4; DAR 1990, 224; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Urteil vom 30.06.2021, 1 U 90/19[↩]
- BGH, Beschluss vom 15.10.2019, VI ZR 377/18 8; NJW 2020, 393; siehe auch KG Berlin, Urteil vom 27.08.2015, 22 U 152/14 41; MDR 2015, 1128; OLG Celle, Beschluss vom 20.09.2018, 14 U 124/18 4; MDR 2019, 160; OLG Köln, Beschluss vom 27.12.2018, 16 U 118/18 6; Beschluss vom 01.10.2020, 12 U 74/20 10 f.; OLG Frankfurt, Urteil vom 24.11.2020, 8 U 45/20 33[↩]
- BGH a.a.O.[↩][↩][↩]
- Grüneberg/Sprau, BGB, 82. Aufl. § 823 Rn. 13[↩]
- OLG Düsseldorf, Urteil vom 02.04.2019, I-1 U 108/18, Rn. 36; LG Bremen, Urteil vom 28.01.2022, 4 S 148/20; vom BGH in der zitierten Entscheidung offengelassen[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; KG, Urteil vom 10.05.1999, 12 U 9612/98, NZV 1999, 512; NZV 2003, 291[↩]
- BGH, Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, NZV 1996, 231[↩]
- OLG Düsseldorf NJOZ 2017, 1041[↩]
- OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Düsseldorf, Urteil vom 07.03.2017, I-1 U 97/16; Urteil vom 15.09.2015, I-1 U 265/14; LG Nürnberg-Fürth NZV 1991, 357: Schrittgeschwindigkeit in Fahrgasse 5 km/h: Haftung noch 60:40 zulasten des Rückwärtsfahrenden bei grober Verletzung des Rückwärtsfahrenden; KG VerkMitt.1984, Nr. 36: im Parkhaus nicht schneller als 10 km/h; OLG Stuttgart, NJW-RR 1990, 670: Geschwindigkeit von 15 km/h bis 20 km/h offensichtlich zu hoch[↩]
- BGH, Urteil vom 15.12.2015, VI ZR 6/15[↩]
- BGH, Urteil vom 26.01.2016, VI ZR 179/1511; BGH, Urteil vom 11.10.2016, VI ZR 66/16, r+s 2017, 93[↩]
- LG Frankfurt, Urteil vom 04.01.2017, 2-16 S 110/16[↩]
- Scholten in: Freymann/WellnerPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 9 StVO Rn. 78 (Stand: 06.12.2022). Während des Zurückstoßens hat er sorgfältig darauf zu achten, dass kein anderer von der Seite oder von hinten in den Gefahrenraum gelangt; er muss so langsam fahren, dass er erforderlichenfalls sofort anhalten kann ((OLG Köln NZV 1994, 321; OLG Karlsruhe NZV 1988, 185[↩]
- Scholten in: Freymann/WellnerPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 9 StVO Rn 78 (Stand: 06.12.2022). Hilfsmittel wie Rückfahrkameras sind nützlich, eignen sich aber meistens nur dazu, das Parken zu erleichtern und die Stoßstange zu schonen. Einen großzügigen Überblick auf die rückseitige Fahrbahn, der für ein gefahrloses Rückwärtsfahren notwendig ist, liefern die Rückfahrkameras nicht. Daher sind diese Hilfsmittel als ergänzende Unterstützung heranzuziehen. Ein Verlass ausschließlich auf diese ist aber nicht ausreichend ((MünchKommStVR/Bender, 1. Aufl., § 9 StVO Rn. 57[↩]
- LG Osnabrück, Beschluss vom 29.11.2018 – 4 S 219/18; AG Stuttgart, Urteil vom 25.11.2005 – 8 C 2254/05; AG Osnabrück, Urteil vom 29.11.2007 – 43 C 327/07; LG Heidelberg, Urteil vom 20.02.2015 – 3 O 93/15[↩]
- vgl. LG Heidelberg, Urteil vom 20.02.2015 – 3 O 93/14; vgl. LG Nürnberg-Fürth, NZV 1991, 347: 60 % zu 40 % zulasten des rückwärts Ausparkenden; OLG Stuttgart, Urteil vom 19.01.1990 – 2 U 23/89, NJW-RR 1990, 670: 67 % zulasten des rückwärts aus der Parkbucht Herausfahrenden und 33 % für den von rechts auf der Fahrspur mit 15 km/h sich nähernden Pkw; LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 18.02.2021 – 2 O 4846/20, BeckRS 2021, 11828: 75 % zulasten des rückwärts Ausfahrenden, der mit 4 km/h ausparkt und 25 % für den Pkw, der mit ca. 16 km/h die Fahrgasse befährt; LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 28.03.1990 – 2 S 10597/89, NZV 1991, 357: 60 % zulasten des rückwärts Ausparkenden und 40 % für den mit mehr als 40 km/h vorbeifahrenden Pkw; OLG Osnabrück, Urteil vom 12.06.1973 – 1 S 142/73, VersR 1974, 895: 80 % zulasten des aus einer Parklücke in die Fahrgasse Einbiegenden und 20 % zulasten des die Fahrgasse befahrenden Pkw; LG Saarbrücken, r+s 1984, 97: 67 % zulasten des aus der Parkbucht Ausparkenden und 33 % zulasten des mindestens 20 km/h fahrenden Pkw; AG Bad Bramstedt, ZFS 1999, 55: 33 % zulasten des Fahrerss, der die Fahrspur befährt und einem aus einer Parkbox herausfahrenden Pkw (67 %). Entgegen der Auffassung des Fahrers des anderen PKWs führt die Anwendung des Anscheinsbeweises allein zulasten des Ausparkenden nicht notwendigerweise zu einer 100 %igen Haftung der Beklagten für den Schaden des Fahrers des anderen PKWs. Vielmehr können die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Fahrers des anderen PKWs und weitere sie erhöhende Umstände im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG Berücksichtigung finden ((BGH, Urteil vom 11.10.2016, VI ZR 66/16 12[↩]