Sittenwidrigkeit – und das Gesamtverhalten des Motorenherstellers

Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB ist in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln und das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen.

Sittenwidrigkeit – und das Gesamtverhalten des Motorenherstellers

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall erwarb der Gebrauchtwagenkäufer im April 2016 von einem privaten Verkäufer einen gebrauchten Skoda Octavia RS. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs EA189 ausgerüstet. Die Motorsteuerung war mit einer das Abgasrückführungsventil steuernden Software ausgestattet, die erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wurde, und in diesem Falle in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxidoptimierten Modus, schaltete. In diesem Modus fand eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstands schaltete der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist. Für die Erteilung der Typgenehmigung maßgeblich war der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand. Die Stickoxidgrenzwerte wurden nur im Abgasrückführungsmodus 1 eingehalten.

Vor Abschluss des Kaufvertrags, am 22.09.2015, hatte die beklagte Motorenherstellerin die Öffentlichkeit in einer AdhocMitteilung über vorgefundene Auffälligkeiten bei den Abgaswerten von Dieselfahrzeugen informiert. Im Oktober 2015 ordnete das Kraftfahrtbundesamt den Rückruf von Fahrzeugen mit dem Motor EA189 an und wies die Fahrzeughersteller an, Maßnahmen zu entwickeln und zu ergreifen, um die betroffenen Fahrzeuge in einen ordnungsgemäßen Zustand zu versetzen. Am 5.10.2015 teilte Skoda im Rahmen einer Presseerklärung mit, auch SkodaFahrzeuge mit Drei und VierzylinderDieselmotoren mit den Hubräumen 1, 2 I, 1, 5 – I und 2, 0 – I seien vom Dieselskandal betroffen. Dies betreffe mehrere SkodaModelle, u.a. auch den Octavia II. Die Motorherstellerin entwickelte in der Folgezeit ein SoftwareUpdate, das das KBA als geeignet zur Herstellung der Vorschriftsmäßigkeit auch des hier streitgegenständlichen Fahrzeugtyps ansah. Der Gebrauchtwagenkäufer ließ das SoftwareUpdate im Mai 2018 durchführen.

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Das erstinstanzlich hiermit befasste Landgericht Köln hat die Motorherstellerin zur Erstattung des Kaufpreises in Höhe von 17.900 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs und Zahlung einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 5.445, 90 € verurteilt1. Darüber hinaus hat es festgestellt, dass sich die Motorherstellerin mit der Rücknahme des Fahrzeugs im Annahmeverzug befindet. Auf die Berufung der Motorherstellerin hat das Oberlandesgericht Köln den von der Motorherstellerin zu leistenden Schadensersatz auf 12.454, 10 € abzüglich einer weiteren Nutzungsentschädigung in Höhe von 0, 06 € für jeden bis zur Rückgabe des Fahrzeugs über den Tachostand von 147.950 km hinaus gefahrenen Kilometer reduziert2. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen. Auf die Revision der Motorenherstellerin hat der Bundesgerichtshof das Berufungsurteil des OLG Köln aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen; das Oberlandesgericht Köln habe bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit rechtsfehlerhaft allein auf den Zeitpunkt der haftungsbegründenden Handlung abgestellt und das weitere Verhalten der Motorherstellerin bis zum Eintritt des angenommenen Schadens nicht in den Blick genommen:

Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der in einer Gesamtschau durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann3. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben4. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht5.

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Fallen die erste potentiell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens wie im Streitfall zeitlich auseinander, ist der Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Denn im Falle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB wird das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten begründet; der haftungsbegründende Tatbestand setzt die Zufügung eines Schadens zwingend voraus. Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein6. Hiervon ist insbesondere dann auszugehen, wenn wesentliche Elemente, die das bisherige Verhalten des Schädigers gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als besonders verwerflich erscheinen ließen, durch die Änderung seines Verhaltens derart relativiert werden, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf sein Gesamtverhalten gegenüber dem später betroffenen Geschädigten und im Hinblick auf den Schaden, der diesem entstanden ist, nicht gerechtfertigt ist7.

Diesen Grundsätzen genügt die angefochtene Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln nicht. Die Revision rügt zu Recht, dass das Oberlandesgericht Köln bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit allein auf den Zeitpunkt der von ihm angenommenen Schädigungshandlung des Inverkehrbringens des mit der Manipulationssoftware versehenen Motors abgestellt und der von der Motorherstellerin im Einzelnen aufgezeigten Änderung ihres Verhaltens ab 22.09.2015 in diesem Zusammenhang keine Bedeutung beigemessen hat. Aus seiner Sicht konsequent hat es den Vortrag der Motorherstellerin zu den von ihr getroffenen Maßnahmen zur Information der Öffentlichkeit auch über die Betroffenheit von Fahrzeugen der Konzernunternehmen bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit nicht in den Blick genommen und insoweit keine Feststellungen getroffen.

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Bundesgerichtshof, Urteil vom 13. April 2021 – VI ZR 276/20

  1. LG Köln, Urteil vom 07.05.2019 5 O 127/18[]
  2. OLG Köln, Urteil vom 13.02.2020 3 U 93/19[]
  3. st. Rspr., s. nur BGH, Urteile vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15[]
  4. BGH, Urteile vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; vom 28.06.2016 – VI ZR 536/15, NJW 2017, 250 Rn. 16 mwN[]
  5. BGH, Urteile vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; vom 07.05.2019 – VI ZR 512/17, NJW 2019, 2164 Rn. 8 mwN; BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, ZIP 2021, 297 Rn. 14[]
  6. BGH, Urteile vom 08.12.2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 12; vom 23.03.2021 – VI ZR 1180/20, zVb; BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20, zVb, Rn. 13, jeweils mwN[]
  7. vgl. BGH, Urteile vom 08.12.2020 – VI ZR 244/20, aaO Rn. 14, 17; vom 23.03.2021 – VI ZR 1180/20; BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20, Rn. 17 f.[]
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