Die falsche Einordnung einer Äußerung als Tatsache verkürzt den grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit.

Hierdurch wird auch bei der zivilrechtlichen Vorschriften Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bereits insofern verkannt, als es in verfassungsrechtlich nicht mehr tragbarer Weise das Vorliegen von unwahren Tatsachenbehauptungen bejahte.
Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte. Bei ihrer Entscheidung haben sie jedoch dem Einfluss der Grundrechte auf die Vorschriften des Zivilrechts Rechnung zu tragen [1]. Handelt es sich um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt [2]. Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, liegt erst vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen [3]. Handelt es sich um Eingriffe in die Meinungsfreiheit, kann dies allerdings schon bei unzutreffender Erfassung oder Würdigung einer Äußerung der Fall sein [4]. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind ferner verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik einstufen mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind [5].
Während Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit geprägt werden und der Überprüfung mit Mitteln des Beweises zugänglich sind [6], handelt es sich bei einer Meinung um eine Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt ist [7]. Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Tatsachenbehauptung oder als Werturteil anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtkontext der fraglichen Äußerung an [8]. Die Abgrenzung zwischen Werturteilen und Tatsachenbehauptungen kann im Einzelfall schwierig sein, vor allem deswegen, weil die beiden Äußerungsformen nicht selten miteinander verbunden werden und erst gemeinsam den Sinn einer Äußerung ausmachen. In solchen Fällen ist der Begriff der Meinung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes weit zu verstehen: Sofern eine Äußerung, in der Tatsachen und Meinungen sich vermengen, durch die Elemente der Stellungnahme des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sind, wird sie als Meinung von dem Grundrecht geschützt. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Trennung der wertenden und der tatsächlichen Gehalte, den Sinn der Äußerung aufhöbe oder verfälsche. Würde in einem solchen Fall das tatsächliche Element als ausschlaggebend angesehen, so könnte der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit wesentlich verkürzt werden [9]. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten dient [10], hat hierzu festgestellt, dass eine Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen schwierig ist, wenn es sich um Behauptungen über Beweggründe für das Verhalten eines Dritten handelt. Bei Schlussfolgerungen über Beweggründe oder etwaige Absichten Dritter handele es sich eher um Werturteile als um dem Beweis zugängliche Tatsachenbehauptungen, wobei es auch für eine einem Werturteil gleichkommende Erklärung eine ausreichende Tatsachengrundlage geben müsse [11].
Bereits die unzutreffende Einordnung der Äußerung als unwahre Tatsachenbehauptung verletzt die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn das Gericht davon ausgeht, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht betroffen ist und deshalb auf die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung [12] zwischen der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Kläger bei der Feststellung der Persönlichkeitsrechtsverletzung verzichtete.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. August 2016 – 1 BvR 2619/13
- vgl. BVerfGE 7, 198, 208; 85, 1, 13; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 7, 198, 208 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 18, 85, 93; 42, 143, 149; 85, 1, 13[↩]
- BVerfGE 85, 1, 13[↩]
- BVerfGE 85, 1, 14 m.w.N[↩]
- vgl. BVerfGE 90, 241, 247; 94, 1, 8[↩]
- vgl. BVerfGE 7, 198, 210; 61, 1, 8; 90, 241, 247; 124, 300, 320[↩]
- vgl. BVerfGE 93, 266, 295; BVerfG, Beschluss vom 24.07.2013 – 1 BvR 444/13 und 1 BvR 527/13, ZUM 2013, S. 793, 795[↩]
- vgl. BVerfGE 61, 1, 8 f.; 85, 1, 16; 90, 241, 248; BVerfG, Beschluss vom 24.07.2013 – 1 BvR 444/13 und 1 BvR 527/13, ZUM 2013, S. 793, 795[↩]
- vgl. BVerfG 120, 180, 200[↩]
- vgl. EGMR, Axel Springer AG v. Deutschland (Nr. 2), Urteil vom 10.07.2014 Nr. 48311/10, §§ 63–64[↩]
- vgl. BVerfGE 85, 1, 16; 99, 185, 196[↩]
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