Überlange Verfahrensdauer – und die nicht überprüfbare richterliche Verfahrensführung

Der Bundesgerichtshof schützt seine trödelnden Richterkollegen: Es ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs sachgerecht, die im Amtshaftungsprozess außerhalb des Anwendungsbereichs des § 839 Abs. 2 Satz 1 BGB entwickelten Grundsätze zu den Grenzen der Überprüfbarkeit der richterlichen Verfahrensführung auch auf das Entschädigungsverfahren nach §§ 198 ff GVG zu übertragen. Im Entschädigungsprozess kann deshalb die Verfahrensführung des Richters nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft werden.

Überlange Verfahrensdauer – und die nicht überprüfbare richterliche Verfahrensführung

Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benennt die Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind, nur beispielhaft („insbesondere“) und ohne abschließenden Charakter1.

Eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, ist nicht möglich und würde im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit bereits an der Vielgestaltigkeit der Verfahren und prozessualen Situationen scheitern. Mit der Entscheidung des Gesetzgebers, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), wurde bewusst von der Einführung bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen2. Der Verzicht auf allgemeingültige Zeitvorgaben schließt es regelmäßig aus, die Angemessenheit der Verfahrensdauer allein anhand statistisch ermittelter Durchschnittswerte oder ausschließlich durch Rückgriff auf sonstige Orientierungs- beziehungsweise Richtwerte zu ermitteln3.

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Ebenso wenig kommt ein Evidenzkriterium in dem Sinne in Betracht, dass eine bestimmte Verfahrensdauer schon für sich genommen ohne Einzelfallprüfung als unangemessen eingestuft werden müsste4. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang meint, dass im vorliegenden Fall eine Verfahrensdauer von knapp acht Jahren (bei Zusammenrechnung von selbständigem Beweisverfahren und Hauptsacheprozess) unzweifelhaft unangemessen sei, lässt sie außer Acht, dass auch bei einer mehrjährigen Verfahrensdauer sich deren Angemessenheit nach den Umständen des Einzelfalles richtet (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Es ist unabdingbar, die einzelfallbezogenen Gründe zu untersuchen, auf denen die Dauer des Verfahrens beruht.

Unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist die Verfahrensdauer dann, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art.20 Abs. 3 GG und Art.19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist5.

Bezugspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit ist als maßgeblicher Zeitraum die Gesamtverfahrensdauer, wie sie § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definiert6. Dies hat zur Konsequenz, dass Verzögerungen, die in einem Stadium des Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrensabschnitten eingetreten sind, nicht zwingend die Unangemessenheit der Verfahrensdauer bewirken. Es ist vielmehr im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung insbesondere zu überprüfen, ob Verzögerungen innerhalb einer späteren Phase des Verfahrens kompensiert wurden7. Maßgeblich ist, ob am Ende des Verfahrens die Angemessenheitsgrenze überschritten worden ist8. Es wäre daher zu kurz gegriffen, Verzögerungen in einzelnen Verfahrensabschnitten schlicht „aufzuaddieren“9. Stets muss allerdings in den Blick genommen werden, dass mit zunehmender Verfahrensdauer sich die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, verdichtet10.

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Durch die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs gemäß § 198 GVG an die Verletzung konventions- und verfassungsrechtlicher Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art.20 Abs. 3 GG und Art.19 Abs. 4 GG) wird deutlich gemacht, dass die durch die lange Verfahrensdauer verursachte Belastung einen gewissen Schweregrad erreichen muss. Es reicht nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung aus. Vielmehr muss die Verfahrensdauer eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt11.

Im Rahmen der gebotenen Gewichtung und Abwägung aller relevanten Einzelfallumstände ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die mit der Verfahrensführung des Gerichts im Zusammenhang stehen, bei Berücksichtigung des dem Gericht zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind. Dabei darf die Verfahrensführung nicht isoliert für sich betrachtet werden. Sie muss vielmehr zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien in Bezug gesetzt werden. Maßgebend ist, ob das Gericht gerade in Relation zu jenen Gesichtspunkten den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer in jedenfalls vertretbarer Weise gerecht geworden ist. Dabei kommt es darauf an, wie das Ausgangsgericht die Sach- und Rechtslage aus seiner Sicht ex ante einschätzen durfte12.

Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts muss der verfassungsrechtliche Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) berücksichtigt werden. Da die zügige Erledigung eines Rechtsstreits kein Selbstzweck ist und das Rechtsstaatsprinzip die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands durch das dazu berufene Gericht verlangt13, muss dem Gericht in jedem Fall eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen Rechnung trägt. Abgesehen von zwingenden gesetzlichen Vorgaben besteht ein Ermessen des verantwortlichen Richters hinsichtlich der Verfahrensgestaltung. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind. Erst wenn die Verfahrenslaufzeit in Abwägung mit den weiteren Kriterien im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG auch bei Berücksichtigung dieses Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen ist, liegt eine unangemessene Verfahrensdauer vor14.

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Insofern kann eine Parallele zu dem ebenfalls im Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes stehenden Amtshaftungsrecht gezogen werden. Im Amtshaftungsprozess wird die Verfahrensführung des Richters außerhalb des Anwendungsbereichs des § 839 Abs. 2 Satz 1 BGB nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft. Letztere darf nur verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist. Bei der insoweit anzustellenden Bewertung darf der Zeitfaktor zwar nicht ausgeblendet werden, zumal sich bei zunehmender Verfahrensdauer – wie bereits ausgeführt – die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, verdichtet; er ist aber nicht der allein entscheidende Maßstab15.

Es ist sachgerecht, diese Grundsätze zu den Grenzen der Überprüfbarkeit der richterlichen Verfahrensführung auf das Entschädigungsverfahren nach §§ 198 ff GVG zu übertragen, auch wenn die Annahme einer unangemessenen Verfahrensdauer im Sinne von § 198 Abs. 1 GVG keine vorwerfbare Säumnis des Gerichts voraussetzt und auf strukturellen Problemen innerhalb des Verantwortungsbereichs des Staates beruhen kann, auf die der Richter keinen Einfluss hat16. Soweit in einem Entschädigungsprozess nach §§ 198 ff GVG zu prüfen ist, ob die richterliche Verfahrensgestaltung zu entschädigungsrechtlich relevanten Verzögerungen geführt hat, ist kein Grund dafür ersichtlich, warum hier für die Beurteilung der richterlichen Verfahrensführung ein anderer Maßstab als im Amtshaftungsprozess gelten sollte17. Dementsprechend begründen eine vertretbare Rechtsauffassung des Gerichts oder eine nach der Zivilprozessordnung vertretbare Verfahrensleitung auch dann keinen Entschädigungsanspruch, wenn sie zu einer Verlängerung des Gerichtsverfahrens geführt haben. Ein Anspruch des Rechtssuchenden auf optimale Verfahrensförderung besteht nicht18.

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Bei der Überprüfung der einzelnen Verfahrensabschnitte ist – als Beurteilungsmaßstab – auf die Vertretbarkeit der Verfahrensgestaltung durch das Ausgangsgericht abzustellen.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13

  1. BT-Drucks. 17/3702 S. 18[]
  2. BGH, Urteil vom 14.11.2013 – III ZR 376/12, mwN[]
  3. vgl. BVerwG, Urteile vom 11.07.2013 – 5 C 23.12 D, aaO Rn. 28 ff;; und 5 C 27.12 D, BeckRS 2013, 56027 Rn.20 ff; siehe auch BSG, Urteile vom 21.02.2013, aaO jeweils Rn. 25 ff zu dem Sonderfall des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde nach dem SGG: statistische Zahlen als „hilfreicher Maßstab“[]
  4. vgl. Ott, aaO § 198 GVG Rn. 88; Stahnecker, aaO Rn. 76[]
  5. BGH, Urteil vom 14.11.2013, aaO Rn. 28; vgl. BVerwG, aaO 5 C 23.12 D Rn. 37;; und 5 C 27.12 D Rn. 29[]
  6. vgl. Ott, aaO § 198 GVG Rn. 78[]
  7. BGH, Urteil vom 14.11.2013, aaO Rn. 30; vgl. BVerwG, aaO 5 C 23.12 D Rn. 44; Ott, aaO § 198 GVG Rn. 79, 100 f[]
  8. Stahnecker, aaO Rn. 92[]
  9. Roderfeld in Marx/Roderfeld, Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und Ermittlungsverfahren, § 198 GVG Rn. 24[]
  10. vgl. nur BGH, Urteil vom 04.11.2010 – III ZR 32/10, BGHZ 187, 286 Rn. 11 mwN[]
  11. BGH, Urteil vom 14.11.2013, aaO Rn. 31; vgl. BVerfG, NVwZ 2013, 789, 791 f; BVerwG, aaO 5 C 23.12 D Rn. 39;; und 5 C 27.12 D Rn. 31; siehe auch BSG, Urteile vom 21.02.2013, aaO jeweils Rn. 26: „deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen“[]
  12. BGH, Urteil vom 14.11.2013, aaO Rn. 32; vgl. BVerwG, aaO 5 C 23.12 D Rn. 41; und 5 C 27.12 D Rn. 33[]
  13. BGH, Urteil vom 04.11.2010, aaO Rn. 14[]
  14. BGH, Urteil vom 14.11.2013, aaO Rn. 33; BSG, aaO jeweils Rn. 27; BVerwG, aaO 5 C 23.12 D Rn. 42; und 5 C 27.12 D Rn. 34[]
  15. BGH, Urteil vom 04.11.2010, aaO Rn.14[]
  16. BT-Drucks. 17/3802 S. 16, 19[]
  17. vgl. Roderfeld, aaO § 198 GVG Rn.20; Ott, aaO § 198 GVG Rn. 127 ff; Stahnecker, aaO Rn. 97[]
  18. BVerfG, Beschluss vom 14.12.2010 – 1 BvR 404/10[]
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