Überspannte Substantiierungsanforderungen – und der Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör in Dieselfällen

Aktuell hatte sich der Bundesgerichtshof mit einer Verletzung des Anspruchs der Partei auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG durch überspannte Substantiierungsanforderungen hinsichtlich des zur Darlegung einer Arglist des Verkäufers eines vom sogenannten Abgasskandal betroffenen Fahrzeugs gehaltenen Vortrags zur Prüfstandsbezogenheit der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung zu befassen.

Überspannte Substantiierungsanforderungen – und der Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör in Dieselfällen

Eine Partei ist nicht deshalb gezwungen, den behaupteten Sachverhalt in allen Einzelheiten wiederzugeben, weil der Gegner ihn bestreitet. Der Grundsatz, dass der Umfang der Darlegungslast sich nach der Einlassung des Gegners richtet, besagt nur, dass dann, wenn infolge der Einlassung des Gegners der Tatsachenvortrag unklar wird und nicht mehr den Schluss auf die Entstehung des geltend gemachten Rechts zulässt, er der Ergänzung bedarf1.

Dem zugrunde lag ein Kaufvertrag über einen gebrauchten, mit einem Dieselmotor des Typs OM 651 (Abgasnorm Euro 5) ausgestatteten Mercedes-Benz GLK 220 CDI 4M, den der klagende Käufer bei der beklagten Autoherstellerin im Dezember 2014 zum Preis von 36.480 € gekauft hatte und der ihr am 9.01.2015 übergeben worden war. Das Kraftfahrt-Bundesamt ordnete im Juni 2019 für den von der Autokäuferin erworbenen Fahrzeugtyp einen Rückruf an. Dieser war – nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts Naumburg – maßgeblich darauf gestützt, dass die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung beim Warmlauf des Motors unter normalen Betriebsbedingungen „oft nicht“ greife und die Einhaltung der Grenzwerte ohne das geregelte Kühlmittelthermostat nicht hinreichend sichergestellt sei. Die Autoherstellerin legte gegen den Rückruf Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Gleichwohl rüstete sie die Fahrzeuge (freiwillig) mit einem vom Kraftfahrt-Bundesamt freigegebenen Software-Update um. Mit anwaltlichem Schreiben vom 25.09.2019 erklärte die Autokäuferin gegenüber der Autoherstellerin den Rücktritt vom Kaufvertrag.

Die auf Rückzahlung des Kaufpreises (abzüglich einer Nutzungsentschädigung) nebst Zinsen, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs, auf Feststellung des Annahmeverzugs der Autoherstellerin sowie auf Erstattung und Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage hat vor dem Landgericht Magdeburg keinen Erfolg gehabt2. Die hiergegen eingelegte Berufung der Autokäuferin hat das Oberlandesgericht Naumburg zurückgewiesen3. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Autokäuferin hat der Bundesgerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht Naumburg zurückverwiesen:

Das Oberlandesgericht Naumburg hat den Anspruch der Autokäuferin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat deren für die Beurteilung des Streitfalls bedeutsames beweisbewehrtes Vorbringen zu einer im Fahrzeug verbauten prüfstandsbezogenen unzulässigen Abschalteinrichtung in Gestalt einer Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung gehörswidrig übergangen und es in der Folge versäumt, die von der Autokäuferin hierfür angebotenen Beweise zu erheben.

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Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen4. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung auch die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet5.

Dies gilt auch dann, wenn die Nichtberücksichtigung des betreffenden Sachvortrags sowie eines damit zusammenhängenden Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Eine solche nur scheinbar das Parteivorbringen würdigende Verfahrensweise stellt sich als Weigerung des Tatgerichts dar, in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise den Parteivortrag zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihm inhaltlich auseinanderzusetzen6.

Gemessen hieran ist dem Oberlandesgericht Naumburg eine Gehörsverletzung nach Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht rügt, ist das Oberlandesgericht Naumburg zu seiner Annahme, es gebe keine Anhaltspunkte für eine Prüfstandsbezogenheit der im Fahrzeug eingebauten – und von der Autokäuferin als unzulässige Abschalteinrichtung beanstandeten – Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, unter Berücksichtigung allein des Sachvortrags der Autoherstellerin und unter Übergehung des von der Autokäuferin gehaltenen und unter Beweis gestellten gegensätzlichen Vorbringens zur Wirkungsweise der vorbezeichneten Regelung gelangt. Das Oberlandesgericht Naumburg hätte die von der Autokäuferin zum Nachweis ihrer Behauptungen angebotenen Beweise erheben müssen, weil die Autokäuferin den diesbezüglich von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an ein substantiiertes Vorbringen gerecht geworden und dieses Vorbringen (auch) für den vom Oberlandesgericht Naumburg für maßgeblich erachteten Gesichtspunkt der fehlenden Arglist (§ 438 Abs. 3 Satz 1 BGB) beziehungsweise Sittenwidrigkeit (§ 826 BGB) des Handelns der Autoherstellerin entscheidungserheblich ist.

Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind7.

Das gilt insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den Vorgängen hat8. Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann. Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen9.

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Eine Partei ist nicht deshalb gezwungen, den behaupteten Sachverhalt in allen Einzelheiten wiederzugeben, weil der Gegner ihn bestreitet. Der Grundsatz, dass der Umfang der Darlegungslast sich nach der Einlassung des Gegners richtet, besagt nur, dass dann, wenn infolge der Einlassung des Gegners der Tatsachenvortrag unklar wird und nicht mehr den Schluss auf die Entstehung des geltend gemachten Rechts zulässt, er der Ergänzung bedarf10.

Sind diese Anforderungen erfüllt, ist das Gericht also in die Lage versetzt, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen11, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten12.

Nach diesem Maßstab hat die Autokäuferin ausreichend substantiiert zum Vorliegen von Anhaltspunkten für eine Prüfstandsbezogenheit der im Fahrzeug unstreitig eingebauten Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung vorgetragen. Das Oberlandesgericht Naumburg hätte diesen Vortrag nicht aufgrund der Erwägung, die Autoherstellerin sei ihm „substantiiert entgegengetreten“ und die Autokäuferin sei dem ihrerseits „nicht mehr erheblich entgegengetreten“, unberücksichtigt lassen und eine Prüfstandsbezogenheit nicht ohne Erhebung der von der Autokäuferin zum Nachweis ihrer diesbezüglichen Behauptungen angebotenen Beweise verneinen dürfen. Das entsprechende Vorgehen des Oberlandesgerichts Naumburg beruht – wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt – auf einer offenkundigen Überspannung der Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Autokäuferin.

Die Autokäuferin hat – wie die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend aufzeigt – unter Beweisantritt (Sachverständigengutachten, Zeugenbeweis, Einholung einer Auskunft des Kraftfahrt-Bundesamts) zur Wirkungsweise der im Fahrzeug eingebauten Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung vorgetragen, die Anlass für den unstreitig erfolgten Rückruf des von der Autokäuferin erworbenen Fahrzeugtyps durch das Kraftfahrt-Bundesamt gewesen war.

Danach sei das Fahrzeug so konzipiert, dass durch die Regelung des Thermostatventils die Warmlaufphase des Fahrzeugs verlängert werde. Hierdurch würden – fast ausschließlich auf dem Prüfstand – höhere Abgasrückführungs(AGR)-Raten, die volle Kühlung des rückgeführten Abgases und somit die Einhaltung der Stickoxidgrenzwerte erreicht. Befinde sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand, werde die Kühlflüssigkeit so stark gekühlt, dass aufgrund der verminderten Verbrennungstemperatur so wenig Stickoxide entstünden, dass das Fahrzeug die geltenden Grenzwerte einhalte. Ohne diese Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung halte das von der Autokäuferin erworbene Fahrzeug die Grenzwerte im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) hingegen nicht ein. Die von der Autoherstellerin eingebaute Steuerung erkenne die Randbedingungen des gesetzlichen Prüfverfahrens anhand der Vorbereitung des Fahrzeugs auf die Prüfung (Konditionierung). Die – von der Autokäuferin im Einzelnen beschriebenen – Bedingungen dieser Konditionierung kämen in der Natur praktisch nicht vor. Da die Kühlregelung außerhalb der Bedingungen des NEFZ abgeschaltet werde, sei in das Fahrzeug eine Einrichtung eingebaut, die bewirke, dass auf dem Prüfstand eine niedrigere Kühlmitteltemperatur und eine andere Abgasreinigungsstrategie, einschließlich höherer Abgasrückführungsraten, angewendet würden als im realen Straßenbetrieb. Die Verwendung der entsprechenden Software sei als echte Prüfstandserkennung und damit als sittenwidrig einzustufen. Es könne ausgeschlossen werden, dass die Autoherstellerin hiervon keine Kenntnis gehabt habe.

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Die Autokäuferin hat dabei auf den unstreitig wegen der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung erfolgten Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt, auf eine vom Kraftfahrt-Bundesamt in einem anderen gegen die Autoherstellerin geführten Rechtsstreit betreffend denselben Fahrzeugtyp erteilte Auskunft sowie auf einen den von ihr erworbenen Fahrzeugtyp betreffenden Medienbericht verwiesen. In der vorbezeichneten Auskunft hat das Kraftfahrt-Bundesamt unter anderem mitgeteilt, dass die von der Autoherstellerin angewandten Schaltkriterien der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung so gewählt seien, dass wesentliche Randbedingungen des gesetzlichen Prüfverfahrens erkannt werden könnten und die Sollwertabsenkung „mit Sicherheit“ bei der Prüfung im NEFZ aktiv sei, während sie schon bei normalen Betriebsbedingungen „oft abgeschaltet“ sei. Die Sollwertabsenkung sei eine Einrichtung, welche die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems beeinflusse.

Außerdem hat die Autokäuferin die Antwort der Bundesregierung13 zu einer Kleinen Anfrage von Bundestagsabgeordneten14 betreffend den Rückruf von ebenfalls durch die Autoherstellerin hergestellten Sprinter-Modellen wiedergegeben, dem dieselben Beanstandungen durch das Kraftfahrt-Bundesamt zugrunde gelegen hätten, und sich diese ausdrücklich zu eigen gemacht. In dieser Stellungnahme wurde die eingesetzte Abschalteinrichtung als unzulässig bewertet und ausgeführt, dass außerhalb der Typprüfbedingungen ein AGR-Kennfeld mit niedrigeren Abgasrückführungsraten genutzt werde als unter den Typprüfbedingungen.

Indem das Oberlandesgericht Naumburg diesen – unter Beweis gestellten – Sachvortrag der Autokäuferin ohne nähere Auseinandersetzung als unzureichende Behauptung „ersichtlich ins Blaue hinein“ gewertet und – weil „die Autokäuferin [dem] nicht mehr erheblich entgegengetreten“ sei – seiner Würdigung allein den Vortrag der Autoherstellerin zur Funktionsweise der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung zugrunde gelegt hat, hat es die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags offenkundig überspannt15.

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Denn das (umfangreiche) Vorbringen der Autokäuferin erweist sich als ausreichend substantiiert für die schlüssige Darlegung, dass die in dem erworbenen Fahrzeug zum Einsatz kommende Software die Prüfung des Fahrzeugs im Neuen Europäischen Fahrzyklus beziehungsweise die Vorbereitung hierauf erkenne und dass die auf diese Weise gesteuerte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, welche für die Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte erforderlich sei, nahezu ausschließlich auf dem Prüfstand eingreife und dort zu geringeren Stick- oxidemissionen führe als im realen Fahrbetrieb. Die Mitteilung weitergehender (technischer) Einzelheiten war von der Autokäuferin weder zu fordern noch gaben die Erklärungen der Autoherstellerin prozessual hierzu Veranlassung.

Der Umstand, dass die Autoherstellerin dem Vortrag der Autokäuferin – wie das Oberlandesgericht Naumburg gemeint hat – „substantiiert entgegengetreten“ sei, führte nicht dazu, dass die Autokäuferin nun ihrerseits einen auf Expertenwissen beruhenden, noch stärker detaillierten Sachvortrag hätte halten müssen, um dessen Beweisbedürftigkeit herbeizuführen. Soweit das Oberlandesgericht Naumburg hiervon jedoch offenkundig ausgegangen ist und ein – hinsichtlich der von ihm verlangten Anforderungen nicht näher ausgeführtes – „erhebliches Entgegentreten“ der Autokäuferin vermisst hat, hat es verkannt, dass die Autokäuferin mangels eigener Sachkunde und weiterer Erkenntnismöglichkeiten letztlich auf Vermutungen angewiesen ist und diese naturgemäß nur auf einige greifbare Gesichtspunkte stützen kann. Sie musste deshalb nicht im Einzelnen – und jedenfalls nicht noch weitergehend als bereits erfolgt – darlegen, wie die von ihr behauptete Abschalteinrichtung konkret funktioniert16. Von ihr war hier nur zu fordern, greifbare Umstände anzuführen, auf die sie den Verdacht gründet, ihr Fahrzeug weise eine prüfstandsbezogene unzulässige Abschalteinrichtung auf17. Diesen Anforderungen ist die Autokäuferin gerecht geworden.

Die von ihr aufgestellten tatsächlichen Behauptungen waren durch das Bestreiten seitens der Autoherstellerin und durch deren Ausführungen zur Funktionsweise der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung auch nicht ergänzungsbedürftig geworden. Sie erlaubten weiterhin den Schluss auf die von der Autokäuferin geltend gemachte Prüfstandsbezogenheit dieser Regelung. Da auch keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Autokäuferin ihren bisherigen Vortrag nun nicht mehr würde aufrechterhalten wollen – sie hat diesen vielmehr mit einem nachfolgenden Schriftsatz wiederholt und unter Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Autoherstellerin vertieft , war das Oberlandesgericht Naumburg gehalten, die von der Autokäuferin angebotenen Beweise zu erheben.

Die unterlaufene Gehörsverletzung ist – aus der maßgeblichen Sicht des Oberlandesgerichts Naumburg – entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht Naumburg, hätte es das Vorbringen der Autokäuferin in gebotener Weise zur Kenntnis genommen und die angebotenen Beweise zur Funktionsweise der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung erhoben, zur Annahme einer Arglist der Autoherstellerin im Sinne von § 438 Abs. 3 Satz 1 BGB und damit zur Geltung der regelmäßigen Verjährungsfrist (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB) gelangt wäre. Der noch vor Ablauf dieser Frist erklärte Rücktritt wäre in diesem Fall rechtzeitig gewesen (§ 218 Abs. 1 BGB). Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht Naumburg hinsichtlich der Beurteilung des Vorliegens einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung im Sinne des § 826 BGB zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.

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Zwar hat das Oberlandesgericht Naumburg das genannte Vorbringen der Autokäuferin in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens eines Sachmangels angesprochen. Es stünde jedoch auch seiner – die Verneinung von Ansprüchen der Autokäuferin tragenden – Annahme entgegen, der Autoherstellerin habe das für ein arglistiges Handeln beziehungsweise für eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung nötige Unrechtsbewusstsein gefehlt. Denn der Kern des Vorbringens der Autokäuferin bestand in der Behauptung einer Prüfstandsbezogenheit, bei der es sich um ein grundsätzlich geeignetes Kriterium handelt, um zwischen nur unzulässigen Abschalteinrichtungen und solchen, deren Implementierung die Kriterien einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung erfüllen können, zu unterscheiden. Die Tatsache, dass eine Manipulationssoftware ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, indiziert eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde18. Eine Software, die bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgaswerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, zielt unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde ab. Das Inverkehrbringen solcher Fahrzeuge durch den Fahrzeughersteller ist sittenwidrig und steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber gleich19.

Sollte die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung daher – wie von der Autokäuferin behauptet – nahezu ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktivieren, wäre dieser Umstand grundsätzlich geeignet, um auf eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörden und ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein der Autoherstellerin schließen zu lassen20.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10. Januar 2023 – VIII ZR 9/21

  1. im Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 12.06.2008 – V ZR 223/07 8; vom 02.04.2009 – V ZR 177/08, NJW-RR 2009, 1236 Rn. 12; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25.10.2011 – VIII ZR 125/11, NJW 2012, 382 Rn.20[]
  2. LG Magdeburg, Urteil vom 07.05.2020 – 10 O 1501/19[]
  3. OLG Naumburg, Urteil vom 02.12.2020 – 5 U 92/20[]
  4. st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; BGH, Beschlüsse vom 05.10.2022 – VIII ZR 88/21, WM 2022, 2242 Rn. 10; vom 13.12.2022 – VIII ZR 298/21, zur Veröffentlichung bestimmt, unter – III 1; jeweils mwN[]
  5. st. Rspr.; hierzu etwa BVerfG, Beschluss vom 25.03.2020 – 2 BvR 113/20 45; BGH, Beschlüsse vom 26.04.2022 – VIII ZR 19/21 12; vom 05.10.2022 – VIII ZR 88/21, aaO; jeweils mwN[]
  6. vgl. BGH, Beschlüsse vom 29.09.2021 – VIII ZR 226/19 12; vom 05.10.2022 – VIII ZR 88/21, aaO Rn. 11; vom 13.12.2022 – VIII ZR 298/21, aaO[]
  7. st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 29.01.2020 – VIII ZR 80/18, BGHZ 224, 302 Rn. 55; BGH, Beschlüsse vom 05.10.2022 – VIII ZR 88/21, WM 2022, 2242 Rn.20; vom 13.12.2022 – VIII ZR 298/21, unter – III 2 a; jeweils mwN[]
  8. BGH, Beschlüsse vom 28.01.2020 – VIII ZR 57/19, NJW 2020, 1740 Rn. 7; vom 22.06.2021 – VIII ZR 134/20, NJW-RR 2021, 1093 Rn. 33; vom 05.10.2022 – VIII ZR 88/21, aaO; jeweils mwN[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 13.07.2021 – VI ZR 128/20, WM 2021, 1609 Rn. 21 f.; Beschluss vom 28.01.2020 – VIII ZR 57/19, aaO Rn. 7 f.; jeweils mwN[]
  10. BGH, Beschlüsse vom 12.06.2008 – V ZR 223/07 8; vom 02.04.2009 – V ZR 177/08, NJW-RR 2009, 1236 Rn. 12; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25.10.2011 – VIII ZR 125/11, NJW 2012, 382 Rn.20; jeweils mwN[]
  11. vgl. BGH, Beschluss vom 26.04.2022 – VIII ZR 19/21 27 mwN[]
  12. st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 26.04.2022 – VIII ZR 19/21, aaO; vom 05.10.2022 – VIII ZR 88/21, aaO; jeweils mwN[]
  13. BT-Drs.19/15320, S. 2[]
  14. BT-Drs.19/14690, S. 2[]
  15. vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 13.07.2021 – VI ZR 128/20, WM 2021, 1609 Rn. 24 ff.; Beschlüsse vom 20.04.2022 – VII ZR 720/21 18, 22 f.; vom 04.05.2022 – VII ZR 733/2119, 23 f.; vom 21.09.2022 – VII ZR 767/21 15 f.[]
  16. vgl. hierzu BGH, Urteil vom 13.07.2021 – VI ZR 128/20, WM 2021, 1609 Rn. 26; Beschluss vom 28.01.2020 – VIII ZR 57/19, NJW 2020, 1740 Rn. 10[]
  17. vgl. BGH, Urteil vom 13.07.2021 – VI ZR 128/20, aaO; Beschlüsse vom 28.01.2020 – VIII ZR 57/19, aaO; vom 04.05.2022 – VII ZR 733/21, aaO Rn. 24[]
  18. vgl. BGH, Beschluss vom 04.05.2022 – VII ZR 733/21 18[]
  19. vgl. BGH, Urteile vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 25; vom 23.06.2022 – VII ZR 442/21 22[]
  20. vgl. BGH, Beschlüsse vom 04.05.2022 – VII ZR 733/21, aaO Rn. 26; vom 21.09.2022 – VII ZR 767/21 18; jeweils mwN[]
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