Unfallregulierung – und die Einbeziehung der Töchter in den Schutzbereich des Anwaltsvertrages

Mit der Frage der Einbeziehung von Dritten in den Schutzbereich eines Rechtsberatungsvertrages hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

Unfallregulierung – und die Einbeziehung der Töchter in den Schutzbereich des Anwaltsvertrages

Der Ausgangssachverhalt

In dem dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugrunde liegenden Fall nahmen zwei Schwestern einen Rechtsanwalt wegen fehlerhafter Rechtsberatung insbesondere auf die Zahlung von Schadensersatz in Anspruch und begehrten zudem die Feststellung seiner Pflicht zum Ersatz zukünftiger Schäden.

Ihre  Mutter wurde bei einem Verkehrsunfall im September 2006 schwer verletzt. Sie ist seitdem schwerstbehindert, auf einen Rollstuhl angewiesen und dauerhaft pflegebedürftig. Nach dem Unfall beauftragte sie zunächst eine Rechtsanwältin mit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Ende November 2006 bestätigte die Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers ihre volle Einstandspflicht dem Grunde nach. Im Dezember 2007 beauftragte die Mutter den hier beklagten Rechtsanwalt mit der Weiterverfolgung der unfallbedingten Schadensersatzansprüche gegenüber der Haftpflichtversicherung. Das Mandat endete im Mai 2016.

Die beiden hier klagenden, 1994 und 1997 geborene Töchter leben mit starken Schuldgefühlen ihrer pflegebedürftigen Mutter gegenüber. Die eine Tochter ist seit Oktober 2016 in psychotherapeutischer Behandlung; die andere Tochter hat sich einer solchen Behandlung von April 2013 bis September 2014 unterzogen. Die klagenden Töchter haben behauptet, ihre seit Anfang 2016 und seit 2012 bestehenden Leiden seien auf den Unfall, bei dem auch sie in dem Fahrzeug der Mutter gesessen hätten und leicht verletzt worden seien, zurückzuführen. Sie haben gemeint, der Rechtsanwalt hätte im Rahmen des Mandats mit ihrer Mutter auch über die ihnen zustehenden und nach ihrer Ansicht inzwischen verjährten Ansprüche gegenüber der Haftpflichtversicherung aufklären und beraten müssen.

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Die Entscheidungen der Instanzgerichte

Das erstinstanzlich hiermit befasste Landgericht Berlin hat die Klage der beiden Töchter abgewiesen1.

Auch die Berufung der Töchter ist vor dem Berliner Kammergericht ohne  Erfolg geblieben2:

Ansprüche der beiden Töchter wegen der Verletzung einer Pflicht aus dem Anwaltsvertrag zwischen ihrer Mutter und dem Rechtsanwalt bestünden nicht, weil dieser Vertrag keine Schutzwirkung zugunsten der beiden Töchter entfalte. Es fehle bereits an der sogenannten Leistungsnähe, weil die Töchter mit der Hauptleistung des Anwaltsvertrages nicht bestimmungsgemäß in Berührung kommen sollten. Gegenstand des Vertrages sei die Weiterverfolgung der unfallbedingten Schadensersatzansprüche der Mutter gegenüber der Haftpflichtversicherung gewesen. Entscheidend für die Leistungsnähe sei, dass Sinn und Zweck des Anwaltsvertrages und die erkennbaren Auswirkungen der vertragsgemäßen Leistung auf den Dritten dessen Einbeziehung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben erforderten. Dies sei nicht der Fall.

Der Bundesgerichtshof wies nun auch die vom Kammergericht zugelassene Revision zurück:

Kein Anwaltsvertrag mit den Töchtern

Das Zustandekommen eines Anwaltsvertrages zwischen den Töchtern und dem Rechtsanwalt ist nicht behauptet worden. Vielmehr haben die beiden Töchter geltend gemacht, ihnen stünden Ansprüche gegen den Rechtsanwalt aus dem mit ihrer Mutter geschlossenen Anwaltsvertrag zu.

Der Anwaltsvertrag als Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte

Den beiden Töchtern stehen Schadensersatzansprüche gegen den Rechtsanwalt unter dem Gesichtspunkt des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte nicht zu.

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Es fehlt bereits an einer Einbeziehung der Töchter in den Schutzbereich des zwischen ihrer Mutter und dem Rechtsanwalt geschlossenen Anwaltsvertrages. Eine ausdrückliche Regelung hierüber ist nicht behauptet worden. Eine Einbeziehung ergibt sich auch nicht aus einer ergänzenden Vertragsauslegung.

Ein Anwaltsvertrag hat auch ohne eine ausdrückliche Regelung Schutzwirkungen zu Gunsten eines Dritten, sofern sich dies aus einer maßgeblich durch das Prinzip von Treu und Glauben geprägten ergänzenden Auslegung des Beratervertrages ergibt. Hierzu müssen nach ständiger Rechtsprechung folgende Kriterien erfüllt sein: Der Dritte muss mit der Hauptleistung des Rechtsanwalts bestimmungsgemäß in Berührung kommen. Der Gläubiger muss ein schutzwürdiges Interesse an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Beratungsvertrages haben. Die Einbeziehung Dritter muss dem schutzpflichtigen Berater bekannt oder für ihn zumindest erkennbar sein. Ausgeschlossen ist ein zusätzlicher Drittschutz regelmäßig dann, wenn der Dritte wegen des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts bereits über einen inhaltsgleichen vertraglichen Anspruch verfügt3.

Erforderliches Näheverhältnis

Ob ein bestimmter Dritter im Einzelfall aufgrund dieser Kriterien in den Schutzbereich eines Vertrages einbezogen ist, ist zunächst eine Frage der Auslegung und insoweit vom Tatrichter zu entscheiden4. Das Revisionsgericht prüft insoweit nur, ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt sind oder wesentlicher Auslegungsstoff außer Acht gelassen wurde5.

Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs entspricht die im Berufungsurteil vorgenommene Auslegung des Kammergerichts diesen Maßstäben. Die Beurteilung, der zwischen der Mutter und dem Rechtsanwalt geschlossene Anwaltsvertrag entfalte keine Schutzwirkung zugunsten der beiden Töchter, weil es an einem ausreichenden Näheverhältnis fehle, ist für den Bundesgerichtshof nicht zu beanstanden:

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Wenn Dritte in die Schutzwirkungen eines Vertrages einbezogen werden sollen, müssen diese bestimmungsgemäß mit der Hauptleistung in Berührung kommen6. Das erforderliche Näheverhältnis liegt nur vor, wenn die Leistung des Rechtsanwalts bestimmte Rechtsgüter eines Dritten nach der objektiven Interessenlage im Einzelfall mit Rücksicht auf den Vertragszweck bestimmungsgemäß, typischerweise beeinträchtigen kann7. Entscheidend für eine Ersatzpflicht hinsichtlich von Vermögensschäden des Dritten ist, ob die vom Anwalt zu erbringende Leistung nach objektivem Empfängerhorizont auch dazu bestimmt ist, dem Dritten Schutz vor möglichen Vermögensschäden zu vermitteln. Der Auftraggeber muss ein entscheidendes Eigeninteresse an der Wahrung der Drittinteressen haben. Inwieweit dieses Näheverhältnis besteht, hängt entscheidend von Ausprägung und Inhalt des anwaltlichen Beratungsvertrages ab8.

Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass Gegenstand des zwischen der Mutter und dem Rechtsanwalt geschlossenen Anwaltsvertrages die Weiterverfolgung der unfallbedingten, zuvor von einer anderen Rechtsanwältin verfolgten, der Höhe nach zum Zeitpunkt der Mandatierung des Rechtsanwalts aber unklaren Schadensersatzansprüche der Mutter gegenüber der Haftpflichtversicherung, namentlich von Schmerzensgeld, Mehrbedarf, Verdienstausfall und Heilungskosten, war. Demgemäß ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass an den Rechtsverhältnissen, die Gegenstand des Anwaltsvertrages werden sollten und wurden, die Töchter persönlich nicht beteiligt und hierdurch in ihren Rechtspositionen allenfalls mittelbar betroffen waren. Ferner begegnet die Auffassung des Berufungsgerichts, die für die Annahme eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter erforderliche Leistungsnähe entstehe bei einem Anwaltsvertrag nicht bereits dann, wenn sich für den Rechtsanwalt Anhaltspunkte für eigene Ansprüche dem Mandanten nahestehender Dritter aus demselben Rechtsgrund und gegen denselben Anspruchsgegner ergeben, keinen Bedenken. Der Anwaltsvertrag diente der Verfolgung der Schadensersatzansprüche der Mutter gegen die Haftpflichtversicherung. Er machte nach seinem Sinn und Zweck und den erkennbaren Auswirkungen der vertragsgemäßen Leistung auf die Töchter unter Berücksichtigung von Treu und Glauben deren Einbeziehung in seinen Schutzbereich nicht erforderlich9.

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Das Kammergericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Berufungsurteils bei seiner Auslegung die besonders enge familienrechtliche Verbundenheit zwischen der Mutter als Gläubigerin des Anwaltsvertrages und den beiden Töchtern sowie den Umstand, dass die Töchter bei dem Unfall im Auto gesessen hätten und verletzt worden seien, nicht unberücksichtigt gelassen. Das Auslegungsergebnis des Berufungsgerichts ist auch nicht unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken als nicht mehr verständlich und daher auf sachfremden Erwägungen beruhend anzusehen10.

Verletzung von Warn- und Hinweispflichten

Eine Haftung wegen der Verletzung von Warn- und Hinweispflichten scheitert im Übrigen schon daran, dass die Gefährdung von Vermögensinteressen der beiden Töchter für den Rechtsanwalt nicht offenkundig war11.

Dem Rechtsanwalt musste sich nicht bereits bei Übernahme des Mandats aufdrängen, dass die Töchter wegen des familiären Alltags seit dem Unfallgeschehen im September 2006 sechs und zehn Jahre später psychisch erkranken würden und ihnen aus diesem Grund möglicherweise eigene Schadensersatzansprüche gegen die Haftpflichtversicherung zustehen könnten. Denn nach dem eigenen Vorbringen der Töchter verlief deren Entwicklung zunächst ohne offensichtliche äußere Probleme. Beide schlossen die weiterführende Schule ab und nahmen Studiengänge auf.

Soweit der Beklagte mit der Weiterverfolgung der unfallbedingten Schadensersatzansprüche der Mutter gegenüber der Haftpflichtversicherung beauftragt war, ist durch die beiden hier klagenden Töchter weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich, dass der Beklagte im Rahmen seiner Tätigkeit von dem Eintritt der psychischen Beschwerden in 2016 und 2012 Kenntnis erlangt hätte oder sich ihm eine solche Kenntnis hätte aufdrängen müssen. Vielmehr wurde er nach deren Vortrag insoweit erst im Oktober 2016 und damit nach Beendigung des Mandats informiert.

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Bundesgerichtshof, Urteil vom 9. Juli 2020 – IX ZR 289/19

  1. LG Berlin, Urteil vom 19.12.2017 – 50 O 129/17[]
  2. KG, Urteil vom 06.11.2019 – 29 U 4/18[]
  3. vgl. BGH, Urteil vom 21.07.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251 Rn. 16 f mwN[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 02.11.1983 – IVa ZR 20/82, NJW 1984, 355, 356[]
  5. BGH, Urteil vom 20.04.2004 – X ZR 250/02, BGHZ 159, 1, 6[]
  6. vgl. BGH, Urteil vom 24.04.2014 – III ZR 156/13, NJW 2014, 2345 Rn. 11 mwN[]
  7. vgl. BGH, Urteil vom 21.07.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251 Rn.20 mwN[]
  8. vgl. BGH, aaO[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 18.02.2014 – VI ZR 383/12, BGHZ 200, 188 Rn. 9[]
  10. vgl. BVerfG, NJW 1994, 2279 mwN[]
  11. vgl. BGH, Urteil vom 21.06.2018 – IX ZR 80/17, NJW 2018, 2476 Rn. 12 ff[]