Verfassungsbeschwerde in äußerungsrechtlichem Eilverfahren – und die Frage der Rechtswegerschöpfung

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann eine Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise unmittelbar gegen eine einstweilige Verfügung selbst erhoben werden, wenn zwar andere Rechtsverletzungen – auch ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör – fachgerichtlich angegriffen werden können, die Rügen der Verfassungsbeschwerde sich aber auf eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung selbst richten.

Verfassungsbeschwerde in äußerungsrechtlichem Eilverfahren – und die Frage der Rechtswegerschöpfung

Das Bundesverfassungsgericht hat dies wiederholt angenommen, wenn sich der Beschwerdeführer gegen ein seinem Vorbringen nach bewusstes und systematisches Übergehen seiner prozessualen Rechte wendet, das die Fachgerichte im Vertrauen daraufhin praktizierten, dass diese Rechtsverletzungen angesichts später eröffneter Verteidigungsmöglichkeiten folgenlos blieben und deshalb nicht geltend gemacht werden könnten. Diesbezüglich besteht ein fachgerichtlicher Rechtsbehelf nicht. Insbesondere gibt es keine prozessrechtliche Möglichkeit, etwa im Wege einer Feststellungsklage eine fachgerichtliche Kontrolle eines solchen Vorgehens zu erwirken1.

Beinhaltet die unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Waffengleichheit gerügte Rechtsverletzung demgegenüber ausschließlich einen fachgerichtlich angreifbaren Verfahrensfehler, verbleibt es im Hinblick auf § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bei der vorrangigen Zuständigkeit der Fachgerichte.

Wird eine im zentralen Schutzschriftenregister hinterlegte Schutzschrift im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht berücksichtigt, kann das Recht des Antragsgegners auf prozessuale Waffengleichheit allerdings in gleicher Weise verletzt werden, wie wenn sich das Gericht ohne (vollständige) Kenntnisnahme eines bereits vorliegenden Zurückweisungsschreibens gegen eine Beteiligung des Antragsgegners entscheidet2. Darüber hinaus kann das Recht auf prozessuale Waffengleichheit durch das Unterlassen oder – was dem gleichkommt – die unzulängliche Abfrage im Schutzschriftenregister auch insoweit verletzt sein, als das Gericht dem Antragsgegner hierdurch selbst jene Beteiligungsmöglichkeit nimmt, die ihm ganz unabhängig von der konkreten gerichtlichen Verfahrenshandhabung ermöglichen soll, vorbeugende Verteidigungsschriften zum Gegenstand des einstweiligen Verfügungsverfahrens zu machen3, und die sich von seiner außergerichtlichen Reaktion überdies regelmäßig unterscheidet. Denn während eine außergerichtliche Abmahnung nicht notwendig Anlass bietet, sich bereits zum gerichtlichen Verfahren zu äußern, wird sich der Antragsgegner hierzu in einer Schutzschrift regelmäßig veranlasst sehen4.

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Dass die unterbliebene Berücksichtigung einer hinterlegten Schutzschrift eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit beinhalten kann, bedeutet allerdings nicht, dass für den hiermit gerügten Verfahrensfehler ein fachgerichtlicher Rechtsbehelf von vornherein ausgeschlossen ist.

Die Außerachtlassung einer hinterlegten Schutzschrift verletzt das grundrechtsgleiche Recht des Antragsgegners auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Zwar stellt der Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG seinerseits eine besondere Ausprägung der prozessualen Waffengleichheit dar. Als prozessuales Urrecht5 gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen6. Besteht für eine Gehörsverletzung jedoch noch fachgerichtlicher Rechtsschutz, hat der Beschwerdeführer für die Zulässigkeit einer auf die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit gestützten Verfassungsbeschwerde vorzutragen, welche über den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG hinausgehende Rechtsverletzung er rügt, für die es an fachgerichtlichem Rechtsschutz fehlt. Stützt er hierzu seine Rüge – wie im vorliegenden Fall – auf eine bewusste und systematische Übergehung seiner prozessualen Rechte, bedarf es daher entsprechenden Vortrags, mit dem die Gehörsverletzung nicht als bloßer Verfahrensfehler, sondern nachvollziehbar als bewusste und systematische Übergehung seiner prozessualen Rechte dargetan ist.

Als hiernach ausnahmsweise erschöpft hat das Bundesverfassungsgericht den Rechtsweg etwa in Fällen betrachtet, in denen die gerügte Verfahrensweise bereits für sich genommen auf eine bewusste und systematische Übergehung prozessualer Rechte hindeutet7. Als erschöpft betrachtet hat das Bundesverfassungsgericht den Rechtsweg zudem in Fällen, in denen eine bewusste und systematische Übergehung prozessualer Rechte darüber hinaus anhand einer ständigen Entscheidungspraxis eines Gerichts dargetan ist8, bis hin zu Fällen, in denen die Entscheidungspraxis eines Spruchkörpers darauf hindeutet, dass er sich von Recht und Gesetz entfernt, indem er trotz mehrfachen Hinweises des Bundesverfassungsgerichts in fortgesetzter Missachtung der Bindungswirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) prozessuale Rechte übergeht und sein Handeln unter entsprechender Inkaufnahme verfahrensfehlerhafter Entscheidungen an seinen eigenen Maßstäben ausrichtet9.

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Ein einzelner Verfahrensfehler ist regelmäßig nicht geeignet, ein bewusstes und systematisches Übergehen prozessualer Rechte von Verfahrensbeteiligten darzutun. Es kann sich dabei ebenso um ein bloßes Versäumnis handeln, das mit weitergehenden Gründen der Verfahrenshandhabung nicht einhergeht. Das gilt auch dann, wenn ein Verfahrensfehler – wie im hier gegebenen Fall einer Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG – zugleich eine Verletzung von Verfassungsrecht beinhaltet. Denn auch das besondere rechtliche Gewicht eines Verfahrensfehlers besagt regelmäßig nichts über die Gründe der Verfahrenshandhabung, auf denen er beruht. Umstände, die eine weitergehende Beurteilung geböten, haben die Beschwerdeführer nicht dargetan. Insbesondere ist weder vorgetragen noch auch nur ersichtlich, dass der gerügte Verfahrensfehler statt eines im Einzelfall unterlaufenen Versäumnisses Ausdruck einer ständigen Entscheidungspraxis des Landgerichts wäre.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. August 2023 – 1 BvR 1612/23

  1. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 06.06.2017 – 1 BvQ 16/17 u.a., Rn. 10 f.; vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 10 und – 1 BvR 2421/17, Rn. 23; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 16; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 25; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 13; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 16; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 18; vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 29; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 16; Beschlüsse vom 27.10.2022 – 1 BvR 1846/22, Rn.20; vom 10.11.2022 – 1 BvR 1941/22, Rn. 16; vom 26.04.2023 – 1 BvR 718/23, Rn. 18; vom 24.05.2023 – 1 BvR 605/23, Rn. 22; vom 15.06.2023 – 1 BvR 1011/23, Rn. 22[]
  2. vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.05.2023 – 1 BvR 605/23, Rn. 36[]
  3. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 34; – 1 BvR 1783/17, Rn. 22[]
  4. vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.05.2023 – 1 BvR 605/23, Rn. 37; Beschluss vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 25[]
  5. vgl. BVerfGE 70, 180 <188>[]
  6. vgl. BVerfGE 9, 89 <96 f.> 57, 346 <359> BVerfG, Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 15; vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 28; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 16; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn.19; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 29; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 21; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn.20; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 26; vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 35; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn.20; Beschlüsse vom 27.10.2022 – 1 BvR 1846/22, Rn. 23; vom 10.11.2022 – 1 BvR 1941/22, Rn.19; vom 26.04.2023 – 1 BvR 718/23, Rn. 21; vom 24.05.2023 – 1 BvR 605/23, Rn. 25[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 17 ff.; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 21 ff.; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 16 ff.; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 35 ff.; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 27 ff.; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 25; vom 15.06.2023 – 1 BvR 1011/23, Rn. 31 ff.[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.06.2017 – 1 BvQ 16/17 u.a., Rn. 9; Beschlüsse vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 24 ff.; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 25 f.; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 31 ff.; vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 39 ff.; Beschlüsse vom 27.10.2022 -1 BvR 1846/22, Rn. 28; vom 10.11.2022 – 1 BvR 1941/22, Rn. 25 f.[]
  9. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26.04.2023 – 1 BvR 718/23, Rn. 27 f.; vom 24.05.2023 – 1 BvR 605/23, Rn. 31 ff.[]
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