Ein Verweisungsbeschluss wegen sachlicher Unzuständigkeit, der auf einer offenkundig aktenwidrigen Streitwerterfassung beruht, ist objektiv willkürlich und bindet daher nicht.

In dem hier vom Obersten Bayerischen Landesgericht entschiedenen Fall erwirkte die Klägerin den Beklagten einen Mahnbescheid über eine Darlehensrückzahlungsforderung von 6.550,57 € sowie Schadensersatz aus Verletzung des Kreditvertrags in Höhe von 602,50 € zuzüglich Verfahrenskosten, Zinsen und als Nebenforderungen geltend gemachte Inkassokosten von 659,34 €. Nach Einlegung eines Teil-Widerspruchs, gerichtet gegen die Schadensersatzforderung von 602,50 € nebst hierauf entfallende Zinsen, gegen die Verfahrenskosten sowie Nebenforderungen in Höhe von 254,34 €, erging am 10.06.2020 ein Vollstreckungsbescheid im Umfang des unwidersprochen gebliebenen Teils der Forderungen. Gegen den Vollstreckungsbescheid legte der Beklagte am 10.07.2020 Einspruch beim Mahngericht ein. Mit Schriftsatz vom 14.07.2020 beantragte die über den Einspruch nicht informierte Klägerin beim Mahngericht die Abgabe des Verfahrens an das im Mahnbescheid bezeichnete Landgericht München I. Im selben Schriftsatz stellte sie zum Landgericht München I den Antrag, das Verfahren an das Amtsgericht München zu verweisen, weil der nach Teil-Widerspruch noch streitige Verfahrensgegenstand in die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts falle. Zur Sache wurde beantragt, den Beklagten zur Zahlung von 254,34 € nebst Rechtshängigkeitszinsen zu verurteilen. Laut Begründung ist der Antrag auf den widersprochenen Teil der Nebenforderungen bezogen, ohne dass damit eine Klagerücknahme hinsichtlich der weiteren Positionen des Mahnbescheids verbunden sei, gegen die sich der Widerspruch richte. Die im Mahnbescheid als Schadensersatzforderung von 602,50 € und im Rahmen der Verfahrenskosten als Auslagen für die Inkassodienstleistung im Betrag von 25,00 € geltend gemachten Beträge würden im Kostenfestsetzungsverfahren als – erstattungsfähige – Kosten für die Vertretung im gerichtlichen Mahnverfahren nach Ziff. 3305, 3306 des Vergütungsverzeichnisses zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV RVG) geltend gemacht; sie seien als Gebühren des Mahnverfahrens nicht Gegenstand des Hauptsacheverfahrens. Die Darstellung im Mahnbescheid sei den Besonderheiten des Mahnverfahrens geschuldet. Das Mahngericht gab mit Verfügung vom 21.07.2020 das Verfahren an das Landgericht München I ab und gab als Abgabegrund an, dass der Antragsgegner gegen den Mahnbescheid Teilwiderspruch erhoben und gegen den Vollstreckungsbescheid Einspruch eingelegt habe.
Mit Verfügung vom 28.07.2020 erteilte das Landgericht an die Parteien den Hinweis, dass für die Durchführung des Verfahrens über den laut Anspruchsbegründung noch streitigen Betrag von nur noch 254,34 € das Amtsgericht sachlich zuständig sei. Der Beklagte persönlich nahm dahingehend Stellung, er sei mit einer Verfahrensübernahme durch das Amtsgericht einverstanden. An seinem Teil-Widerspruch halte er fest. Mit Beschluss vom 10.08.2020 hat sich das Landgericht München I für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht München verwiesen mit der Begründung, nach Teil-Widerspruch mache die Klägerin nur noch einen Betrag von 254,34 € geltend.
Das Amtsgericht München hat die Parteien mit Verfügung vom 14.08.2020 darauf hingewiesen, dass der Streitwert des Verfahrens wegen des vom Landgericht übersehenen Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid über der gesetzlichen Schwelle liege, die zur Zuständigkeit des Landgerichts führe. Der Verweisungsbeschluss binde wegen Willkür nicht. Die Klägerin hat daraufhin mitgeteilt, ihr sei der Einspruch bislang unbekannt gewesen. Die Verfahren wegen des Teil-Widerspruchs einerseits und des Einspruchs andererseits seien als getrennte Verfahren zu behandeln, da es an einem Verbindungsbeschluss fehle. Das Landgericht müsse über den Einspruch informiert und darauf hingewiesen werden, dass es zur Anspruchsbegründung aufzufordern habe. In die Zuständigkeit des Landgerichts falle sodann nur das Verfahren über den Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid. Das Amtsgericht München hat sich mit Beschluss vom 09.09.2020 ebenfalls für sachlich unzuständig erklärt und das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Gerichts dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt. Das Landgericht habe übersehen, dass das Verfahren auch wegen des gegen den Vollstreckungsbescheid eingelegten Einspruchs abgegeben worden sei. Als Teil-Klagerücknahme sei die nur auf den Teil-Widerspruch abstellende Anspruchsbegründung nicht aufzufassen, weil die Klägerin keine Kenntnis vom Einspruch gehabt habe. Da der Verweisungsbeschluss von falschen Tatsachen ausgehe, entbehre er jeder rechtlichen Grundlage und sei als willkürlich zu werten. Er sei für das Amtsgericht nicht bindend.
Das Bayerische Oberlandesgericht gab nun dem Amtsgericht München Recht und sprach die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts München I aus:
Die Voraussetzungen für die Bestimmung der (sachlichen) Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO [1] durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor. Das Landgericht München I hat sich durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 10.08.2020 für unzuständig erklärt, das Amtsgericht München durch die zuständigkeitsverneinende Entscheidung vom 09.09.2020. Die beiden Parteien mitgeteilte und jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO [2].
Zuständig für die Bestimmungsentscheidung ist gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO das Bayerische Oberste Landesgericht, weil das im Instanzenzug nächsthöhere gemeinschaftliche Gericht über dem Amtsgericht München und dem Landgericht München I in der hier vorliegenden bürgerlichen Rechtsstreitigkeit der Bundesgerichtshof ist; dass beide am Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte im Bezirk des Oberlandesgerichts München liegen, führt deshalb nicht zur Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für das Bestimmungsverfahren [3].
Sachlich zuständig für das streitige Verfahren ist das Landgericht München I.
Im Verfahren nach oder analog § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist auch der negative Kompetenzkonflikt zwischen Amtsgericht (§ 23 GVG) und Landgericht (§ 71 GVG) über die sachliche Zuständigkeit als Eingangsinstanz zu entscheiden [4].
Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts folgt aus § 71 Abs. 1, § 23 Nr. 1 GVG.
Mit der ausdrücklich auf den Teil-Widerspruch und den Einspruch abstellenden Abgabeverfügung des Mahngerichts sind dem Landgericht München I alle Positionen der im Mahnverfahren geltend gemachten Forderung(en) als Gegenstand des streitigen Verfahrens angefallen. Weil aufgrund der einheitlichen Abgabeverfügung zu keiner Zeit zwei getrennte streitige Verfahren angelegt worden sind, bedurfte es hierfür keiner Verfahrensverbindung durch Beschluss nach § 147 ZPO. Der Streitwert des Verfahrens liegt daher über 5.000,00 €.
Der Verweisungsbeschluss vom 10.08.2020 ändert an der Zuständigkeit des Landgerichts nichts, denn er ist als objektiv willkürlich zu werten und daher nicht geeignet, die Zuständigkeit des Amtsgerichts zu begründen.
Der Gesetzgeber hat in § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO die grundsätzliche Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen und deren Bindungswirkung angeordnet. Auch ein sachlich zu Unrecht oder verfahrensfehlerhaft ergangener Verweisungsbeschluss entzieht sich danach grundsätzlich der Nachprüfung. Dies hat der Senat im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist.
Einem Verweisungsbeschluss kommt allerdings dann keine Bindungswirkung zu, wenn dieser schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss [5].
Objektiv willkürlich ist ein Verweisungsbeschluss, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und offensichtlich unhaltbar ist [6]. Für die Bewertung als willkürlich genügt es zwar nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist, denn eine fehlerhafte Anwendung materiell- oder verfahrensrechtlicher Bestimmungen allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich [7]. Es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen.
Das kann etwa der Fall sein, wenn das verweisende Gericht eine seine Zuständigkeit begründende Norm nicht zur Kenntnis genommen oder sich ohne Weiteres darüber hinweggesetzt hat [8]. Gleichfalls als objektiv willkürlich ist es anzusehen, wenn der Verweisungsbeschluss auf einer evident einseitigen oder sonst offensichtlich falschen Erfassung des Sachverhalts [9] oder einem offensichtlichen Sachverhaltsirrtum [10], auf einer Verkennung des Klagebegehrens [11] oder auf einer evident falschen Erfassung des Zuständigkeitsstreitwerts beruht [12].
Hier hat das verweisende Gericht den Zuständigkeitsstreitwert des Verfahrens offensichtlich verkannt, weil es allein auf den Inhalt der aus Anlass des TeilWiderspruchs verfassten Anspruchsbegründung abgestellt hat, ohne den Inhalt der Zuleitungsverfügung des Mahngerichts zu beachten. Nach dem Akteninhalt liegt eine evidente Verkennung des Zuständigkeitsstreitwerts vor, die den hierauf beruhenden Verweisungsbeschluss als nicht mehr verständlich und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar, mithin objektiv willkürlich erscheinen lässt.
Ob das Übergehen des für den Zuständigkeitsstreitwert ausschlaggebenden Aktenbestandteils auf einem subjektiven Versehen beruht, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Denn für die Frage objektiver Willkür kommt es auf subjektive Momente nicht (entscheidend) an [13]. Auch ein etwaiger übereinstimmender Parteiwille [14] ist hier nicht geeignet, das Ergebnis dieser Beurteilung zu beeinflussen.
Bayerische Oberste Landesgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – – 101 AR 114/20
- vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Aufl.2020, § 36 Rn. 34 ff. m. w. N.[↩]
- st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 15.08.2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12; Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Aufl.2020, § 36 Rn. 35; jeweils m. w. N.[↩]
- vgl. BayObLG, Beschluss vom 24.09.2019, 1 AR 83/19; Toussaint in BeckOK, ZPO, 38. Ed. Stand: 1.09.2020, § 36 Rn. 45.2[↩]
- Toussaint in BeckOK, ZPO, § 36 Rn. 38.1[↩]
- st. Rspr.; vgl. BGH, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschluss vom 09.06.2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschluss vom 10.09.2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634 13 f.]; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16 ff.; jeweils m. w. N.[↩]
- vgl. BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9 m. w. N.[↩]
- vgl. BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11 m. w. N.[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 19.01.1993, X ARZ 845/92, NJW 1993, 1273 4]; BayObLG, Beschluss vom 18.04.2002, 1Z AR 36/02, NJW-RR 2002, 1295 7][↩]
- BGH, Beschluss vom 24.07.1996, X ARZ 683/96, NJW 1996, 3013 7]; KG, Beschluss vom 20.05.1998, 28 AR 34/98, MDR 1999, 56 18][↩]
- BAG, Beschluss vom 11.11.1996, 5 AS 12/96, NJW 1997, 1091 9]; BayObLG, Beschluss vom 15.09.2020, 1 AR 88/20 17; Beschluss vom 05.12.2002, 1Z AR 164/02 5; OLG Hamm, Beschluss vom 02.06.2015, 32 SA 21/15 12 und 15[↩]
- OLG Hamburg, Beschluss vom 19.03.2003, 13 AR 6/03, MDR 2003, 1072 8 ff.][↩]
- OLG Hamm, Beschluss vom 24.07.2012, 32 SA 62/12, MDR 2012, 1367 15]; KG, Beschluss vom 17.04.2008, 2 AR 19/08, VersR 2008, 1234 4 f.]; Beschluss vom 13.08.1998, 28 AR 63/98, MDR 1999,438 [juris 7]; zum Ganzen: Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 17[↩]
- vgl. Tombrink, NJW 2003, 2364 [2365] m. w N.[↩]
- vgl. hierzu: BGH, Beschluss vom 06.10.1993, XII ARZ 22/93, NJW-RR 1994, 126 8][↩]
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