Der Insolvenzgeldanspruch und das erneute Insolvenzereignis

Bei der Aufhebung des ersten Insolvenzverfahrens und sich anschließendem nicht überwachten Insolvenzplan und der nachfolgenden erneuten Insolvenz – ohne dass der Arbeitgeber zwischenzeitlich seine Zahlungsfähigkeit wiedererlangt hat – liegt ein einheitliches Insolvenzereignis vor, so dass ein betroffener Arbeitnehmer nicht erneut Insolvenzgeld beanspruchen kann.

Der Insolvenzgeldanspruch und das erneute Insolvenzereignis

Maßgebend ist § 183 Abs 1 S 1 SGB III in der Fassung, die die Vorschrift durch das Gesetz zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 10.12.20011 erhalten hat und die bis 31.03.2012 unverändert geblieben ist (bzw. ab 01.04.2012 § 165 SGB III2). Danach hat ein im Inland beschäftigter Arbeitnehmer, der bei Eintritt eines Insolvenzereignisses für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt hat, Anspruch auf Insg. Insolvenzereignis ist nach § 183 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB III u.a. die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers. Durch die erneute Insolvenzeröffnung ist jedoch kein (neues) Insolvenzereignis eingetreten. Denn die erste Insolvenzeröffnung entfaltet insoweit eine Sperrwirkung, die einem neuen Anspruch entgegensteht.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts tritt ein neues Insolvenzereignis nicht ein und kann folglich auch Ansprüche auf Insg nicht auslösen, solange die auf einem bestimmten Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers andauert3. Von andauernder Zahlungsunfähigkeit ist so lange auszugehen, wie der Schuldner wegen eines nicht nur vorübergehenden Mangels an Zahlungsmitteln nicht in der Lage ist, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen. Die Zahlungsunfähigkeit endet nicht schon dann, wenn der Schuldner wieder einzelnen Zahlungsverpflichtungen nachkommt4.

Unter Beachtung dieser in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze ist für das Bundessozialgericht im hier entschiedenen Fall die Auffassung, die auf dem im Jahre 2001 eingetretenen Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit habe in der Folgezeit fortbestanden, nicht zu beanstanden. Das LSG hat unmissverständlich festgestellt, dass die jedenfalls seit Juni 2001 insolvente Arbeitgeberin der Klägerin auch danach zu keinem Zeitpunkt die Zahlungsfähigkeit wiedererlangt hat. Es hat die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation der Arbeitgeberin insbesondere in der Zeit ab 2002 ausführlich dargestellt und im Ergebnis ausgeführt, dass die ursprüngliche Insolvenz aufgrund des fehlgeschlagenen Liquiditätskonzepts bis zur Eröffnung des zweiten Insolvenzverfahrens noch nicht beendet war und dass die Arbeitgeberin zu keinem Zeitpunkt ausreichende Liquidität erlangt hatte, um ihre fälligen Geldschulden im Allgemeinen dauerhaft erfüllen zu können. Das durchgehende Fehlen von Zahlungsfähigkeit wird auch dadurch offenkundig, dass die Arbeitgeberin von Anfang an nicht in der Lage war, die im Insolvenzplan vorgesehenen Zahlungen zu leisten. Diese den Senat gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG führen zwingend zur Sperrwirkung des Insolvenzereignisses aus dem Jahre 2001 mit der Folge, dass der Klägerin über das hierfür erhaltene Insg hinaus kein weiterer Anspruch zusteht.

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Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Feststellungen des LSG, wonach das erste Insolvenzverfahren nach Vorlage eines Insolvenzplans und Bestätigung des Plans durch das Insolvenzgericht zum 31.12.2001 aufgehoben wurde und eine Überwachung des Insolvenzplans durch den Insolvenzverwalter nicht vorgesehen war. Insoweit ist zunächst die Rechtsprechung des Senats zu beachten, wonach allein aus der Bestätigung eines Insolvenzplans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens noch nicht folgt, dass der zunächst eingetretene Insolvenzfall beseitigt wäre; denn die nur die Beteiligten des Insolvenzplanverfahrens betreffenden Wirkungen des Insolvenzplans nach Maßgabe des § 255 InsO werden hinfällig, wenn der Schuldner den Plan nicht erfüllt5. An dieser Rechtsprechung hält das Bundessozialgericht weiter fest.

Soweit das Bundessozialgericht darüber hinaus in der Vergangenheit für die Annahme fortdauernder Zahlungsunfähigkeit auf die andauernde Überwachung der Planerfüllung durch den Insolvenzverwalter abgestellt hat6, ist hieraus nicht etwa zu folgern, dass immer von der Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit auszugehen wäre, wenn der Insolvenzplan nicht überwacht wird. Bei andauernder Planüberwachung wird lediglich besonders deutlich, dass insbesondere im Hinblick auf die fortbestehenden Befugnisse des Insolvenzverwalters von einer Wiedererlangung der Fähigkeit, fällige Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen, von vornherein keine Rede sein kann. Der Senat hat deshalb ausdrücklich offengelassen, wie in Fällen fehlender Überwachung zu verfahren ist7. Diese Rechtsprechung entwickelt das Bundessozialgericht in dem Sinne weiter, dass auch dann ein einheitlicher Insolvenztatbestand vorliegen kann, wenn keine Überwachung der Planerfüllung stattfindet. Dies ist anhand der Einzelumstände zu prüfen und im Streitfall von den Tatsachengerichten festzustellen. Wird – wie im vorliegenden Fall durch das LSG – eindeutig festgestellt, dass der Schuldner die ihm nach dem Insolvenzplan aufgegebenen Zahlungen überhaupt nicht leisten konnte und auch sonst nach der Aufhebung des ersten Insolvenzverfahrens (mit Ablauf des 31.12.2001) bis zur Eröffnung des zweiten Insolvenzverfahrens (am 19.06.2003) zu keinem Zeitpunkt die Fähigkeit wieder eingetreten ist, die fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen, muss es bei der Sperrwirkung des Insolvenzereignisses bleiben.

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Ein Anspruch auf Insg kann auch nicht aus § 183 Abs 2 SGB III hergeleitet werden. Nach dieser Vorschrift kann ein Arbeitnehmer, der in Unkenntnis eines Insolvenzereignisses weitergearbeitet oder die Arbeit aufgenommen hat, Insg auch für die dem Tag der Kenntnisnahme vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses erhalten. Ein solcher Anspruch kommt unter den gegebenen Umständen nicht in Betracht. Denn der Klägerin war das maßgebliche Insolvenzereignis von 2001 bereits bekannt, da sie hierfür Insg erhalten hatte8.

Der Rechtsmeinung, § 183 SGB III sei „richtlinienkonform“ dahingehend auszulegen, dass bei fehlender Planüberwachung auch ein nachfolgendes zweites „formelles“ Insolvenzereignis für einen Anspruch auf Insg ausreiche, folgt das Bundessozialgericht nicht.

Die Ausführungen des LSG, der Umstand, dass von den Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der RL 80/987 idF der RL 2002/74 bis 8.10.2005 zu erlassen seien, stehe einer „sofortigen Anwendung“ dieser Richtlinie nicht im Wege, stehen bereits nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Denn hiernach kommt der RL 2002/74 im Fall ihrer Nichtumsetzung unmittelbare Wirkung nur im Zusammenhang mit nach dem 8.10.2005 eingetretenen Insolvenzfällen zu9. Im vorliegenden Fall war jedoch der zweite (unbeachtliche) Insolvenzfall bereits durch Beschluss des AG vom 19.06.2003 eingetreten.

Unabhängig davon verkennt die gegenteilige Auffassung bei seiner Auslegung der RL 80/987 idF der RL 2002/74 den Regelungsgehalt des Art 2 der RL, der insbesondere definiert, wann ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig „gilt“. Dem Text des Art 2 Abs 1 in der hier maßgebenden Fassung (jetzt: EGRL 2008/94 vom 22.10.2008) sind aber keine ausdrücklichen Bestimmungen zu der im vorliegenden Fall streitigen Frage zu entnehmen, ob einem Arbeitnehmer, der bereits aus Anlass der Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers eine Garantieleistung iS der RL erhalten hat, bei andauernder Zahlungsunfähigkeit durch die zuständige Garantieeinrichtung erneut eine Leistung zu gewähren ist. Soweit aufgrund der Änderungen durch die RL 2002/74 von einem „Gesamtverfahren“ sowie in Art 2 Abs 4 davon die Rede ist, dass die Mitgliedstaaten „nicht gehindert sind“, den Schutz der Arbeitnehmer auch „auf andere Situationen der Zahlungsunfähigkeit“ auszuweiten, erfordert dies jeweils den Erlass entsprechender Rechts- oder Verwaltungsvorschriften durch die Mitgliedstaaten, über die diese frei entscheiden können10.

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Nicht zu folgen vermag das Bundessozialgericht insbesondere der Auffassung, soweit es aus den Materialien zur Änderung der RL 80/987 durch die RL 2002/74 den Schluss zieht, jedes „formell definierte Insolvenzereignis“ iS der RL 80/987 sei geeignet, einen Anspruch gegen die Garantieeinrichtung zu begründen. Das LSG verweist hierzu vor allem auf den „Gemeinsamen Standpunkt“ des Rates vom 18.02.200211, in dessen Abschnitt 5 – wortgleich übernommen in Abschnitt 5 der Erwägungen der RL 2002/74 EG – ausgeführt ist, es sei angebracht, mit dem Begriff der Zahlungsunfähigkeit „auch andere Insolvenzverfahren als Liquidationsverfahren zu erfassen“, und die Mitgliedstaaten sollten „vorsehen können, dass für den Fall, dass das Vorliegen einer Insolvenz zu mehreren Insolvenzverfahren führt, die Situation so behandelt wird, als würde es sich um ein einziges Insolvenzverfahren handeln“. Aus Sicht des Senats ist nicht nachvollziehbar, inwiefern dies „im Umkehrschluss“ bedeuten soll, dass – mangels deutscher gesetzlicher Regelungen, die mehrere Insolvenzverfahren zu einem Gesamtverfahren zusammenfassen – im vorliegenden Fall die „formelle“ Eröffnung des zweiten Insolvenzverfahrens am 19.06.2003 einen neuen Anspruch auf Insg auslöst. Den Mitgliedstaaten räumen die Erwägungen die Möglichkeit ein, für die Zukunft auch andere Verfahren einzubeziehen und für diesen Fall einschränkend zu bestimmen, wann mehrere Verfahren als „einziges“ Verfahren zu behandeln sind. Hieraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass ohne ausdrückliche Neuregelung zwei aufeinanderfolgende Insolvenzereignisse nicht als einheitliches Insolvenzereignis behandelt werden dürften, wenn zwischenzeitlich weiterhin Zahlungsunfähigkeit bestanden hat.

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Für die Auffassung des LSG sprechen schließlich auch nicht die angeführten wirtschafts- und sozialpolitischen Erwägungen, die auch Äußerungen im Schrifttum zugrunde liegen12. Es mag zwar wünschenswert sein, in Sanierungsfällen über den Schutz des § 183 Abs 2 SGB III hinaus auch Arbeitnehmern, die schon einmal Insg erhalten haben, eine zusätzliche Absicherung zuzubilligen. Unabhängig davon, dass im vorliegenden Fall die Sanierungsbemühungen offenbar von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, kann derartigen Vorstellungen aber nur durch den Gesetzgeber entsprochen werden. Die mit der Einführung von Insolvenzplanverfahren verfolgten Zielsetzungen rechtfertigen es nicht, allein aufgrund der Bestätigung des Plans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens eine erneute Inanspruchnahme der Insg-Versicherung zu eröffnen; auch ist zu beachten, dass der Gesetzgeber mit den §§ 183 ff SGB III nicht die Ziele der InsO verfolgt13. Wie die aktuelle Entwicklung zeigt, hat sich der deutsche Gesetzgeber anlässlich der Überarbeitung und Neugestaltung des SGB III im Jahre 2011 insbesondere im Hinblick auf zu erwartende Mehrkosten für die umlagepflichtigen Arbeitgeber und mögliche Wettbewerbsverzerrungen gerade nicht dazu entschlossen, eine gesetzliche Regelung iS der Auffassung des LSG in das SGB III aufzunehmen14.

Nach alledem steht das einschlägige europäische Recht der Anwendung des § 183 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB III iS der Rechtsprechung des BSG nicht entgegen. Das Bundessozialgericht ist nicht gehalten, die oben behandelten Fragen zur Auslegung der RL 80/987 idF der RL 2002/74 dem EuGH gemäß Art 267 AEUV vorzulegen. Denn insoweit liegt bereits hinreichend aussagekräftige Rechtsprechung des EuGH vor. Geklärt ist insbesondere, dass der RL unmittelbare Wirkung nur im Zusammenhang mit nach dem 8.10.2005 eingetretenen Insolvenzfällen zukommt15. Nicht ersichtlich ist, dass im vorliegenden Fall durch die Anwendung des § 183 SGB III entsprechend der Auffassung des Senats der allgemeine Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung16 verletzt sein könnte. So ist insbesondere die Differenzierung zwischen Personen, die – wie die Klägerin – aus Anlass der Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers schon einmal eine Garantieleistung erhalten haben, und Personen, die erstmalig eine solche Leistung beanspruchen (vgl § 183 Abs 2 SGB III aF; jetzt § 165 Abs 3 SGB III), sachlich gerechtfertigt.

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Bundessozialgericht, Urteil vom 6. Dezember 2012 – B 11 AL 11/11 R

  1. BGBl I 3443[]
  2. idF des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011, BGBl I 2854[]
  3. vgl BSGE 90, 157, 158 = SozR 3-4300 § 183 Nr 3; BSGE 100, 282, 284 = SozR 4-4300 § 183 Nr 9, RdNr 11, jeweils mwN[]
  4. BSGE aaO[]
  5. BSGE 90, 157, 159 = SozR 3-4300 § 183 Nr 3[]
  6. BSGE 100, 282, 285 = SozR 4-4300 § 183 Nr 9, RdNr 14[]
  7. BSGE 90, 157, 161 = SozR 3-4300 § 183 Nr 3[]
  8. vgl BSGE 100, 282, 285 f = SozR 4-4300 § 183 Nr 9, RdNr 16; vgl auch zur Vorgängervorschrift des § 141b Abs 4 Arbeitsförderungsgesetz BSG SozR 3-4100 § 141e Nr 3[]
  9. EuGH, Urteil vom 17.01.2008 – C-246/06 – EuGHE I 2008, 105, 1057; Urteil vom 10.03.2011 – C-477/09, NJW 2011, 1791[]
  10. vgl Abschnitt 5 der Erwägungen der RL 2002/74 EG und auch Abschnitt 4 der Erwägungen bzw Art 2 Abs 4 der Neufassung der RL durch die RL 2008/94/EG vom 22.10.2008, ABl L 283 vom 28.10.2008, S 36 ff[]
  11. ABl.EG vom 22.05.2002, C 119 E/1[]
  12. Frank/Heinrich NZI 2011, 569, 571 ff und NZS 2011, 689, 691[]
  13. vgl dazu bereits BSGE 90, 157, 160 f = SozR 4-4300 § 183 Nr 3[]
  14. vgl Gegenäußerung der Bundesregierung zur – sich explizit auf die vorliegende Entscheidung des LSG beziehenden – Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks 17/6853 S 18, zu Nr 2, und S 1 ff, zu Art 1 Nr 7a und Art 2 Nr 18[]
  15. EuGH, Urteil vom 17.01.2008 – C-246/06, EuGHE I 2008, 105; Urteil vom 10.03.2011 – C-477/09, NJW 2011, 1791[]
  16. vgl EuGH, Urteil vom 12.12.2002 – C-442/00, SozR 3-6084 Art 2 Nr 3; Urteil vom 07.09.2006 – C-81/05, SozR 4-6084 Art 3 Nr 3; Urteil vom 17.01.2008 – C-246/06, EuGHE I 2008, 105[]
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