Firmenbestattung und Insolvenzgeld

Gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III1 haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie im Inland beschäftigt waren und für die einem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Insolvenzereignisse sind die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers (§ 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III), die Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse (§ 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III) und die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit in Deutschland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (§ 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III). Maßgeblich ist stets das erste Insolvenzereignis, das gegenüber etwaigen späteren eine Sperrwirkung entfaltet2.

Firmenbestattung und Insolvenzgeld

Der Kläger hatte für den Monate Februar 2008 nur anteiliges und für die Zeit danach kein Arbeitsentgelt mehr erhalten. Die Voraussetzungen für das Insolvenzereignis nach § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III waren am 30.04.2008 erfüllt. Über das Vermögen des Arbeitgebers war jedenfalls bis dahin weder ein Insolvenzverfahren eröffnet noch ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgelehnt worden, die Insolvenzereignisse nach § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB III somit nicht eingetreten. Vollständig eingestellt wurde die Betriebstätigkeit am 30.04.2008. Zu diesem Zeitpunkt waren vonseiten der Arbeitgeberin alle Arbeitsverträge beendet worden, und der frühere Alleininhaber hat bestätigt, dass es seither am Firmenstandort in der Gemeinde A M keine Geschäftstätigkeit gegeben habe. Dafür, dass der Erwerber der Stammanteile an einem anderen Standort wieder eine Geschäftstätigkeit aufgenommen haben könnte, ist umso weniger etwas ersichtlich, als es zu keiner Handelsregistereintragung bei dem für den beabsichtigten neuen Firmensitz in Berlin zuständigen Amtsgericht Charlottenburg gekommen ist.

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Im sonach maßgeblichen Zeitpunkt der Betriebseinstellung kam ein Insolvenzverfahren offensichtlich wegen Masselosigkeit nicht in Betracht3. „Offensichtlichkeit“ liegt bereits dann vor, wenn für einen unvoreingenommenen Betrachter alle äußeren Tatsachen (und insofern der Anschein) für Masseunzulänglichkeit sprechen4. So lag es hier. Der Kläger hatte – ebenso wie wenigstens weitere sechs Mitarbeiter (soviele haben neben dem Kläger Insolvenzgeld beantragt) – bis Ende April 2008 bereits für mehrere Monate kein beziehungsweise kein volles Arbeitsentgelt mehr erhalten. Die Arbeitsverhältnisse wurden beendet, obwohl die Arbeitgeberin als Rechtsperson formal weiterbestand und der bisherige Geschäftssitz wurde aufgegeben, ohne dass an einem anderen Ort die Geschäftstätigkeit wieder aufgenommen wurde. Angesichts dessen gab es nach dem äußeren Anschein keine Aussicht darauf, dass die Arbeitgeberin in der Lage sein würde, die ausstehenden Zahlungsverpflichtungen oder auch nur die Masseverpflichtungen in einem Insolvenzverfahren durch weitere wirtschaftliche Tätigkeit erfüllen zu können. Ob sie – wie der Kläger vorträgt – die Verweigerung der Entgeltzahlungen ausdrücklich mit ihrer Zahlungsunfähigkeit begründet hat, kann dahingestellt bleiben5. Der Umstand, dass der Arbeitgeberin – wie die Beklagte meint – möglicherweise gesellschaftsrechtliche Ansprüche gegen den früheren Alleininhaber und -geschäftsführer zustehen könnten, ist nicht geeignet, den Anschein nicht entstehen zu lassen. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass ein Anspruch so offensichtlich (mit Erfolg) zu verwirklichen gewesen wäre, dass dies auch für einen unbeteiligten Dritten ohne Weiteres zu erkennen gewesen wäre. Dagegen spricht bereits, dass solche Ansprüche von vornherein nur der Gesellschaft selbst gegenüber dem Geschäftsführer zustünden6. Von der Erwerberin war aber nicht zu erwarten, dass sie gesellschaftsrechtliche Ansprüche geltend machen würde. Sie hatte die Gesellschaftsanteile gekauft, obwohl ihr die geschäftliche Situation der GmbH bewusst sein musste. Ziel eines solchen Verhaltens ist im Regelfall – und damit dem äußeren Anschein nach – gerade nicht die Verbesserung der Haftungsmasse für die Gläubiger, sondern ein Erschweren der Durchsetzung von Forderungen (sogenannte „Firmenbestattung“).

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Januar 2013 – L 8 AL 12/12

  1. in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes und anderer Gesetze vom 02.12.2006, BGBl. I S. 2742[]
  2. allg. Meinung, s. BSG, Urteil vom 08.02.2001 – B 11 AL 27/00 R[]
  3. s. BSG, Urteil vom 04.03.1999 – B 11/10 AL 3/98 R, mit Bezug auf BSG SozR 4100 § 141b Nr. 11[]
  4. BSG, Urteil vom 04.03.1999 a.a.O.[]
  5. s. dazu auch BSG SozR 4100 § 141b Nr. 21[]
  6. s. etwa BGH, Urteil vom 28.04.2008 – II ZR 264/06 – BGHZ 176, 204; auch zur sogenannten „Durchgriffshaftung“[]