Insolvenzanfechtung der Gehaltszahlungen – und das Existenzminimum des Arbeitnehmers

Das Bundesarbeitsgericht hat erwogen, in Fällen kongruenter Deckung durch eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 129 ff. InsO das im Entgelt enthaltene Existenzminimum anfechtungsfrei zu stellen, die Frage letztendlich aber offengelassen:

Insolvenzanfechtung der Gehaltszahlungen – und das Existenzminimum des Arbeitnehmers

Das Insolvenzverfahren dient der gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger. Durch die Vorschriften der Insolvenzanfechtung sollen im Interesse der Wiederherstellung des Schuldnervermögens bestimmte, als ungerechtfertigt angesehene Vermögensverschiebungen rückgängig gemacht und der Insolvenzmasse zurückgewährt werden1. Darüber hinaus bewegen die Bestimmungen über die Insolvenzanfechtung Gläubiger tendenziell dazu, sich im Vorfeld von Insolvenzen bzw. im Geschäftsleben normzweckentsprechend zu verhalten, und helfen so dem Insolvenzrecht, seine Ordnungsfunktion zu erfüllen2. Um diese Ziele zu erreichen, beseitigt die Insolvenzordnung Insolvenzvorrechte soweit als möglich. Das Arbeitnehmerprivileg des § 59 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a KO, wonach Lohnforderungen aus den letzten sechs Monaten vor Verfahrenseröffnung Masseschulden waren, wurde nicht in die Insolvenzordnung übernommen. Dieses Privileg schloss eine Anfechtung weitgehend aus. Wurden Lohnforderungen für die letzten sechs Monate vor Konkurseröffnung vom Schuldner erfüllt, erhielten die Arbeitnehmer nur das, was ihnen auch vom Konkursverwalter aus der Masse zu zahlen gewesen wäre. Es fehlte daher regelmäßig an der nach § 30 KO erforderlichen Gläubigerbenachteiligung. Konkursanfechtungen von Lohnzahlungen spielten darum in der Praxis keine Rolle3.

Der Gesetzgeber hat bei der Abschaffung des Arbeitnehmerprivilegs möglicherweise das aus Art. 1 Abs. 1 iVm. Art.20 Abs. 1 GG folgende Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht hinreichend berücksichtigt. Das könnte es iVm. Art. 12 Abs. 1 GG bei kongruenten Deckungen, zumal bei Zahlungen im Rahmen eines Bargeschäfts oder in bargeschäftsähnlicher Lage, gebieten, das Existenzminimum vom Zugriff des Insolvenzverwalters freizustellen, so dass dieser Entgeltbestandteil nicht im Wege der Insolvenzanfechtung im Interesse aller Gläubiger zur Masse gezogen werden könnte.

Die Rechtsnatur des Rückgewähranspruchs steht diesen Bedenken des Bundesarbeitsgerichts nicht entgegen. Dabei handelt es sich zwar um einen originären gesetzlichen Anspruch des Insolvenzverwalters, der ihm eine Rückforderungsmöglichkeit eröffnet, die dem Schuldner verwehrt ist und die der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger dient. Für dieses gesetzliche Schuldverhältnis gilt allein das in sich geschlossene Regelungssystem der §§ 129 ff. InsO4. Auch dieses gesetzliche Schuldverhältnis steht aber nicht über der Verfassung, sondern muss sich an deren Vorgaben messen lassen.

Das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dem Grunde nach unverfügbar. Es bedarf zwar der Konkretisierung und Aktualisierung durch den Gesetzgeber, muss aber vom Staat eingelöst werden5. Dieses Grundrecht beinhaltet nicht nur einen Anspruch gegen den Staat auf materielle Leistungen an Hilfsbedürftige zur Sicherung des Existenzminimums. In Wechselwirkung mit dem durch Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG gewährleisteten Recht auf persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und beruflichen Bereich verbietet es dem Staat auch, auf den Kernbestand des selbst erzielten Einkommens des Grundrechtsträgers zuzugreifen. Deshalb ist das Einkommen des Steuerpflichtigen insoweit steuerfrei zu belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Der Staat darf dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zur Höhe des Existenzminimums nicht entziehen. Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer6.

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Der Gesetzgeber hat erkannt, dass das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach vorstehenden; vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen dem hoheitlich tätig werdenden Staat nicht nur Grenzen bei der Festsetzung der Einkommensteuer setzt. Auch im Gläubiger-Schuldner-Verhältnis darf der Staat seinen Zwangsapparat grundsätzlich nicht zur Verfügung stellen, um einem Einzelnen den Teil des Einkommens zu entziehen, der zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich ist7.

Im Bereich der zivilrechtlichen Zwangsvollstreckung hat der Gesetzgeber darum durch Pfändungsfreigrenzen die Sicherung des Existenzminimums8 vorgesehen.

In den von § 850c ZPO erfassten Fällen hat der Gesetzgeber einen angemessenen Selbstbehalt für den erwerbstätigen Schuldner berücksichtigt. Er hat dabei im Interesse der Praktikabilität die Pfändungsfreigrenzen pauschaliert und bundeseinheitlich geregelt und davon abgesehen, wie im Sozialhilferecht den Bedarf einzelfallbezogen zu ermitteln9.

Hat der Arbeitgeber vor Wirksamwerden der Lohnpfändung noch einen Vorschuss geleistet, besteht unabhängig von dem Meinungsstreit, wie in einem solchen Fall das pfändbare Einkommen zu berechnen ist10, Einigkeit darüber, dass dem Arbeitnehmer in jedem Fall das Existenzminimum verbleiben muss11.

Auch im Insolvenzrecht hat der Gesetzgeber grundsätzlich erkannt, dass das Existenzminimum nicht dem Zugriff der Gläubiger unterliegt. Gemäß § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO (in der Privatinsolvenz mit beantragter Restschuldbefreiung iVm. § 292 Abs. 1 Satz 3 InsO) gehören unpfändbare Forderungen nicht zur Insolvenzmasse, sie sind dem Insolvenzverwalter nicht nach § 148 Abs. 1, § 80 Abs. 1 InsO zur Verwaltung übertragen12. Nur der pfändbare Teil des Arbeitsentgelts fällt in die Insolvenzmasse und kommt daher in der Privatinsolvenz des Arbeitnehmers dessen Gläubigern zugute. So wird dem Schuldner der unantastbare Bereich persönlicher und lebensnotwendiger Güter bewahrt. Gleiches gilt für den selbständig tätigen Schuldner nach Freigabe der selbständigen Tätigkeit. Dieser muss gemäß § 35 Abs. 2 Satz 2 iVm. § 295 Abs. 2 InsO nur das fiktive pfändbare Einkommen an die Masse abführen, das er entsprechend seiner beruflichen Qualifikation in einem angemessenen Dienst- oder Arbeitsverhältnis erzielen würde13. Schließlich ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofs auch die Bestimmung des § 850b ZPO über bedingt pfändbare Bezüge im Insolvenzverfahren insgesamt anwendbar. Dies führt dazu, dass von den beschränkt pfändbaren Bezügen dem Schuldner so viel zu belassen ist, wie er zur Absicherung seines Existenzminimums benötigt14. Damit kommen die verfassungsrechtlichen Erwägungen, durch die die Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung motiviert sind, grundsätzlich auch im Insolvenzverfahren zur Geltung15.

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Die Anfechtungsbestimmungen in §§ 129 ff. InsO lassen jedoch den rückwirkenden Zugriff des Insolvenzverwalters auf das Existenzminimum für den von der Anfechtung erfassten Zeitraum uneingeschränkt zu. Dem Arbeitnehmer wird dadurch nachträglich der zur Absicherung des Existenzminimums erforderliche, durch eigene Arbeitsleistung verdiente Betrag wieder entzogen. Zur Erfüllung des auf das Existenzminimum entfallenden Teils der Rückzahlungspflicht muss er auf Rücklagen zurückgreifen, neue Schulden machen oder sein aktuelles Gehalt einsetzen, ohne dies rückwirkend durch Leistungen des Staates, die das Existenzminimum sichern sollen, ausreichend kompensieren zu können. Unter Umständen ist er gezwungen, Privatinsolvenz zu beantragen. Es erscheint zweifelhaft, ob diese Bestimmungen den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Existenzminimums bei kongruenten Deckungen hinreichend gewährleisten.

Muss der Arbeitnehmer Entgelt zurückzahlen, das vor Insolvenzeröffnung noch vom Schuldner gezahlt worden ist – wobei diese Verpflichtung bei der Vorsatzanfechtung bis zu zehn Jahre zurückreichen kann – wird er dieses Entgelt bei typisierender Betrachtung für seinen Lebensunterhalt verbraucht haben. Auf Entreicherung kann er sich jedoch nur bei unentgeltlichen Leistungen iSv. § 134 InsO berufen (§ 143 Abs. 2 InsO; vgl. die Konstellation in BGH 17.10.2013 – IX ZR 10/13 -).

Dem Arbeitnehmer kann allerdings das gezahlte Entgelt, mit dem er seinen Lebensunterhalt zunächst bestritten hat, als solches nicht rückwirkend entzogen werden. Der zur Masse zu ziehende Geldbetrag kann nur aus Rücklagen des Arbeitnehmers, an denen es bei typisierender Betrachtung jedenfalls dann regelmäßig fehlen wird, wenn die Insolvenz wie bei der Beklagten zum Arbeitsplatzverlust geführt hat, geleistet oder durch eine Mobiliarpfändung bzw. – was der Regelfall sein dürfte – durch eine Gehalts- oder Rentenpfändung beigetrieben werden. Bei Pfändungen ist durch das geltende Zwangsvollstreckungsrecht, insbesondere die §§ 850 ff. ZPO, gewährleistet, dass der Anfechtungsgegner das aktuelle Existenzminimum behält. Der Insolvenzverwalter kann nur auf den pfändbaren Betrag zugreifen. Reicht das Einkommen nicht aus, um den der Masse geschuldeten Betrag abzudecken, bleibt dem Anfechtungsgegner nur der Eigenantrag nach §§ 305 ff. InsO, um einer lebenslangen Schuldverpflichtung zu entgehen.

Es erscheint fraglich, ob für die verfassungsrechtliche Beurteilung danach zu differenzieren ist, ob der Zugriff des Staates bzw. der vom Staat durch seine Rechtsvorschriften vermittelte und von den staatlichen Gerichten sowie dem staatlichen Zwangsapparat durchzusetzende Zugriff der Gläubiger auf das Existenzminimum sofort oder nachgelagert erfolgt. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts könnte maßgeblich darauf abzustellen sein, dass der Arbeitnehmer für die Abrechnungszeiträume, die vom Rückgewähranspruch erfasst sind, in der Regel keine staatliche oder über eine Umlage der Arbeitgeber finanzierte Leistung erhält, die den Teil des zurückzuzahlenden Betrags ausgleicht, der das Existenzminimum abdeckte.

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Der Insolvenzgeldanspruch (§§ 165 ff. SGB III) soll zwar die vorleistungspflichtigen Arbeitnehmer vor dem Risiko des Lohnausfalls bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers schützen16. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, wegen dieses Anspruchs seien trotz Abschaffung des Arbeitnehmerprivilegs keine sozialen Härten zu erwarten. Ältere Rückstände seien selten von Bedeutung17. Dieser Anspruch stellt aber nur sicher, dass der Nettoentgeltanspruch für die letzten drei Monate der Beschäftigung abgesichert ist. Der Gesetzgeber hat dabei die in mehrfacher Hinsicht bestehende Schutzlücke bei der Ausgestaltung des Insolvenzgeldanspruchs nicht erkannt18.

Bereits die Annahme des Gesetzgebers, ältere, nicht vom Insolvenzgeld abgesicherte Rückstände seien die Ausnahme, trifft nicht uneingeschränkt zu. Das zeigen die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 06.10.201119, bei denen Zahlungen auf Rückstände von bis zu sechs Monaten angefochten waren, die Zeiträume von bis zu einem Jahr vor der Insolvenzeröffnung betrafen.

Der Gesetzgeber hat zudem nicht berücksichtigt, dass die Anspruchsdauer (§ 170 Abs. 4 SGB III) oft bereits vollständig durch das Insolvenzeröffnungsverfahren ausgeschöpft wird, wenn eine Insolvenzgeldvorfinanzierung erfolgt20.

Zahlt der Schuldner das Entgelt – wie im vorliegenden Fall – pünktlich, versagt der Schutz des Insolvenzgeldanspruchs vielfach selbst dann, wenn er nicht durch das Insolvenzeröffnungsverfahren verbraucht worden ist.

Der Arbeitnehmer kann in diesen Fällen zwar nachträglich Insolvenzgeld beantragen, wenn die Entgeltzahlung erfolgreich angefochten wird und er das Erlangte zurückgewährt. In diesem Fall lebt gemäß § 144 Abs. 1 InsO die (Netto-)Entgeltforderung rückwirkend auf den Zeitpunkt des Erlöschens als Insolvenzforderung wieder auf, so dass der Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenzgeld hat. Es wird der Zustand hergestellt, der ohne die angefochtene Rechtshandlung bestanden hätte21. § 166 Abs. 1 Nr. 2 SGB III, der den Insolvenzgeldanspruch ausschließt, wenn der Anspruch auf das Arbeitsentgelt durch eine angefochtene Rechtshandlung erworben worden ist, steht dem nicht entgegen, wenn – wie in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle und auch vorliegend – der Entgeltanspruch anfechtungsfrei erworben und nur anfechtbar erfüllt worden ist. Anfechtungsrechtlich ist zwischen Grund- und Erfüllungsgeschäft zu unterschieden. § 166 Abs. 1 Nr. 2 SGB III betrifft nur das Grundgeschäft und hat deshalb vor allem Bedeutung, wenn der Arbeitsvertrag kurz vor der Insolvenz noch geändert worden ist und dadurch höhere Entgeltansprüche entstanden sind22.

Stellt der Arbeitnehmer nachträglich Antrag auf Insolvenzgeld, ist jedoch die zweimonatige Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III, die unionsrechtskonform an das Insolvenzereignis anknüpft23, versäumt. Ob die zweimonatige Nachfrist des § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III dem Arbeitnehmer hilft, hängt vom Einzelfall ab24. Zwar wird im Regelfall die Ausschlussfrist unverschuldet versäumt sein25. Die Nachfrist beginnt aber mit dem Wegfall des Hindernisses für die Beantragung des Insolvenzgeldes zu laufen, dh. sobald der Arbeitnehmer bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt von dem Anspruch Kenntnis hätte haben können26. Für den Anlauf dieser Frist ist eine Vielzahl von Zeitpunkten denkbar, zB die Anfechtungserklärung durch den Insolvenzverwalter, eine die Anfechtung bejahende Entscheidung der Tatsacheninstanzen oder der Eintritt der Rechtskraft einer solchen Entscheidung. Deshalb wird die Bundesagentur für Arbeit dem Arbeitnehmer oft erfolgreich entgegenhalten können, die Nachfrist sei versäumt. Zudem besteht rechtstatsächlich ein erhebliches Risiko, dass auch die Nachfrist mangels deren Kenntnis versäumt wird.

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Arbeitslosengeld kann der Arbeitnehmer für Zeiträume, in denen er gearbeitet hat, nicht rückwirkend beantragen. Es wird erst ab dem Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung gezahlt27.

Auch Sozialhilfe ist erst ab dem Zeitpunkt zu zahlen, in dem der Sozialhilfeträger Kenntnis erlangt, dass die Voraussetzungen der Leistung vorliegen (§ 18 SGB XII). Ausreichend28 für den Anspruch auf Sozialhilfe ist damit, dass für den Träger überhaupt die Notwendigkeit der Hilfe erkennbar ist29. Zahlt der spätere Schuldner das Arbeitsentgelt pünktlich, scheidet damit eine rückwirkende Bewilligung von Sozialhilfe aus.

Anders als der Arbeitnehmer, der einen Vorschuss erhält, den er anschließend nicht verdient und in voller Höhe zurückzahlen muss, kann sich der Arbeitnehmer, dessen pünktlich gezahltes Entgelt – unter Umständen wie im vorliegenden Fall erst nach Jahren – vom Insolvenzverwalter zurückgefordert wird, auf die etwaige Rückforderung nicht einstellen. Zudem unterscheiden sich zurückzuzahlende Vorschüsse und Entgeltüberzahlungen von Insolvenzanfechtungen dadurch, dass das zurückzuzahlende Entgelt in den ersten beiden Fällen zwar gezahlt, tatsächlich aber nicht verdient worden und damit die Entgeltforderung nicht entstanden ist.

Der Arbeitnehmer hat jedenfalls dann, wenn der spätere Schuldner das Entgelt (weitgehend) pünktlich zahlt, keine adäquaten arbeits- oder sozialrechtlichen Handlungsmöglichkeiten, dem Risiko einer Insolvenzanfechtung vorzubeugen. Er kann letztlich nur weiterarbeiten und hoffen, dass es nicht zur Insolvenz kommt30.

Im Unterschied zu einer Vielzahl von Lieferanten und Geschäftspartnern kann der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung nicht im Vorhinein absichern.

Dem Arbeitnehmer steht bei pünktlichen Entgeltzahlungen weder ein Zurückbehaltungsrecht noch das Recht zur außerordentlichen Kündigung zu. Kündigt er dennoch fristlos, ist dies rechtswidrig, so dass er mit einer Sperrfrist rechnen muss31. Zudem nimmt er in Kauf; vom Arbeitgeber wegen Vertragsbruchs mit Schadenersatzansprüchen überzogen zu werden und ggf. eine Vertragsstrafe zahlen zu müssen. Er ist deshalb nicht nur vertraglich verpflichtet, sondern auch praktisch gezwungen, seine Arbeitsleistung weiterhin zu erbringen. Er kann damit dem Anfechtungsrisiko letztlich nicht ausweichen32.

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Bei pünktlichen Gehaltszahlungen kann der Arbeitnehmer auch keinen Insolvenzantrag stellen. Selbst bei Gehaltsrückständen ist ihm ein solcher Antrag in der Regel nicht zumutbar33.

Sind die Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden, ist dem Arbeitnehmer rechtlich nicht einmal der Verzicht auf das ihm vom Arbeitgeber gezahlte Entgelt möglich (§ 4 Abs. 4 Satz 1 TVG).

Demgegenüber kann der Arbeitnehmer, dem das verdiente Entgelt vor Insolvenzeröffnung nicht mehr gezahlt wird, sein Existenzminimum durch staatliche Sozialleistungen bzw. das Insolvenzgeld decken, ohne dass dieses ihm rückwirkend wieder entzogen werden kann. Liegen erhebliche Entgeltrückstände vor, kann er außerordentlich kündigen und ohne Sperrfrist Arbeitslosengeld beziehen. Zudem ist das rückständige Entgelt für die letzten drei Monate vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses über das Insolvenzgeld, das er im Regelfall unproblematisch fristgerecht beantragen kann, gesichert. Ist das Arbeitsverhältnis vor dem Insolvenzereignis bereits beendet, ist für die Berechnung des Drei-Monats-Zeitraums allein die Beendigung des Arbeitsverhältnisses maßgeblich34. Will der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis (noch) nicht beenden, kann er bei Bedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruch nehmen.

Diese Rechtslage könnte in ihrer Gesamtschau eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 129 ff. InsO erfordern, um dem Anspruch an den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Existenzminimums effektiv zu genügen. Um eine für die Praxis handhabbare Verfahrensweise zu ermöglichen, läge es nahe, auf die Tabelle nach § 850c ZPO zurückzugreifen, um das anfechtungsfreie Existenzminimum zu ermitteln. Der Gesetzgeber hat allerdings bei dieser Tabelle den pauschalierten monatlichen Bedarf von 1.705, 00 DM für einen erwerbstätigen Hilfeempfänger im Hinblick auf das von ihm für erforderlich gehaltene Abstandsgebot um rund 250, 00 DM erhöht35. Dieser im gleichen Umfang wie der zur Abdeckung des Existenzminimums vorgesehene Bedarf dynamisierte Erhöhungsbetrag36 wäre dann jeweils dem Tabellenbetrag zuzuschlagen.

Das Bundesarbeitsgericht konnte im vorliegenden Fall die Frage freilich noch offenlassen, da es die Voraussetzungen einer Insolvenzanfechtung im Ergebnis verneinte.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29. Januar 2014 – 6 AZR 345/12

  1. BAG 21.11.2013 – 6 AZR 159/12, Rn. 11; Bork in Bork Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts Kap. 1 Rn. 1[]
  2. Bork ZIP 2008, 1041[]
  3. Brinkmann ZZP 2012, 197[]
  4. vgl. BAG 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, Rn.20 f.; BGH 24.03.2011 – IX ZB 36/09, Rn. 6, 12[]
  5. BVerfG 9.02.2010 – 1 BvL 1/09 ua., Rn. 133, BVerfGE 125, 175[]
  6. BVerfG 20.08.1997 – 1 BvR 1300/89; 25.09.1992 – 2 BvL 5/91 ua., zu C I der Gründe, BVerfGE 87, 153; 29.05.1990 – 1 BvL 20/84 ua., zu C III 2 der Gründe, BVerfGE 82, 60[]
  7. vgl. BT-Drs. 14/6812 S. 8[]
  8. vgl. BAG 21.02.2013 – 6 AZR 553/11, Rn. 38[]
  9. BT-Drs. 14/6812 S. 8 f.; zum Zweck der §§ 850 ff. ZPO ausführlich MünchKomm-ZPO/Smid 4. Aufl. § 850 Rn. 1; vgl. auch Arnold BB 1978, 1314, 1315 f.[]
  10. Nachweise bei Stöber Forderungspfändung 15. Aufl. Rn. 1266; MünchKomm-BGB/Müller-Glöge 6. Aufl. § 614 Rn.19[]
  11. Stöber aaO mwN; ders. Anm. AP ZPO § 850 Nr. 11[]
  12. BAG 28.08.2013 – 10 AZR 323/12, Rn. 11[]
  13. BGH 13.06.2013 – IX ZB 38/10, Rn. 11 ff.[]
  14. BGH 3.12 2009 – IX ZR 189/08[]
  15. vgl. BAG 20.06.2013 – 6 AZR 789/11, Rn. 18 f.; vgl. für § 850b ZPO BGH 3.12 2009 – IX ZR 189/08, Rn. 13[]
  16. Küttner/Voelzke Personalbuch 2013 Insolvenz des Arbeitgebers Rn. 42[]
  17. BR-Drs. 1/92 S. 90[]
  18. vgl. dazu Brinkmann ZZP 2012, 197, 215[]
  19. 6 AZR 585/10, – 6 AZR 731/10, – 6 AZR 732/10[]
  20. vgl. Brinkmann ZZP 2012, 197, 215[]
  21. Cranshaw ZInsO 2009, 257, 262 f.; Kreft in HK-InsO 6. Aufl. § 144 Rn. 3[]
  22. Voelzke in Hauck/Noftz SGB III 2. Aufl. Stand Mai 2012 K § 166 Rn. 25; vgl. zur Vorgängervorschrift § 184 SGB III Cranshaw ZInsO 2009, 257, 261 f.; Kreft aaO § 129 Rn. 13; aA wohl – ohne auf den Unterschied zwischen Grund- und Erfüllungsgeschäft einzugehen – Berscheid jurisPR-InsR 20/2008 Anm. 3 unter D[]
  23. vgl. BSG 17.10.2007 – B 11a AL 75/07 B – unter Bezug auf EuGH 18.09.2003 – C-125/01 – [Pflücke] Slg. 2003, I-9375[]
  24. vgl. BSG 17.10.2007 – B 11a AL 75/07 B, Rn. 9[]
  25. vgl. Cranshaw ZInsO 2009, 257, 264[]
  26. vgl. Radüge in Hauck/Noftz SGB III 2. Aufl. Stand Mai 2012 K § 324 Rn. 31[]
  27. BAG 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, Rn. 72[]
  28. aber auch erforderlich[]
  29. BSG 2.02.2012 – B 8 SO 5/10 R, Rn. 18[]
  30. Bork ZIP 2007, 2337, 2340; Pieper ZInsO 2009, 1425, 1437[]
  31. vgl. Pieper ZInsO 2009, 1425, 1428, 1437[]
  32. vgl. Lütcke ZInsO 2013, 1984, 1989[]
  33. Bork ZIP 2007, 2337, 2340 spricht vom „schwächsten Glied in der Gläubigerkette“; vgl. auch Brinkmann ZZP 2012, 197, 212; Pieper ZInsO 2009, 1425, 1437[]
  34. Küttner/Voelzke Personalbuch 2013 Insolvenz des Arbeitgebers Rn. 52[]
  35. BT-Drs. 14/6812 S. 9[]
  36. BT-Drs. 14/6812 S. 11 f.[]
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