Überholen darf nur, wer eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vollständig ausschließen kann. Das gilt auch beim Überholen einer Kolonne, etwa hinter einem Traktor. Wenn’s beim Kolonnenspringen zum Unfall kommt, zahlen in der Regel beide Unfallbeteiligte.

In einem Fall, den das Landgericht Lübeck entscheiden musste, hatte sich auf einer Landstraße im Kreis Stormarn hinter einem Traktor eine Kolonne gebildet. Ganz am Ende der Kolonne fuhr der klagende Autofahrer und vor ihm noch zwei weitere Autos. Nachdem ein Überholverbot endete, begann er, die Kolonne von hinten links zu überholen. Als er schon auf der Höhe des Wagens direkt hinter dem Traktor war, scherte dessen Fahrerin ebenfalls zum Überholen aus. Der Überholer versuchte noch auszuweichen und schrammte letztlich aufgrund des Manövers am Traktor entlang. Es entstanden erhebliche Schäden.
Das Landgericht legte seiner Entscheidung zugrunde, dass die ausscherende Fahrerin nach § 7 Absatz 5 StVO nur hätte Überholen dürften, wenn die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen gewesen wäre. Die Fahrerin habe dies aber nicht beweisen können, denn bereits der Umstand, dass es zu dem Unfall gekommen sei, spräche dafür, dass sie gerade nicht gut genug aufgepasst habe. Der Überholer hingegen habe die Kolonne grundsätzlich überholen dürfen. Zwar gelte die Regel, dass bei „unklarer Verkehrslage“ nicht überholt werden dürfe. Von einer unklaren Verkehrslage sei aber nur auszugehen, wenn sich für den nachfolgenden Fahrer nicht sicher beurteilen lasse, was der Vorausfahrende jetzt gleich tun werde. Hier sei jedoch nichts unklar gewesen. Nicht jede Kolonne sei per se eine „unklare Verkehrslage“. Und auch sonst seien im Prozess keine Umstände feststellbar gewesen, die gegen einen Überholversuch gesprochen hätten. Trotzdem müsse sich der Überholer an dem Schaden beteiligen. Der Unfall sei auch für ihn nicht völlig unvermeidbar gewesen. Auch wenn das Überholen einer Kolonne nicht verboten sei, hätte ein „Idealfahrer“ dies angesichts der damit verbundenen Selbst- und Fremdgefährdung unterlassen1. Die generelle Haftung eines Autofahrers (die sog. „Betriebsgefahr“) entfalle daher nicht völlig. Im Ergebnis musste die ausscherende Fahrerin 80 % und der Überholer 20 % des Schadens tragen.
Dem Überholer steht ein Anspruch auf Schadensersatz gemäß §§ 7 Abs.1, 2, 17, 18 StVG, § 823 BGB i.V.m. § 115 VVG zu.
Der Verkehrsunfall ereignete sich bei Betrieb des Fahrerinfahrzeugs.
Das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ ist weit auszulegen. Hier ist ausreichend, wenn sich eine von dem Fahrzeug ausgehende Gefahr mit ausgewirkt hat und das Schadengeschehen in dieser Weise durch das Fahrzeug mitgeprägt worden ist. Das wäre nicht anzunehmen, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos halten will. Für eine Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es darauf an, ob sich der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang des Fahrzeugs abgespielt hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich der Führer des im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs verkehrswidrig verhalten hat. Die bloße Anwesenheit genügt demgegenüber für eine Haftung nicht. Insbesondere bei einem Unfall ohne Berührung, wie er vorliegend gegeben ist, ist Voraussetzung für die Zurechnung, dass über die bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten des Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat2.
Die Fahrerin selbst gab an, dass sie beabsichtigte den Trecker zu überholen und dafür etwas nach links, maximal bis zur Mittellinie, gefahren zu sein. Als sie gesehen habe, dass das klägerische Fahrzeug kam, sei sie direkt zurückgezogen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich das klägerische Fahrzeug auf Höhe ihrer Hinterreifen befunden. Bereits aus diesem Vortrag ergibt sich ein Fahrverhalten der Fahrerin, welches über eine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinausgeht. Dieses Fahrverhalten hat das Fahrverhalten des Überholers mit Rücksicht auf den zeitlichen und örtlichen Zusammenhang beeinflusst.
Bei der Abwägung der jeweiligen Verschuldensbeiträge nach § 17 StVG war von einer Haftung derFahrerin in Höhe von 80 % auszugehen.
Für die Beurteilung der Verursachungsbeiträge ist nach § 17 Abs. 1 StVG auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles abzustellen. Bei der Abwägung sind lediglich unstreitige, zugestandene oder bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei grundsätzlich die Umstände zu beweisen, welche dem anderen zum Verschulden reichen und aus denen er für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will3.
Auf Seiten der Fahrerin ist ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4 StVO anzunehmen. Nach dieser Vorschrift hat sich derjenige, welcher zum Überholen ausscheren will, so zu verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Dabei treffen den Verkehrsteilnehmer gesteigerte Sorgfaltspflichten. Aufgrund dieser gesteigerten Sorgfaltspflichten spricht für ein Verschulden – wie auch bei § 7 Abs. 5 StVO, wonach das Wechseln des Fahrstreifens ebenfalls nur gestattet ist, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist – der Beweis des ersten Anscheins, wenn sich ein Unfall im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Überholvorgang ereignet hat4.
Dabei war zunächst davon auszugehen, dass die Fahrerin zum Überholen ausscherte. Den oben geschilderten Anscheinsbeweis dafür, dass die Fahrerin sich zuvor nicht hinreichend versicherte, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist, hat die Fahrerin nicht zur Überzeugung des Gerichts entkräftet.
Demgegenüber ist das Gericht nicht ausreichend davon überzeugt, dass für den Überholer eine unklare Verkehrslage i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO vorlag, aufgrund derer er nicht hätte überholen dürfen. Von einer unklaren Verkehrslage ist dann auszugehen, wenn sich für den nachfolgenden Kraftfahrer nicht sicher beurteilen lässt, was der Vorausfahrende jetzt sogleich tun wird. Für diese Annahme sind konkrete Anhaltspunkte notwendig, etwa wie das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer oder die Örtlichkeiten. Das Überholen einer Kolonne an sich ist dabei nicht verboten und stellt für sich genommen auch keine unklare Verkehrslage dar5. Ebenfalls ausreichend ist es (für sich genommen) nicht, wenn sich der zu Überholende leicht zur Mitte hin orientiert6. Darlegungs- und beweisbelastet für die Behauptung derFahrerin, der Überholer habe im Rahmen einer unklaren Verkehrslage überholt, sind die Fahrerin.
Eine unklare Verkehrslage ist auch nicht deswegen anzunehmen, da der Überholer kurz nach der Aufhebung eines Überholverbotes überholt hat. Eine unklare Verkehrslage kann grundsätzlich auch dann angenommen werden, wenn sich nach längerer Zeit in einer Kolonnensituation die Möglichkeit für ein Überholmanöver bietet7. Dies ist im vorliegenden Verfahren nicht anzunehmen. Zwar behauptete dieFahrerin zunächst, dass sich bereits ab dem Ort Großensee bis zu der Stelle, an der sich der Unfall ereignet hat, keine Überholmöglichkeit bot. Dem Vortrag der Überholerseite, welche daraufhin darlegte, welche einzelnen Überholmöglichkeiten vorher vorgelegen haben, ist sie jedoch nicht weiter entgegengetreten. Zwar waren auch nach der Schilderung des Überholers einige von den Überholmöglichkeiten selbst aus Sicht des Überholers nicht ratsam, zumindest eine Überholmöglichkeit habe es jedoch vorher gegeben. Dies wird auch bestätigt durch die Angaben der Zeugin …., welche angab, dass es zuvor einen längeren Abschnitt gab, an dem man hätte überholen können. Dies nicht unbedingt als Dritter in der Kolonne, aber die vorderen Fahrzeuge hätten dies tun können.
Auf Seiten des Überholers war jedoch die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs zu berücksichtigen, welches sich mit einem Mitverschuldensanteil von 20 % niederschlägt. Die Betriebsgefahr tritt auch nicht hinter das Verhalten der Fahrerin zurück. Ebenso ist eine Haftung des Überholers nicht aufgrund der Unvermeidbarkeit des Unfalls nach § 17 Abs. 3 StVG ausgeschlossen. Ein Unfall ist dann unabwendbar, wenn er auch durch eine äußerst mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hinaus. Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen will, muss sich unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrsumstände wie ein Idealfahrer verhalten haben. Dabei darf sich die Prüfung nicht nur auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein Idealfahrer reagiert hat. Vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein Idealfahrer überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre8.
Auch wenn das Überholen einer Kolonne nicht unzulässig war, hätte zumindest ein Idealfahrer dies angesichts der damit verbundenen abstrakten Selbst- und Fremdgefährdung unterlassen5.
Landgericht Lübeck, Urteil vom 28. Juli 2023 – 9 O 27/21
- so auch OLG Celle, Urteil vom 08.06.2022 – 14 U 118/21[↩]
- BGH, Urteil vom 22.11.2016 – VI ZR 533/15, r+s 2017, 95[↩]
- OLG Schleswig, Beschluss vom 30.01.2020 – 7 U 210/19, NJW-RR 2020, 800[↩]
- OLG Rostock Beschluss vom 10.07.2015 – 5 U 67/14, BeckRS 2016, 10158[↩]
- OLG Celle, Urteil vom 08.06.2022 – 14 U 118/21, NJW 2022, 3086[↩][↩]
- NK-GVR/Sebastian Gutt StVO § 5 Rn. 22[↩]
- LG Mönchengladbach, Urteil vom 29.04.2021 – 12 O 157/20, BeckRS 2021, 12620[↩]
- OLG Rostock Urteil vom 23.02.2007 – 8 U 39/06, BeckRS 2007, 4828[↩]
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