Der deutliche Hinweis des gegnerischen Anwalts, dass die Klagebegründung nicht rechtzeitig eingereicht sei, kann die Kenntnis von einer Fristversäumnis begründen.

Ein Rechtsanwalt verletzt schuldhaft eine ihm aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Anwaltsvertrag obliegende Pflicht, indem er nicht innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO Wiedereinsetzung in die versäumte Ausschlussfrist des § 46 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 WEG beantragt (§ 46 Abs. 1 Satz 3 WEG, §§ 233, 234 ZPO).
Grundsätzlich hat ein Rechtsanwalt zu verhindern, dass sein Mandant durch einen Fristablauf Rechtsnachteile erleidet, weshalb er von Amts wegen zu beachtende Ausschlussfristen unverzüglich zu erfassen und zu überwachen hat1. Wird wegen eines Verschuldens des Rechtsanwalts eine zu überwachende Frist nicht eingehalten, so dass eine Wiedereinsetzung nicht gewährt werden kann, handelt er insoweit pflichtwidrig2. Dies gilt auch für die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Verfahrensgrundrechte auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und auf rechtliches Gehör gebieten es, den Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren3. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs dient das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in besonderer Weise dazu, den Rechtsschutz und das rechtliche Gehör zu garantieren4. Diese Funktion des Wiedereinsetzungsgesuchs beeinflusst die Voraussetzungen, unter denen im Einzelfall Wiedereinsetzung zu gewähren ist. Deshalb ist ein Rechtsanwalt, der regelmäßig in besonderem Maße eine hinreichend sichere Ausgangskontrolle gewährleisten muss und diese Verpflichtung im konkreten Fall erfüllt hat, grundsätzlich nicht gehalten, den Eingang seiner Schriftsätze bei Gericht zu überwachen5. Liegt jedoch ein konkreter Anlass vor, kann eine Nachfragepflicht begründet sein6. Ein solcher Anlass ist zwar – um die Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten nicht zu überspannen und den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren – regelmäßig noch nicht allein aus der Tatsache abzuleiten, dass vor Fristablauf keine entsprechende Nachricht des Gerichts eingegangen ist7. Ergibt sich jedoch aus einer Mitteilung des Gerichts unzweifelhaft, dass etwas fehlgelaufen ist, kann eine solche Nachricht Nachforschungspflichten des Rechtsanwalts auslösen8.
Einer solchen gerichtlichen Mitteilung kann auch ein deutlicher Hinweis der anwaltlich vertretenen Gegenseite gleichstehen. In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass auch eine – telefonisch oder schriftsätzlich erteilte – anwaltliche Nachricht, beispielsweise über die erfolgte Zustellung9 oder die eingetretene Rechtskraft eines Urteils10 ebenso wie die Zustellung eines Berichtigungsantrags der Gegenseite11 geeignet ist, Erkundigungspflichten des Rechtsanwalts zu begründen12. Grund für die besondere Bedeutung der anwaltlichen Mitteilung ist das Vertrauen, welches der Rechtsverkehr der anwaltlichen Nachricht entgegenbringt. Bei Erhalt einer solchen Mitteilung ist regelmäßig anzunehmen, dass diese keinen gegen die aus § 138 Abs. 1 ZPO folgende Wahrheitspflicht verstoßenden, bewusst wahrheitswidrigen oder unvollständigen Vortrag enthält.
Mit Zugang des Schriftsatzes der Gegenseite hatte die Klägerin, der die Kenntnis ihres Prozessbevollmächtigten Beklagten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet wurde, im vorliegenden Fall Kenntnis von der Fristversäumung.
Nach dem Inhalt dieses eine Seite umfassenden Schriftsatzes, hätte der Rechtsanwalt bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt erkennen müssen, dass die Klagebegründung als fristgebundene Rechtshandlung versäumt wurde13. Der in der Klageerwiderung enthaltene Antrag, die Klage aufgrund der nicht innerhalb der Ausschlussfrist des § 46 Abs. 1 Satz 2 WEG erfolgten Begründung abzuweisen, war eindeutig formuliert und – aufgrund fehlender weiterer tatsächlicher oder rechtlicher Ausführungen – auch bei nur oberflächlicher Durchsicht des Schriftsatzes sofort zu erkennen und in seinem Sinngehalt ohne weitere inhaltliche Prüfung zu erfassen. Auf eine durch das Gericht verursachte Verzögerung oder einen Fehler bei der Weiterleitung der Klagebegründung durfte sich der Beklagte angesichts der einschneidenden Wirkung der Ausschlussfrist nicht verlassen. Überdies lagen Anhaltspunkte, die ein dem Verantwortungsbereich des Gerichts zuzuordnendes Versehen nahelegen könnten, für den Beklagten nicht erkennbar vor. Insbesondere ist die von der Gegenseite verwendete Formulierung, wonach die Klage „soweit ersichtlich“ nicht fristgerecht begründet wurde, nicht geeignet, einen zugunsten des Beklagten wirkenden Vertrauenstatbestand zu schaffen. Sie gab vielmehr umgekehrt Anlass, sich im Interesse des Mandanten unverzüglich über den rechtzeitigen Zugang des Schriftsatzes zu vergewissern.
Selbst wenn hinsichtlich des Fristbeginns der Zeitpunkt zugrunde gelegt wird, zu dem auf eine Nachfrage des Rechtsanwalts eine klärende Antwort des Gerichts zu erwarten gewesen wäre, ist der Wiedereinsetzungsantrag des Rechtsanwalts vorliegend als nicht fristgerecht anzusehen. Angesichts der Bedeutung der Ausschlussfrist hätte sich der Beklagte unter Anwendung der gebotenen anwaltlichen Vorsicht nicht auf eine im gewöhnlichen Postlauf gestellte und nicht als besonders eilbedürftig gekennzeichnete Anfrage bei Gericht verlassen dürfen. Auf eine unverzügliche, beispielsweise per Telefon oder Fax unmittelbar nach Erhalt des gegnerischen Schriftsatzes gestellte Anfrage wäre eine klärende Antwort des Gerichts innerhalb kürzester Zeit – jedenfalls vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist – zu erwarten gewesen. Der erst über zwei Wochen später gestellte Wiedereinsetzungsantrag wurde demnach nicht innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO gestellt.
Da der Prozessbevollmächtigte den Inhalt des gegnerischen Schriftsatzes ohne nähere rechtliche oder tatsächliche Prüfung erfassen konnte, durfte er die gebotenen Nachforschungen auch nicht bis zu dem Ablauf der ihm in der richterlichen Begleitverfügung gesetzten dreiwöchigen Frist zur Stellungnahme auf die Klageerwiderung zurückstellen. Vielmehr musste er, nachdem ihm ein mögliches Fristversäumnis offensichtlich geworden war, die laufende Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO auch ohne einen entsprechenden richterlichen Hinweis beachten. Demnach oblag es ihm, unverzüglich Nachforschungen über den Verbleib seines Schriftsatzes anzustellen und erforderlichenfalls sogleich (hilfsweise) Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu beantragen. Letzteres Vorgehen wählte der Beklagte schließlich auch in seinem auf die Klageerwiderung folgenden Schriftsatz, der am 15.12 2011 und somit außerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO bei Gericht einging. Eine Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist des § 234 Abs. 1 ZPO schied aus, weil der Prozessbevollmächtigte auch diese Frist nicht ohne sein Verschulden versäumte.
Im Ergebnis kann im hier entschiedenen Fall auch dahinstehen, ob der Beklagte die Wiedereinsetzung in die versäumte Klagebegründungsfrist des § 46 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 WEG innerhalb der Zweiwochenfrist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO oder aber in der Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO hätte beantragen müssen. Diese in der Literatur nicht einheitlich beantwortete Frage14 ist bislang nicht höchstrichterlich entschieden. Angesichts dieser offenen Rechtslage durfte der Rechtsanwalt nicht darauf vertrauen, dass die Gerichte im Ausgangsverfahren bei der Entscheidung über seinen Wiedereinsetzungsantrag die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu Grunde legen würden. Vielmehr musste er damit rechnen, dass sich die Gerichte der für seine Mandantin ungünstigen Meinung anschließen würden. Daher oblag es dem Anwalt, vorausschauend den für seine Mandantin relativ sichersten und am wenigsten gefährlichen Weg zu wählen15 und den Wiedereinsetzungsantrag innerhalb der Zweiwochenfrist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu stellen.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 24. September 2015 – IX ZR 206/14
- Vill in Zugehör/G. Fischer/Vill/D. Fischer/Rinkler/Chab, Handbuch der Anwaltshaftung, 3. Aufl., Rn. 697[↩]
- Vill, aaO Rn. 770[↩]
- BVerfG, NJW-RR 2002, 1005; BGH, Beschluss vom 03.12 2009 – IX ZB 238/08, nv Rn. 8[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 23.01.2008 – XII ZB 155/07, NJW-RR 2008, 930 Rn. 6; vom 03.12 2009, Rn. 8; vom 05.06.2012 – VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rn. 6[↩]
- vgl. BVerfGE 79, 372, 375 f; BGH, Beschluss vom 03.12 2009, aaO Rn. 10[↩]
- vgl. BVerfGE 42, 120, 126; BVerfG, NJW 1992, 38, 39; BGH, Beschluss vom 05.06.2012, aaO Rn. 10[↩]
- vgl. BVerfG, NJW 1992, 38, 39; BGH, Beschluss vom 05.06.2012, aaO[↩]
- vgl. BVerfG, NJW 1992, 38, 39; BGH, Beschluss vom 03.12 2009, aaO Rn. 11; vom 05.06.2012, aaO[↩]
- BGH, Beschluss vom 15.11.1976 – VIII ZB 35/76, VersR 1977, 258[↩]
- BGH, Urteil vom 28.09.1972 – IV ZB 62/72, VersR 1973, 31[↩]
- BGH, Urteil vom 28.03.1990 – XII ZR 68/89, VersR 1991, 120[↩]
- vgl. MünchKomm-ZPO/Gehrlein, 4. Aufl., § 234 Rn. 6; Musielak/Voit/Grandel, ZPO, 12. Aufl., § 234 Rn. 4; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 234 Rn. 5[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 13.07.2004 – XI ZB 33/03, NJW-RR 05, 76, 77; vom 13.10.2011 – VII ZR 29/11, NJW 2012, 159 Rn. 9; Prütting/Gehrlein/Milger, ZPO, 7. Aufl., § 234 Rn. 4[↩]
- vgl. Dötsch, NZM 2008, 309, 312 f; Bärmann/Klein, WEG, 12. Aufl., § 46 Rn. 48; Timme/Elzer, WEG, 2015, § 46 Rn.197; Riecke/Schmidt/Abramenko, WEG, 3. Aufl., § 46 Rn. 9; Jennißen/Suilmann, WEG, 3. Aufl., § 46 Rn. 111 ff[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 11.02.1999 – IX ZR 14/98, NJW 1999, 1391; Vill in Zugehör/G. Fischer/Vill/D. Fischer/Rinkler/Chab, Handbuch der Anwaltshaftung, 3. Aufl., Rn. 697[↩]