Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG, abzuleitende Justizgewährungsanspruch gewährleistet nicht nur den Zugang zu den Gerichten sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter aufgrund einer grundsätzlich umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Streitgegenstands1. Er beeinflusst vielmehr auch die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtsweges und die Beschreitung des Instanzenzugs von Bedeutung sind2.

Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verlangt bei Eilverfahren, dass Rechtsschutz jedenfalls dann gewährt wird, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre3. Die Auslegung und Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt4. Dies gilt im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG auch im Zivilprozess5.
In dem hier vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall bedeutete dies: Eine wirksame Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht haben das Landgericht und das Oberlandesgericht vorliegend mit nicht vertretbarer Argumentation verhindert, indem sie dem Antragsteller ohne Prüfung der Sach- und Rechtslage einen Verfügungsgrund abgesprochen haben, weil er mit seinem Rechtsschutzbegehren zu lange zugewartet habe.
Zwar kann ein ursprünglich vorliegender Verfügungsgrund durch Zeitablauf entfallen. Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn sich der Streitgegenstand im fraglichen Zeitraum nicht wesentlich verändert hat6. Dem Ausschluss eines Verfügungsgrundes liegt in diesen Fällen der Rechtsgedanke der Verwirkung zugrunde7. Derjenige, dem Verwirkung entgegengehalten werden soll, muss aber jedenfalls auch einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen haben, dass er sein (vermeintliches) Recht nicht mehr geltend machen werde8.
Eine derartige Situation war vorliegend jedoch nicht gegeben. Vielmehr hatte sich die Sach- und Rechtslage im Mai 2016 erheblich geändert. Der Antragsteller hat glaubhaft vorgetragen, dass er seit mehreren Jahrzehnten im Besitz der vom Streit betroffenen Fläche sei und dass der Antragsgegner nun erstmalig verbotene Eigenmacht ausgeübt und weitere verbotene Eigenmacht (Abriss der Gebäude) angedroht habe. Zuvor sei lediglich um die Berechtigung zum Besitz gestritten worden. Dieser Geschehensablauf schließt die Heranziehung des Verwirkungsgedankens im Rahmen der §§ 935, 940 ZPO aus. Im Ausgangspunkt ist zu beachten, dass das Entfallen eines Verfügungsgrundes wegen Verwirkung grundsätzlich – auch aufgrund der im Zivilprozess gegebenen Dispositionsbefugnis der beteiligten Parteien – eine Ausnahme darstellt. Denn es kann durchaus vernünftige Gründe für einen besonnenen Gläubiger geben, mit einem Eilantrag zu warten, etwa weil sich zwischenzeitlich eine unstreitige Lösung abzeichnet9. Entscheidend ist vorliegend, dass es für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor Mai 2016 keinen Grund gab, da es bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu Handlungen verbotener Eigenmacht gekommen war. Die gegenteilige Auffassung würde zu einem Entzug des Rechtsschutzes gerade dort führen, wo er nötig ist, um gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern. Diese Auslegung lässt außer Betracht, dass der Justizgewährungsanspruch als staatliche Pflicht und individuelles Recht die Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols, der bürgerlichen Friedenspflicht und des Selbsthilfeverbots bildet10.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19. Dezember 2016 – 2 BvR 1490/16
- vgl. BVerfGE 97, 169, 185; 107, 395, 401; 108, 341, 347[↩]
- vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 25.03.2015 – 1 BvR 2811/14[↩]
- BVerfGE 46, 166, 179; 79, 69, 74 zu Art.19 Abs. 4 GG[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.11.2016 – 2 BvR 2275/16[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.09.2016 – 2 BvR 1493/16[↩]
- vgl. KG Berlin, Urteil vom 09.02.2001 – 5 U 9667/00 14; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 20.03.2008 – 7 W 19/08 9 ff.; OLG Hamm, Urteil vom 09.03.1990 – 7 U 142/89, NJW-RR 1990, S. 1236, 1236[↩]
- vgl. OLG Hamm, a.a.O., S. 1236[↩]
- vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, 75. Aufl.2016, § 242 Rn. 95[↩]
- vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 74. Aufl.2016, § 940 Rn. 6[↩]
- vgl. BVerfGE 54, 277, 292; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, 77. EL Juli 2016, Art.19 Abs. 4 Rn. 16[↩]