Zustellung an die Partei statt an den Prozessbevollmächtigten – und das rechtliche Gehör

Der Anspruch auf rechtliches Gehör kann durch ein Zivilgericht dadurch verletzt werden, dass es unter Verstoß gegen § 172 Abs. 1 S. 1 ZPO Zustellungen nicht an den Prozessbevollmächtigten, sondern an die Prozesspartei persönlich vornimmt.

Zustellung an die Partei statt an den Prozessbevollmächtigten – und das rechtliche Gehör

In dem hier vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall wandte sich der Beschwerdeführer gegen eine amtsgerichtliche Entscheidung, durch die er zur Zahlung einer Vergütung aus einem Escort-Servicevertrag verurteilt worden ist. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erwirkte zunächst einen Mahnbescheid über die streitige Summe, den das Amtsgericht Hünfeld – zentrales Mahngericht – gegen den Beschwerdeführer erließ. Dieser ließ durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch erheben. Das Verfahren wurde sodann gemäß § 696 Abs. 1 und 2 ZPO an das zuständige Amtsgericht Frankfurt am Main – Zivilabteilung – abgegeben.

Nach dem Eingang der Anspruchsbegründung ordnete das Amtsgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 23.03.2017 an, dass gemäß § 495a ZPO im schriftlichen Verfahren entschieden werde. Den Beschwerdeführer forderte es auf, binnen drei Wochen ab Zugang des Beschlusses schriftlich auf die Klage zu erwidern. Es wies darauf hin, dass ohne Einhaltung der gesetzten Frist der Prozess allein deswegen verloren werden könne; bei genügender Klärung des Sachverhalts oder Versäumung der gesetzten Frist könne ohne Bestimmung eines besonderen Verkündungstermins Endurteil nach Aktenlage ergehen. Ferner verfügte das Amtsgericht, dem Beschwerdeführer den Beschluss per Zustellungsurkunde mit einer beglaubigten Abschrift der Anspruchsbegründung zuzustellen. Der Beschluss des Amtsgerichts wurde dem Beschwerdeführer am 28.03.2017 persönlich an seiner Wohnanschrift durch Einlegung in den Briefkasten, nicht aber dem aus dem Widerspruchsformular ersichtlichen und auch im Aktenausdruck des Mahngerichts aufgenommenen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers zugestellt. In der Folge reagierte der Beschwerdeführer nicht weiter.

Das Amtsgericht Frankfurt am Main verurteilte den Beschwerdeführer durch das angegriffene Urteil vom 26.04.2017, in dessen Rubrum der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers aufgeführt war, ohne mündliche Verhandlung gemäß § 495a ZPO zur Zahlung der im Streit stehenden Summe1; die Berufung wurde nicht zugelassen. Der Anspruch folge aus dem schlüssigen und unstreitig gebliebenen klägerischen Vortrag. Eine Klageerwiderung habe der Beschwerdeführer binnen der gesetzten Frist nicht eingereicht, obgleich er auf die möglichen Folgen einer Fristversäumung hingewiesen worden sei.

Obgleich eine Geschäftsstellenbeamtin die Richterin darauf hinwies, dass der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers erst nach Zustellung des Beschlusses vom 23.03.2017 ins Rubrum aufgenommen und der Beschluss an ihn nicht zugestellt worden sei, verfügte die Geschäftsstelle, zur „Verkündung durch Zustellung“ eine Urteilsabschrift dem Beschwerdeführer zuzustellen. Das Urteil wurde dem Beschwerdeführer daraufhin zu einem unbekannten Zeitpunkt persönlich, nicht jedoch seinem Prozessbevollmächtigten übermittelt.

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Betragsverfahren vor Rechtskraft des Grundurteils

Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 18.05.2017, welcher mit Schreiben vom 03.07.2017 ergänzt worden ist, lehnte der Beschwerdeführer die Richterin des Amtsgerichts wegen der Besorgnis der Befangenheit ab, erhob Anhörungsrüge nach § 321a ZPO und beantragte, den Prozess vor dem Amtsgericht fortzuführen, das Endurteil vom 26.04.2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Anspruchsbegründung, der prozessleitende Beschluss des Amtsgerichts sowie das Endurteil seien nicht wirksam zugestellt worden. Sein für den Rechtszug bestellter Prozessbevollmächtigter habe entgegen § 172 Abs. 1 ZPO keinerlei Zustellungen erhalten. Er habe daher keine Möglichkeit gehabt, Einwendungen gegen die Ansprüche der Klägerin geltend zu machen und unter Beweis zu stellen; er habe deren Dienste weder beauftragt noch in Anspruch genommen. Da die Richterin von der Geschäftsstelle auf die unterbliebene Zustellung an den Prozessbevollmächtigten hingewiesen worden sei, hätte sie die Zustellung des Urteilsentwurfs unterbinden müssen.

Das Befangenheitsgesuch erklärte das Amtsgericht Frankfurt am Main nach Einholung einer dienstlichen Erklärung der Richterin mit Beschluss vom 11.07.2017 für unbegründet. Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit folgten nicht daraus, dass der Beschluss vom 23.03.2017 dem Beschwerdeführer persönlich zugestellt worden sei und die Richterin in Kenntnis dieses Umstands das Urteil, nachdem sie es auf die Geschäftsstelle gebracht habe und es durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle bereits zur Zustellung verfügt gewesen sei, in der Akte belassen und nicht mehr eingegriffen habe. Sei das Urteil so in den Geschäftsgang gelangt, dass ohne nachträgliche Entnahme aus der Verfahrensakte eine Veränderung nicht mehr möglich sei, könne auf die Entscheidung kein Einfluss mehr genommen werden.

Die Anhörungsrüge wies das Amtsgericht Frankfurt am Main durch die Richterin mit angegriffenem Beschluss vom 14.07.2017 als unbegründet zurück2. Der Beschwerdeführer habe seit der persönlichen Zustellung des prozessleitenden Beschlusses bis zum Erlass des Endurteils hinreichend Zeit gehabt, seinen Prozessbevollmächtigten zu unterrichten. Im Übrigen werde auf die Ausführungen des Klägervertreters verwiesen, wonach dieser dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers die Anspruchsbegründung bereits am 7.03.2017 per Fax übersandt habe; der Beschwerdeführer habe bis heute Einwendungen gegen die Ansprüche nicht dargelegt und unter Beweis gestellt, sondern nur unsubstantiiert mitteilen lassen, er habe die Dienste weder beauftragt noch in Anspruch genommen.

Mit Beschluss vom 09.08.2017 erklärte das Amtsgericht Frankfurt am Main auf die sofortige Beschwerde unter Aufhebung seines Beschlusses vom 11.07.2017 das Ablehnungsgesuch für begründet.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG und eine Verletzung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG, daneben eine Verletzung des Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG sowie eine Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Ihm sei unter Verstoß gegen § 172 Abs. 1 ZPO eine Klageerwiderung nicht ermöglicht worden. Die Entscheidung über die Anhörungsrüge verstärke den Verstoß, da die unzuständige Richterin sie – unter Verstoß gegen § 47 Abs. 1 ZPO vor Erlass einer rechtskräftigen Entscheidung über das gegen sie gerichtete Ablehnungsgesuch – unter Hinweis auf die unwirksamen Zustellungen zurückgewiesen habe. Dadurch werde der Kerngehalt des Grundrechts verkannt. Der Beschwerdeführer habe nicht wissen können, dass das Amtsgericht keines der verfahrensrelevanten Schriftstücke an seinen form- und fristgerecht bestellten Prozessbevollmächtigten zugestellt habe; er habe sich darauf verlassen können, dass sein Prozessbevollmächtigter sich um die Führung des Rechtsstreits kümmern werde.

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Die falsche Fax-Nr.

Das Hessische Ministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat innerhalb der hierfür gesetzten Frist keine Stellungnahme abgegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 93b Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der gerügten Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen insbesondere zur Bedeutung einer den Vorgaben von § 172 Abs. 1 ZPO nicht entsprechenden Zustellung3 bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG rügt. Dem steht der Grundsatz der Subsidiarität4 trotz Entscheidung über die Anhörungsrüge durch eine rechtskräftig für unzuständig erkannte Richterin nicht entgegen.

Zwar kann der Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung der Grundsatz der Subsidiarität entgegenstehen, wenn möglicherweise ein Restitutions- oder Nichtigkeitsgrund gegeben ist5. Gegen ein nicht mehr anfechtbares Urteil, das vor der rechtskräftigen Entscheidung über das bereits gestellte und schließlich erfolgreiche Ablehnungsgesuch ergeht, in entsprechender Anwendung von § 579 Abs. 1 Nr. 3 ZPO Nichtigkeitsklage zu erheben, ist dabei grundsätzlich trotz der Ungewissheit, die aus dem hierzu bestehenden kontroversen Meinungsstand resultiert, zumutbar6.

Hier erging das angefochtene Endurteil jedoch, bevor das Ablehnungsgesuch gestellt wurde. Eine entsprechende Anwendung auf die vorliegende prozessuale Konstellation oder eine „Nichtigkeitsbeschwerde“ in doppelter Analogie zu § 579 Abs. 1 Nr. 3 ZPO gegen die Entscheidung über die Gehörsrüge7 war dem Beschwerdeführer mangels erkennbarer Erfolgsaussicht nicht zumutbar.

Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit auch offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

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Terminsgebühr für einen außergerichtlichen Vergleich

Abs. 1 GG gewährleistet jedem Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, sich vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern8. Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsschutzgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen können, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können9. Dementsprechend darf das Gericht nur solche Tatsachen verwerten, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten vorher äußern konnten10.

Das Äußerungsrecht ist zudem eng verknüpft mit dem Recht auf Information. Die genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Die Verfahrensbeteiligten müssen sich unter Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff unterrichten können11. Den Gerichten obliegt zudem die Pflicht, von sich aus den Beteiligten alles für das Verfahren Wesentliche mitzuteilen12; es bedarf keines Antrags und es besteht in der Regel keine Erkundigungspflicht des Grundrechtsträgers13.

Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben muss14. Der einfachgesetzlichen Umsetzung des Rechts auf Information dienen insofern die prozessrechtlichen Vorschriften über die Ladung15 und die Bekanntgabe, insbesondere die Zustellung16. Damit soll sichergestellt werden, dass der Betroffene von für ihn erheblichen Informationen zuverlässig Kenntnis erhält17.

Soweit das Recht auf Gehör durch einen Rechtsanwalt ausgeübt wird, hat das Gericht ihm gegenüber die Pflichten aus Art. 103 Abs. 1 GG zu erfüllen. Ist ein Rechtsanwalt bestellt, so nimmt er die prozessualen Rechte und Möglichkeiten für den gehörberechtigten Beteiligten wahr. Er ist es dann, den das Gericht auf jeden Fall durchgängig am Verfahren zu beteiligen hat. Wird dies übersehen, so ist grundsätzlich Art. 103 Abs. 1 GG verletzt18.

So liegt der Fall hier. Der Wortlaut des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO lässt keine alternative Zustellung an die Partei zu. Der Prozessbevollmächtigte ist in diesem Fall allein berufener Adressat aller Zustellungen, damit die Prozessführung übersichtlich in einer Hand liegt19.

Die Voraussetzungen des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO liegen vor.

Zweifel an der wirksamen Bestellung des Prozessbevollmächtigten im Sinne der § 81, § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO bestehen im vorliegenden Fall nicht. Denn aus dem Aktenausdruck des hessischen Mahngerichts zum Verfahrensablauf ergibt sich ausdrücklich, dass er als Prozessbevollmächtigter den Widerspruch eingereicht hat, wobei der Ausdruck zum eingereichten Vordruck auch den Passus enthält, dass die „ordnungsgemäße Bevollmächtigung versichert wird“. Das Mahngericht hat ihn entsprechend als Prozessbevollmächtigten in den Aktenausdruck (§ 696 Abs. 2 ZPO) aufgenommen. Das Verfahren war zudem anhängig im Sinne von § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Anhängigkeit im Mahnverfahren tritt bereits mit Einreichung des Mahnbescheids ein. Mit der Abgabe nach § 696 Abs. 1 und 2 ZPO endet das Mahnverfahren. Der beim Abgabegericht aufgetretene Rechtsanwalt bleibt Prozessbevollmächtigter bis zu einer eventuellen Neubestellung eines Rechtsanwalts für das Streitverfahren beim Empfangsgericht20. Mit Eingang der Akten (bzw. des Aktenausdrucks) beim Empfangsgericht wird die Sache dort anhängig (§ 696 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 ZPO). Zugleich tritt (im Fall des § 696 Abs. 3 ZPO zeitlich zurückbezogen) Rechtshängigkeit ein.

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Nach dem Wohnungsbrand

Zustellungen an die Partei selbst unter Verstoß gegen die Vorschrift des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO sind unwirksam beziehungsweise wirkungslos und setzen Fristen nicht in Lauf. Zustellungen an die Partei sind nur noch möglich, wenn das Gesetz sie ausnahmsweise befiehlt21. Gemessen hieran waren die Zustellung des Beschlusses vom 23.03.2017, dem die Anspruchsbegründung beigefügt war, sowie die Zustellung des Urteils vom 26.04.2017 unwirksam, da sie dem Beschwerdeführer selbst zugestellt wurden.

Jedenfalls in Bezug auf den Beschluss vom 23.03.2017 wurde der Zustellungsmangel nicht gemäß § 189 ZPO geheilt. Denn die Vorschrift besagt, dass eine Heilung von Zustellungsmängeln lediglich dann angenommen werden kann, wenn das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Eine Heilung hätte vorliegend also nur erfolgen können, wenn dem Prozessbevollmächtigten der Beschluss (mit Anspruchsbegründung) sowie das Urteil zugegangen wären. Dies ist hier jedoch lediglich in Bezug auf das Urteil sowie die Anspruchsbegründung, nicht hingegen auf den das Verfahren nach § 495a ZPO anordnenden und die Ausschlussfrist setzenden Beschluss vom 23.03.2017 der Fall.

Zwar ist die (an ein örtlich unzuständiges Gericht gerichtete) Anspruchsbegründung dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 7.03.2017 vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorab per Fax zugeleitet worden. Spätestens bei Rücksendung der Verfahrensakte am 16.05.2017 nach Akteneinsicht war dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers zudem das Urteil tatsächlich zugegangen. Der die Klageerwiderungsfrist setzende Beschluss des zuständigen Gerichts vom 23.03.2017 war dem Prozessbevollmächtigten jedoch weder innerhalb der gesetzten Frist noch vor Erlass des Urteils vom 26.04.2017 tatsächlich zugegangen, so dass keine Heilung mehr erfolgen konnte. Ein Zugang an die vertretene Partei (wie hier vom Amtsgericht für maßgeblich erachtet) genügt nicht für eine Heilung nach § 189 ZPO22.

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Kostenentscheidung nach Erledigung des Rechtsstreits - und die Zulassung der Rechtsbeschwerde

In dem Umstand, dass der Beschwerdeführer mangels wirksamer Zustellung der Anordnung der Entscheidung gemäß § 495a ZPO im schriftlichen Verfahren und der Aufforderung zur schriftlichen Klageerwiderung binnen einer Ausschlussfrist von drei Wochen ab Zugang des Beschlusses keine ausreichende Möglichkeit hatte, sich zum Sachverhalt zu äußern und etwaige Einwendungen vorzubringen, liegt eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.

Zwar stellt nicht jede falsche Handhabung der für das rechtliche Gehör einschlägigen Prozessvorschriften durch den Richter zwingend auch einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar. Bei einer willkürlich fehlerhaften oder jedenfalls offensichtlich unrichtigen Gesetzesanwendung ist dies jedoch der Fall23.

Die fehlerhafte Gesetzesanwendung war vorliegend insbesondere deshalb offensichtlich, da der Wortlaut des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO der Erwägung des Amtsgerichts, der Beschwerdeführer habe hinreichend Gelegenheit gehabt, seinen Prozessbevollmächtigten zu unterrichten, ausdrücklich entgegensteht. Auch den Hinweis fehlender Zustellung an den Prozessbevollmächtigten seitens der Geschäftsstelle vor Erlass des Urteils24 hat das Amtsgericht nicht zum Anlass genommen, seinen Fehler jedenfalls im Verfahren nach § 321a ZPO zu korrigieren. Somit ist auch von einer objektiv willkürlichen, da nicht mehr verständlichen Gesetzesanwendung des Amtsgerichts auszugehen. Der Beschwerdeführer durfte sich nach Beauftragung seines Prozessbevollmächtigten und der diesbezüglichen Anzeige an das Gericht darauf verlassen, dass Letzteres § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO beachten und sein Prozessbevollmächtigter von allen relevanten Schriftstücken Kenntnis erhalten würde. Dies gilt erst recht mit Blick auf die vom Amtsgericht gesetzte Frist, die der Präklusion sämtlichen weiteren Vorbringens diente.

Schließlich beruht das angegriffene Urteil auch auf der Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG25. Die Entscheidungserheblichkeit des Gehörsverstoßes liegt auf der Hand, denn der Beschwerdeführer hat ausdrücklich bestritten, die Klägerin beauftragt oder die Dienste ihres „Hostessservices“ tatsächlich in Anspruch genommen zu haben. Dementsprechend hätte das Amtsgericht die hierzu angebotenen Beweise der Klägerin würdigen müssen.

Da die angegriffenen Entscheidungen schon wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verfassungswidrig sind, konnte für das Bundesverfassungsgericht offenbleiben, ob sie auch weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzen.

Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil und den Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG auf und verwies die Sache zurück an das Amtsgericht Frankfurt am Main.

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Unanfechtbarer Entscheidungen - und ihre Begründung

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27. Januar 2020 – 2 BvR 198/18

  1. AG Frankfurt am Main, Urteil vom 26.04.2017 – 29 C 915/17 (81) []
  2. AG Frankfurt am Main, Beschluss vom 14.07.2017 – 29 C 915/17 (81) []
  3. vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.07.2016 – 2 BvR 1614/14, NJW 2017, S. 318, 318 f.[]
  4. vgl. BVerfGE 107, 395, 414; 112, 50, 60; BVerfGK 19, 197, 203 f.[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.01.1992 – 2 BvR 40/92, NJW 1992, S. 1030, 1030 f.; Beschluss vom 19.02.1998 – 2 BvR 189/98, NVwZ 1998, S. 1174, 1174; s.a. BVerfG, Beschluss vom 27.05.1992 – 2 BvR 799/92, BeckRS 1992, 08135, Rn. 1[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.05.1992 – 2 BvR 799/92, BeckRS 1992, 08135, Rn. 1 f.; Beschluss vom 20.07.2007 – 1 BvR 2228/06, NJW 2007, S. 3771, 3773[]
  7. dagegen etwa VGH München, Beschluss vom 08.03.2018 – 10 ZB 18.530, BeckRS 2018, 4350, Rn. 2 m.w.N., zu § 153 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 579 ZPO[]
  8. vgl. BVerfGE 67, 39, 41; 69, 145, 148; 89, 381, 392; 101, 106, 129; stRspr[]
  9. vgl. BVerfGE 86, 133, 144[]
  10. vgl. BVerfGE 70, 180, 189; 101, 106, 129[]
  11. vgl. BVerfGE 84, 188, 190; 96, 189, 204[]
  12. vgl. BVerfGE 36, 85, 88[]
  13. vgl. BVerfGE 17, 194, 197; 50, 381, 385; 67, 154, 155[]
  14. vgl. BVerfGE 60, 1, 5; 67, 208, 211[]
  15. vgl. BVerfGE 36, 298, 301[]
  16. vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.07.2016 – 2 BvR 1614/14, NJW 2017, S. 318, 318 f. Rn. 13[]
  17. vgl. BVerfGE 67, 208, 211[]
  18. vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.07.2016 – 2 BvR 1614/14, NJW 2017, S. 318, 319 Rn. 14[]
  19. vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.07.2016 – 2 BvR 1614/14, NJW 2017, S. 318, 319 Rn. 15 m.w.N.[]
  20. vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.07.2016 – 2 BvR 1614/14, NJW 2017, S. 318, 319 Rn. 18 m.w.N.[]
  21. vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.07.2016 – 2 BvR 1614/14, NJW 2017, S. 318, 319 Rn.19 m.w.N.[]
  22. vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.07.2016 – 2 BvR 1614/14, NJW 2017, S. 318, 319 Rn.20 m.w.N.[]
  23. vgl. BVerfGE 69, 145, 149; 70, 288, 293[]
  24. vgl. zur gewählten „Verkündung durch Zustellung“ als rechtliche Existenzvoraussetzung des Urteils Deppenkemper, in: MünchKomm- ZPO, 5. Aufl.2016, § 495a Rn. 49; Feskorn, in: Zöller, ZPO, 33. Aufl.2020, § 310 Rn. 1, 6 m.w.N.[]
  25. vgl. BVerfGE 7, 95, 99; 89, 381, 392 f.[]