Zwangsversteigerung – und die Suizidgefahr beim Schuldner

Der Zuschlag ist nicht ohne weiteres zu versagen und die Zwangsversteigerung (einstweilen) einzustellen, wenn eine solche konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners mit der Zwangsvollstreckung verbunden ist.

Zwangsversteigerung – und die Suizidgefahr beim Schuldner

Vielmehr ist das in solchen Fällen ganz besonders gewichtige Interesse des von der Vollstreckung Betroffenen (Lebensschutz, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gegen das Vollstreckungsinteresse des Gläubigers (Gläubigerschutz, Art. 14 GG; wirksamer Rechtsschutz, Art.19 Abs. 4 GG) abzuwägen.

Es ist daher sorgfältig zu prüfen, ob der Gefahr der Selbsttötung auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann.

Mit Blick auf die Interessen des Erstehers gilt nichts anderes1.

Mögliche Maßnahmen betreffen die Art und Weise, wie die Zwangsvollstreckung durchgeführt wird, die Ingewahrsamnahme des suizidgefährdeten Schuldners nach polizeirechtlichen Vorschriften oder dessen Unterbringung nach den einschlägigen Landesgesetzen sowie die betreuungsrechtliche Unterbringung (§ 1906 BGB).

Kann der Suizidgefahr des Schuldners auf diese Weise entgegengewirkt werden, scheidet die Einstellung aus.

Der Verweis auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden und Gerichte ist verfassungsrechtlich allerdings nur tragfähig, wenn diese entweder Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuldners getroffen oder aber eine erhebliche Suizidgefahr gerade für das diese Gefahr auslösende Moment (Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses oder Räumung) nach sorgfältiger Prüfung abschließend verneint haben.

Hat die Ordnungsbehörde Maßnahmen ergriffen, kann das Vollstreckungsgericht davon ausgehen, dass diese ausreichen; flankierende Maßnahmen hat es nur zu erwägen, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass die von der Behörde ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen, oder wenn sich konkrete neue Gesichtspunkte ergeben, die die Lage entscheidend verändern2.

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Das Vollstreckungsgericht ist daher gehalten, die zuständigen Stellen zu beteiligen, wenn entsprechende Maßnahmen als Alternative zur einstweiligen Einstellung der Zwangsversteigerung in Betracht kommen3.

Steht hingegen fest oder ist aller Voraussicht nach davon auszugehen, dass die Anordnung der Unterbringung zu einer bloßen Verwahrung auf Dauer führte, so ist eine Freiheitsentziehung zur Ermöglichung der Zwangsvollstreckung unverhältnismäßig und das Verfahren (ggfs. erneut) auf bestimmte Zeit einzustellen.

Gleiches gilt, wenn der Gefahr der Selbsttötung nur durch eine außer Verhältnis stehende jahrelange Unterbringung ohne erkennbaren therapeutischen Nutzen begegnet werden kann4.

Anders verhält es sich dagegen, wenn innerhalb eines überschaubaren Zeitraums eine Chance dafür besteht, dass die Freiheitsentziehung zu einer Stabilisierung des Suizidgefährdeten führen und durch therapeutische Maßnahmen während der Unterbringung die Grundlage für ein Leben in Freiheit ohne konkrete Suizidgefährdung gelegt werden kann5.

Diesen Vorgaben der ständigen Rechtsprechung sowohl des Bundesgerichtshofs als auch des Bundesverfassungsgerichts wurde im hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall die Vorgehensweise des Landgerichts Siegen6 als Beschwerdegericht aus mehreren Gründen nicht gerecht:

Die durch das Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen tragen nicht die von ihm gezogene Schlussfolgerung, dass der Gefahr der Selbsttötung des Schuldners nicht auf andere Weise als durch die dauerhafte Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Das Beschwerdegericht geht auf der Grundlage der bisher eingeholten ärztlichen Stellungnahmen davon aus, dass die Suizidgefahr durch eine konsequente längerfristige psychotherapeutische Behandlung abgewendet werden kann. Die Möglichkeit, eine solche Behandlung durch bestimmte flankierende Maßnahmen, wie etwa eine vorübergehende Unterbringung des Schuldners oder eine ihm aufzuerlegende stationäre Behandlung (hierzu Zschieschack/Brücher, ZMR 2015, 745, 747 f.), sicherzustellen, lässt sich mit der von dem Beschwerdegericht gegebenen Begründung nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen. Dass der Schuldner in der Vergangenheit psychotherapeutische Behandlungen nicht aufgenommen oder aus eigenem Antrieb beendet hat, belegt alleine nicht, dass eine Unterbringung zu dem Zwecke der therapeutischen Behandlung keine Aussicht auf Erfolg hat. Wie das Beschwerdegericht selbst feststellt, ist die bei dem Schuldner diagnostizierte Anpassungsstörung auch durch Antriebslosigkeit gekennzeichnet. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Schuldner sich ungeachtet seiner Skepsis und der Aussicht, im Falle einer erfolgreichen Therapie mit einer Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens rechnen zu müssen, einer solchen im Falle der Unterbringung stellen würde7. Zumindest hätte das Beschwerdegericht diese Möglichkeit in Erwägung ziehen und die Amtsärztin bzw. den psychiatrischen Sachverständigen zu den Erfolgsaussichten einer solchen Maßnahme befragen müssen8. Die Annahme des Beschwerdegerichts, eine Unterbringung könne lediglich für die Zeit ihrer Dauer helfen und danach sei die Gefahr eines Bilanzselbstmords weiterhin gegeben, bleibt ohne entsprechende Sachaufklärung mit ärztlicher Hilfe spekulativ und wird dem Gebot der sorgfältigen Abwägung der gegenseitigen Interessen des Betroffenen und des Gläubigers nicht gerecht.

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Die Feststellungen des Landgerichts tragen auch nicht seine Schlussfolgerung, dass eine solche Unterbringung vorliegend nicht in Betracht kommt. Nach dem einschlägigen Landesrecht ist dies nicht ausgeschlossen. § 11 Abs. 1 des nordrheinwestfälischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG NRW) erlaubt eine Unterbringung Betroffener, wenn und solange durch deren krankheitsbedingtes Verhalten eine erhebliche Selbstgefährdung besteht, die nicht anders abgewendet werden kann. Dass eine Unterbringung auf dieser Grundlage nicht möglich ist, hat das Beschwerdegericht nicht begründet. Es kann auch nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden sich ihrer Verantwortung dadurch entziehen, dass sie auf die Möglichkeit der Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens verweisen. Das Beschwerdegericht durfte daher nicht davon absehen, die für den Antrag auf Unterbringung des Schuldners nach § 12 PsychKG NRW zuständige örtliche Ordnungsbehörde zu befassen.

Entsprechendes gilt für die betreuungsrechtliche Unterbringung des Schuldners. Im Gegensatz zu einer öffentlichrechtlichen Unterbringung setzt die Unterbringung nach dem Betreuungsrecht (§ 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB) keine akute, unmittelbare bevorstehende Gefahr für den Betreuten voraus. Notwendig ist allerdings eine ernstliche und konkrete Gefahr für dessen Leib und Leben, wobei die Anforderungen an die Voraussehbarkeit einer Selbsttötung oder einer erheblichen gesundheitlichen Eigenschädigung jedoch nicht überspannt werden dürfen9. Zwar darf gegen den freien Willen des Volljährigen ein Betreuer nicht bestellt werden (§ 1896 Abs. 1a BGB). Das Beschwerdegericht hat aber keine Feststellungen dazu getroffen, ob sich der Schuldner einer solchen Betreuung widersetzen würde und ob ein solcher Entschluss auf einer freien Willensbildung beruhte. Es wäre daher gehalten gewesen, zunächst das Betreuungsgericht einzuschalten, gegebenenfalls gleichzeitig mit der Befassung der für die Unterbringung nach § 12 PsychKG NRW zuständigen Stellen.

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Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Sie ist nicht zur Entscheidung reif, da nicht abschließend feststeht, ob eine erneute befristete Einstellung des Verfahrens zur Abwendung der Gefahr der Selbsttötung des Schuldners geeignet ist.

Das Beschwerdegericht wird die fehlenden tatsächlichen Feststellungen zu der Frage, ob der Schuldner mit dem Ziel einer therapeutischen Behandlung untergebracht werden kann, nachzuholen haben. Dabei bietet es sich auch im Hinblick auf die schon jetzt erhebliche Verfahrensdauer an, die hierfür zuständigen Behörden parallel zu beteiligen und jeweils von der Befassung der anderen Behörden in Kenntnis zu setzen, um eine Koordination der zu ergreifenden Maßnahmen zu ermöglichen.

Gelangt das Beschwerdegericht bei der abschließenden, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Würdigung der Gesamtumstände10 zu dem Ergebnis, dass eine zeitweise Unterbringung vor Erteilung des Zuschlages keine Aussicht auf Erfolg hat oder aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist bzw. von den hiermit befassten öffentlichen Stellen nicht angeordnet wird, so wird es nach den genannten Maßstäben gleichwohl die Möglichkeit einer befristeten Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens nicht von vornherein mit der bisher gegebenen Begründung ausschließen können, selbst wenn die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustandes des Schuldners gering sein sollten11.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. März 2017 – V ZB 150/16

  1. zum Ganzen: BGH, Beschluss vom 13.10.2016 – V ZB 138/15, MDR 2017, 238 Rn. 11; Beschluss vom 28.01.2016 – V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 6; Beschluss vom 12.11.2014 – V ZB 99/14, NJW-RR 2015, 393 Rn. 7 mwN; vgl. auch BVerfG, ZfIR 2014, 874 Rn. 11 f.[]
  2. vgl. zum Ganzen: BGH, Beschluss vom 28.01.2016 – V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 7; Beschluss vom 12.11.2014 – V ZB 99/14, NJW-RR 2015, 393 Rn. 8 mwN[]
  3. Schmidt-Räntsch, ZfIR 2011, 849, 854; siehe zur primären Zuständigkeit der Behörden und des Betreuungsgerichts für den Lebensschutz auch BVerfG, ZfIR 2014, 874 Rn. 12[]
  4. BGH, Beschluss vom 28.01.2016 – V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 8; Beschluss vom 15.07.2010 – V ZB 1/10, NJW-RR 2010, 1649 Rn. 14 mwN; siehe auch BVerfG, ZfIR 2014, 874 Rn. 11 mwN[]
  5. BGH, Beschluss vom 28.01.2016 – V ZB 115/15, aaO, Rn. 8 mwN[]
  6. LG Siegen, Beschluss vom 26.09.2016 – 4 T 144/16[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 09.10.2013 – I ZB 15/13, NJW 2014, 2288 Rn. 27[]
  8. vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2016 – V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 12[]
  9. BGH, Beschluss vom 28.01.2016 – V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 15; BGH, Beschluss vom 23.06.2010 – XII ZB 118/10, NJW-RR 2010, 1370 Rn. 10[]
  10. vgl. BVerfG, NZM 2014, 701 Rn.19; BGH, Beschluss vom 28.01.2016 – V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn.19; Beschluss vom 06. De- zember 2012 – V ZB 80/12, NZM 2013, 162 Rn. 8[]
  11. vgl. BGH, Beschluss vom 12.11.2014 – V ZB 99/14, NJW-RR 2015, 393 Rn. 13[]
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