Heranziehung zur Kreisumlage – aufgrund einer rückwirkenden Haushaltssatzung

28 Abs. 2 GG verpflichtet den Landkreis, bei der Festsetzung des Kreisumlagesatzes in einer nach Ablauf des Haushaltsjahres erlassenen rückwirkenden Haushaltssatzung die im Zeitpunkt ihres Erlasses vorhandenen Informationen über den Finanzbedarf des Kreises und der kreisangehörigen Gemeinden im betreffenden abgelaufenen Haushaltsjahr zu ermitteln und zu berücksichtigen.

Heranziehung zur Kreisumlage – aufgrund einer rückwirkenden Haushaltssatzung

Die Annahme der Rückwirkung der Satzung 2020 für das Haushaltsjahr 2013 verstößt nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art.20 Abs. 3 GG) abzuleitende Verbot der Rückbewirkung von Rechtsfolgen1. Dieses findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Seine Anwendung setzt einen belastenden Eingriff in eine vom Berechtigten auf der Grundlage der Rechtsordnung erworbene individuelle Rechtsposition voraus. Es gilt nicht, soweit sich ausnahmsweise kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage nicht schutzwürdig war2.

Die Bestimmung des Art. 28 Abs. 2 GG verleiht einer Gemeinde keine individuelle Rechtsposition gegenüber einer solchen Heranziehung3. Anderes mag allenfalls gelten, wenn das Verfahren zur Erhebung der Kreisumlage gegenüber einer Gemeinde mit für sie günstigem Ergebnis rechtskräftig abgeschlossen ist. Das ist hier nicht der Fall. Ein etwaiges Vertrauen der Gemeinde auf den Fortbestand der Rechtslage bis zum Erlass von § 45 Abs. 7 KV M-V, nach der keine landesrechtliche Grundlage für die Behebung von Fehlern einer Haushaltssatzung nach Ablauf des Haushaltsjahres bestand, wäre ebenfalls nicht schutzwürdig4.

Ein über den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes hinausgehender Schutz vor einer rückwirkenden Änderung der Haushaltssatzung nach Ablauf des Haushaltsjahres folgt auch nicht aus dem haushaltsrechtlichen Jährlichkeitsprinzip. Nach der für das Bundesverwaltungsgericht bindenden Auslegung von Landesrecht durch das in der Vorinstanz tätige Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern5 (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO) ermächtigt § 45 Abs. 7 KV M-V auch nach Ablauf eines Haushaltsjahres zu einer rückwirkenden Änderung einer Haushaltssatzung zur Behebung von Fehlern. Dem Bundesrecht sind keine Regelungen zu entnehmen, die dem entgegenstünden. Art. 110 Abs. 2 GG enthält zur Jährlichkeit und ihren möglichen Durchbrechungen lediglich Vorgaben für den Haushaltsplan des Bundes, die nicht vom Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst werden. Auch aus Art. 28 Abs. 2 GG ist kein absolutes Verbot von der Fehlerbehebung dienenden rückwirkenden Haushaltsbeschlüssen nach Ablauf des betreffenden Haushaltsjahres herzuleiten.

Weiterlesen:
Schwere LKWs für Rettungskräfte

Der Grundsatz des finanziellen Gleichrangs aus Art. 28 Abs. 2 GG verpflichtet den Kreis, die grundsätzlich gleichrangigen finanziellen Interessen der Gemeinden in Rechnung zu stellen, und verbietet ihm, seine eigenen Aufgaben und Interessen einseitig und rücksichtslos gegenüber deren Interessen und Aufgaben zu bevorzugen. Er verpflichtet den Kreis dazu, sowohl den eigenen als auch den Finanzbedarf der umlagepflichtigen Gemeinden zu ermitteln und seine Entscheidungen in geeigneter Form offenzulegen, um den Gemeinden und gegebenenfalls den Gerichten eine Überprüfung zu ermöglichen6. Das Berufungsurteil wendet diese Maßstäbe fehlerhaft an, weil es ihre Beachtung schon wegen der Halbierung der ursprünglich angedachten Erhöhung des Kreisumlagesatzes bejaht, ohne die von der Gemeinde vorgetragenen Millionenüberschüsse des Kreises für das betreffende Haushaltsjahr 2013 zu berücksichtigen.

Die Vorschrift des Art. 28 Abs. 2 GG gebietet einen Ausgleich konkurrierender finanzieller Interessen im kreiskommunalen Raum7. Dafür hat der Kreis die jeweiligen Finanzbedarfe zu ermitteln und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Danach sind namhafte Überschüsse im Haushaltsergebnis des Kreises für das betreffende Haushaltsjahr bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Heranziehung zur Kreisumlage zu berücksichtigen, wenn sie im Zeitpunkt der Beschlussfassung des Kreistages über die den Bescheid tragende Haushaltssatzung bekannt waren. Die von der Gemeinde in Bezug genommenen Überschüsse in Millionenhöhe waren den Mitgliedern des Kreistages vor ihrer Beschlussfassung über die Satzung 2020 von einer kreisangehörigen Gemeinde vorgetragen worden. Solche Überschüsse waren in die Ermittlungen des Kreises und in die Abwägung des beschlussfassenden Kreistages einzubeziehen, weil sie den Finanzbedarf des Kreises im Verhältnis zu demjenigen der Gemeinden mindern konnten. Sie sind auch bei der inzidenten gerichtlichen Überprüfung der satzungsrechtlichen Umlage als Rechtsgrundlage der Heranziehung der Gemeinde durch den angefochtenen Bescheid zu berücksichtigen.

Weiterlesen:
Vertrauensschutz im Steuerrecht bei unecht rückwirkenden Gesetzen - und die Vermögenszuwächse im Gewerbebetrieb

Dagegen spricht nicht, dass die Überschüsse aus der ex ante-Sicht der Beschlussfassung über die ursprüngliche Haushaltssatzung im Februar 2013 noch nicht absehbar gewesen sein mögen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung der Rechtmäßigkeit der Haushaltssatzung ist der Zeitpunkt ihres Erlasses. Nichts anderes gilt für eine Satzung, die nach Ablauf des betreffenden Haushaltsjahres rückwirkend zur Behebung von Fehlern der ursprünglichen Haushaltssatzung erlassen wird. Die landesrechtliche Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer solchen Satzung in § 45 Abs. 7 KV M-V bietet keine Grundlage dafür, den für ihre rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt auf denjenigen des Erlasses einer vorherigen Haushaltssatzung zurück zu verlagern. Die auch vom Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegte Pflicht des Kreises, die im Vorfeld des Satzungsbeschlusses vom 20.02.2020 ermittelten finanziellen Bedarfe zu berücksichtigen, trägt dem Gebot des Art. 28 Abs. 2 GG Rechnung, beim Erlass der Haushaltssatzung sicherzustellen, dass das Recht der Gemeinden auf aufgabenadäquate Finanzausstattung gewahrt wird. Erlaubt das Landesrecht zur Fehlerbehebung den erneuten Beschluss einer Haushaltssatzung auch nach Ablauf des Haushaltsjahres, hat die Ermittlung, Berücksichtigung und Gewichtung der finanziellen Belange des Kreises und der kreisangehörigen Gemeinden ergebnisoffen zu erfolgen; sie darf nicht von vornherein auf eine Bestätigung des zuvor gefassten Beschlusses beschränkt sein8. Diese Ergebnisoffenheit setzt voraus, dass alle im Zeitpunkt der Beschlussfassung vorliegenden Informationen über die finanzielle Situation des Kreises und der Gemeinden im betreffenden Haushaltsjahr betrachtet und in die Gewichtung einbezogen werden, auch wenn sie über die bei Erlass der ursprünglichen Haushaltssatzung aus der damaligen prognostischen ex ante-Sicht bekannten Informationen hinausgehen. Dass bei regulärem Erlass einer Haushaltssatzung nur prognostisch eingeschätzt werden kann, welcher Umlagesatz dem finanziellen Gleichrang von Kreis und Gemeinden und dem Recht der Gemeinden auf finanzielle Mindestausstattung und Wahrung ihrer Steuerhoheit Rechnung trägt, reduziert diese materiell-rechtlichen Gewährleistungen nicht auf ein Erfordernis fehlerfreier Prognose. Vielmehr hat der Kreis bei der Festlegung des Umlagesatzes die im Zeitpunkt der jeweiligen Beschlussfassung zur Verfügung stehenden, für die Wahrung der verfassungsrechtlichen Vorgaben erheblichen Informationen zu berücksichtigen. Bei rückwirkenden Haushaltssatzungen zur Fehlerbehebung schließt dies eine Berücksichtigung der zwischenzeitlich angefallenen, bei Erlass dieser Satzungen verfügbaren Daten mit ein.

Weiterlesen:
Verspätete Anordnung eines Aufbauseminars

Die Berücksichtigung von nach Ablauf des betreffenden Haushaltsjahres bekannt gewordenen Informationen begegnet keinen Bedenken im Hinblick auf ein haushaltsrechtliches Periodizitätsprinzip. Unabhängig von der Frage, ob Bundesrecht der kommunalverfassungsrechtlichen Haushaltsaufstellung ein solches Prinzip vorgibt, wäre dieses bei rückwirkendem Satzungserlass durch die Einbeziehung zwischenzeitlicher Erkenntnisse über die damalige Finanzlage nicht berührt. § 45 Abs. 7 KV M-V begrenzt den Regelungsgegenstand von Satzungen zur Fehlerbehebung auf das betreffende Haushaltsjahr und hält damit die für die ursprüngliche Haushaltssatzung maßgebliche Periode ein.

Die vom Landkreis vorgetragenen Praktikabilitätserwägungen stellen die Pflicht zur Berücksichtigung zwischenzeitlich gewonnener Erkenntnisse nicht in Frage. Eine Korrektur des Umlagesatzes für das betreffende Haushaltsjahr führt nicht dazu, dass die Haushaltssatzungen und Heranziehungsbescheide für die nachfolgenden Haushaltsjahre aufzuheben und an veränderte Bedarfszahlen anzupassen wären. Die materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit von Haushaltssatzungen bestimmt sich nach dem Zeitpunkt ihres Erlasses; diejenige der auf ihrer Grundlage ergangenen Heranziehungsbescheide richtet sich nach dem Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung. Satzungen, denen eine ex ante-Prognose des Finanzbedarfs des Kreises und der kreisangehörigen Gemeinden zugrunde lag, und die auf ihrer Grundlage ergangenen Bescheide werden deshalb nicht nachträglich fehlerhaft, wenn der Umlagesatz für ein vorangehendes Haushaltsjahr durch eine rückwirkende Satzung zur Fehlerbehebung gemäß § 45 Abs. 7 KV M-V verändert wird. Dadurch geminderte Einnahmen des Kreises und etwaige Verpflichtungen zur Rückerstattung überzahlter Umlagen an die Gemeinden schlagen erst in der nächsten zu erlassenden Haushaltssatzung zu Buche.

Weiterlesen:
Berichtigung einer Rechnung - mit Rückwirkung

Soweit das Grundgesetz den Gemeinden selbst Steuerkraft zuerkennt, darf der Landesgesetzgeber – oder der Kreis auf landesgesetzlicher Grundlage – ihnen diese nicht wieder zur Gänze entziehen. Neben dem Schutz der gemeindlichen Ertragshoheit darf die Erhebung von Umlagen auch nicht dazu führen, dass die gemeindliche Regelungsbefugnis als Grundlage einer örtlichen Wirtschafts- und Steuerpolitik im Sinne einer „finanziellen Eigenverantwortung“ (Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG) entwertet wird9

Schließlich darf nicht offenbleiben, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß die durch Art. 28 Abs. 2 GG gewährleistete finanzielle Mindestausstattung der Gemeinde durch die Heranziehung zur Kreisumlage unterschritten wird10. Im Ansatz zutreffend geht es davon aus, dass die aufgabenadäquate Finanzausstattung der jeweiligen Gemeinde zu prüfen ist. Es stellt auch zu Recht auf die finanzielle Gesamtsituation der Gemeinde ab und nimmt an, dass dabei Möglichkeiten der Kompensation einer strukturellen und dauerhaften Unterfinanzierung durch Zuschüsse oder eine Befreiung von der Umlageerhebung zu berücksichtigen sind11. Das Urteil schließt einen Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 GG jedoch rechtsfehlerhaft trotz für möglich gehaltener struktureller und dauerhafter Unterfinanzierung schon aus, wenn eine Ermächtigung zur Befreiung kreisangehöriger Gemeinden von der Umlageerhebung besteht, ohne auf die Erfolgsaussichten eines Befreiungsantrags abzustellen. Dabei übersieht es, dass nur für die betroffene, unterfinanzierte Gemeinde erfolgversprechende Möglichkeiten zusätzliche Finanzmittel oder eine Befreiung von der Umlage zu erlangen, eine Verletzung von Art. 28 Abs. 2 GG ausschließen können11.

Weiterlesen:
Karlsruhe - und die Armenien-Resolution des Bundestages

Um einen solchen Verfassungsverstoß abzuwenden, muss sich der Satzungsgeber vergewissern, dass eine notleidende Gemeinde im konkreten Fall anderweitige Finanzierungsmöglichkeiten erlangen kann. Dies setzt voraus, dass sie im maßgeblichen Zeitpunkt des Satzungserlasses einen verfahrensrechtlich noch zu verwirklichenden Anspruch auf ausreichende zusätzliche Finanzmittel oder auf eine Befreiung von der Umlage hat. Dessen Voraussetzungen müssen bereits bei der Heranziehung zur Kreisumlage geprüft werden. Nur so ist zu verhindern, dass der angegriffene Heranziehungsbescheid in Bestandskraft erwächst, obwohl die unterfinanzierte Gemeinde – bei Fehlen der Anspruchsvoraussetzungen – in ihren verfassungsrechtlich garantierten Rechten verletzt wird.

Von tatsächlichen Feststellungen zum Vorliegen und zum Ausmaß einer strukturellen und dauerhaften Unterfinanzierung darf das Gericht nur bei einem Anspruch der Gemeinde auf eine vollständige Befreiung von der streitgegenständlichen Kreisumlage absehen. 

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. November 2022 – 8 C 13.21

  1. vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 Rn. 38[]
  2. stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 Rn. 61; Beschluss vom 07.04.2022 – 2 BvR 2194/21 – DVBl.2022, 1030 Rn. 81 m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 25.11.2020 – 8 C 21.19, Buchholz 11 Art.20 GG Nr. 236 Rn. 16[]
  3. vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 25.11.2020 – 8 C 21.19, Buchholz 11 Art.20 GG Nr. 236 Rn. 14[]
  4. vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 25.11.2020 – 8 C 21.19, Buchholz 11 Art.20 GG Nr. 236 Rn. 13[]
  5. OVG M-V, Urteil vom 28.10.2020 – 2 L 463/16[]
  6. BVerwG, Urteile vom 31.01.2013 – 8 C 1.12, BVerwGE 145, 378 Rn. 13 f.; vom 29.05.2019 – 10 C 6.18, BVerwGE 165, 381 Rn. 13; und vom 27.09.2021 – 8 C 30.20, BVerwGE 173, 274 Rn.19[]
  7. vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2019 – 10 C 6.18, BVerwGE 165, 381 Rn. 17[]
  8. vgl. BVerwG, Urteil vom 27.09.2021 – 8 C 30.20, BVerwGE 173, 274 Rn. 23[]
  9. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 8 C 1.12, BVerwGE 145, 378 Rn. 16 f.[]
  10. vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 8 C 1.12, BVerwGE 145, 378 Rn. 18 ff.[]
  11. vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2019 – 10 C 6.18, BVerwGE 165, 381 Rn. 21[][]
Weiterlesen:
Bordelle - und das Betriebsverbot wegen Corona

Bildnachweis:

  • Rathaus: AnnaER | Pixabay-Lizenz