Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden.

Dies gilt im Besonderen Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten.
Bei der rechtlichen Beurteilung des ärztlichen Handelns ist zwar grundsätzlich der medizinische Standard zum Zeitpunkt der Behandlung zu Grunde zu legen. Später bekannt gewordene Umstände, neue klinische Entwicklungen und Erfahrungen, nachträgliche wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungsergebnisse können sich zu Gunsten des Arztes auswirken, soweit sie seine therapeutischen Maßnahmen rechtfertigen1.
Oberlandesgericht Braunschweig, Teilurteil vom 12. Juli 2012 – 1 U 1/04
- vgl. BGH, Urteil vom 18.03.2003 – VI ZR 266/02 = VersR 2003, 858 mwNw zur dort zitierten und nicht beanstandeten Rechtsmeinung; ebenso Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl, Rn.19a[↩]