Wiederaufnahme auf Grund neuer Tatsachen – und ein mögliches Beweisverwertungsverbot

Ob die Klage im Sinne des § 211 StPO auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel (sog. Nova) wieder aufgenommen werden durfte, überprüft das Revisionsgericht als besondere Prozessvoraussetzung auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens vorliegenden Akteninhalts.

Wiederaufnahme auf Grund neuer Tatsachen – und ein mögliches Beweisverwertungsverbot

Bestand bei Eröffnung hiernach bezüglich der Nova ein Beweisverwertungsverbot, so ist dies im Revisionsverfahren ebenso wie im Eröffnungs- und Hauptverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen; eines Verwertungswiderspruchs des Angeklagten bedarf es nicht.

Aus § 210 Abs. 1 und 2 StPO, wonach ein Eröffnungsbeschluss für den Angeklagten nicht, für die Staatsanwaltschaft mit der sofortigen Beschwerde nur ausnahmsweise – im Fall der Verweisung an ein Gericht niederer Ordnung – anfechtbar ist, ergeben sich für den Bundesgerichtshof bei der Überprüfung des Eröffnungsbeschlusses des Landgerichts vom 26.06.2015 im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 211 StPO keine Einschränkungen. § 336 Satz 2 StPO, der ausdrücklich für unanfechtbar erklärte und mit der sofortigen Beschwerde anfechtbare Entscheidungen der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzieht, steht dem nicht entgegen.

Vor Einführung des § 336 Satz 2 StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 19791 ging die höchstrichterliche Rechtsprechung davon aus, dass es sich bei dem Vorliegen von Nova im Sinne des § 211 StPO um eine besondere Prozessvoraussetzung handelt, die vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen ist2. Dies ist in späteren Entscheidungen und in der Kommentarliteratur übernommen worden, ohne dass die neu geschaffene Vorschrift des § 336 Satz 2 StPO problematisiert worden ist3.

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In jüngerer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Art. 103 Abs. 3 GG eine einschränkende Auslegung des § 210 Abs. 1 StPO dahin gebietet, dass in dessen Anwendungsbereich der Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens bei vorausgegangener rechtskräftiger Nichteröffnung nach § 211 StPO nicht einbezogen ist4; Art. 103 Abs. 3 GG verbiete nicht nur jede Doppelbestrafung, sondern gewährleiste auch den Schutz vor doppelter Strafverfolgung. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf erkannt, dass der Eröffnungsbeschluss in dem Zweitverfahren mit der (einfachen) Beschwerde – im dortigen Ausgangsverfahren war diese sieben Monate nach der Eröffnungsentscheidung eingelegt worden – anfechtbar ist, und dies mit der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer zeitnahen justizförmigen Überprüfung der Nova begründet. Mit der Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde gemäß § 311 StPO in analoger Anwendung des § 210 Abs. 2 StPO hat es sich nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – auseinandergesetzt. Dies wäre deshalb in Betracht gekommen, weil die sofortige Beschwerde das einzig statthafte Rechtsmittel ist, welches das Gesetz in Bezug auf einen Eröffnungsbeschluss kennt, und sie weit eher eine zeitnahe Überprüfung der Eröffnungsentscheidung gewährleisten würde.

Weil diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechung den Bundesgerichtshof freilich bindet, hat er von der Statthaftigkeit der (einfachen) Beschwerde auszugehen, mit der Folge, dass schon deshalb die Vorschrift des § 336 Satz 2 StPO der revisionsgerichtlichen Kontrolle eines nach § 211 StPO gefassten Eröffnungsbeschlusses nicht entgegensteht.

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Die Überprüfung des Eröffnungsbeschlusses in dem Zweitverfahren ist auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Eröffnung vorliegenden Akteninhalts vorzunehmen. Bei der Eröffnungsentscheidung handelt es sich auch im Fall des § 211 StPO um eine vorläufige Tatbewertung anhand der dem Gericht vorliegenden Akten, die nicht im Nachhinein deshalb unrichtig wird, weil sich das Wahrscheinlichkeitsurteil nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung nicht bestätigt. Hat das Eröffnungsgericht dieses Wahrscheinlichkeitsurteil ohne Rechtsverstoß getroffen, bleibt die besondere Prozessvoraussetzung für das neue Verfahren daher bestehen5.

Prüfungsmaßstab für das Revisionsgericht ist die Frage, ob die Tatsachen oder Beweismittel für das eröffnende Gericht im Sinne des § 211 StPO neu und erheblich gewesen sind. Als neu sind sie zu bewerten, wenn sie dem Gericht, das die Eröffnung zuvor abgelehnt hatte, aus den Akten nicht ersichtlich waren6. Sie sind dann erheblich, wenn sie vom Standpunkt des eröffnenden Gerichts aus geeignet gewesen sind, allein oder im Zusammenwirken mit den übrigen, dem Erstgericht schon bekannt gewesenen Tatsachen und Beweismitteln die Frage nach dem Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne des § 203 StPO nunmehr anders zu beurteilen als bisher7.

Bei dieser Prüfung hat ein mögliches Beweisverwertungsverbot nicht schon deswegen außer Betracht zu bleiben, weil – so Formulierungen in einigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs8 – bereits dessen Entstehung von einem hierauf bezogenen rechtzeitigen Widerspruch des Angeklagten in der Hauptverhandlung abhängig wäre. Strenggenommen bedeutete dies, dass das Verwertungsverbot zum Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung noch gar nicht bestanden haben könnte9. Eine solche Schlussfolgerung ist indes ersichtlich noch nicht gezogen worden. Vielmehr wird allgemein davon ausgegangen, dass bei der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts im Rahmen der Eröffnungsentscheidung mögliche Beweisverwertungsverbote zu berücksichtigen sind, weil für die Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht nur der materielle Verdachtsgrad, sondern auch die tatsächliche Beweisbarkeitsprognose gegeben sein muss10. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass Verwertungsverbote bereits durch den jeweiligen Gesetzesverstoß, nicht erst durch ein Untätigbleiben in der Hauptverhandlung begründet werden und bei der Eröffnungsentscheidung unabhängig von einer Beanstandung durch den Angeschuldigten von Amts wegen zu beachten sind11.

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Bundesgerichtshof, Beschluss vom 1. Dezember 2016 – 3 StR 230/16

  1. vom 05.10.1978, BGBl. I S. 1645[]
  2. vgl. RG, Urteile vom 16.04.1912 – V 1263/11, RGSt 46, 67, 71 f.; vom 10.05.1921 – IV 20/21, RGSt 56, 91 f.; vom 01.12 1922 – IV 457/22, RGSt 57, 158; vom 18.02.1926 – II 11/26, RGSt 60, 99 f.; BGH, Urteil vom 18.01.1963 – 4 StR 385/62, NJW 1963, 1019, 1020 [insoweit in BGHSt 18, 225 nicht abgedruckt][]
  3. vgl. BGH, Beschlüsse vom 21.12 1988 – 3 StR 460/88, BGHR StPO § 211 neue Tatsachen 1; vom 18.08.1993 – 5 StR 469/93, BGHR StPO § 211 neue Tatsachen 2; HK-StPO-Julius, 5. Aufl., § 211 Rn. 12; SK-StPO/Paeffgen, 5. Aufl., § 211 Rn. 13; Radtke/Hohmann/Reinhart, StPO, § 211 Rn. 6; Graf/Ritscher, StPO, 2. Aufl., § 211 Rn. 4; KK-Schneider, StPO, 7. Aufl., § 211 Rn. 13; KMR/Seidl, 63. EL, § 211 Rn. 24; LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 211 Rn. 29; MünchKomm-StPO/Wenske, § 211 Rn. 56[]
  4. Beschluss vom 03.09.2004 – 2 BvR 2001/02, StV 2005, 196 f.[]
  5. vgl. LR/Stuckenberg aaO, Rn. 25, 29; ferner KK-Schneider aaO; MünchKomm-StPO/Wenske aaO, Rn. 31, 51 f.[]
  6. vgl. MünchKomm-StPO/Wenske aaO, Rn.20; LR/Stuckenberg aaO, Rn. 11; KK-Schneider aaO, Rn. 4[]
  7. vgl. BGH, Urteil vom 18.01.1963 – 4 StR 385/62, NJW 1963, 1019, 1020; OLG Frankfurt, Beschluss vom 23.11.2001 – 3 Ws 662/01, NStZ-RR 2002, 78; KK-Schneider aaO, Rn. 5; LR/Stuckenberg aaO, Rn. 12; MünchKomm-StPO/Wenske aaO, Rn. 23[]
  8. vgl. BGH, Urteile vom 28.10.1986 – 1 StR 507/86, NStZ 1987, 132, 133; vom 12.01.1996 – 5 StR 756/94, BGHSt 42, 15, 22; vom 19.03.1996 – 1 StR 497/95, NJW 1996, 2239, 2241 [insoweit in BGHSt 42, 86 nicht abgedruckt]; ähnlich Beschluss vom 11.07.2008 – 5 StR 202/08, NStZ 2008, 643; s. andererseits – „Rügepräklusion“ infolge Nichtausübung eines „prozessualen Gestaltungsrechts“ – Beschlüsse vom 09.11.2005 – 1 StR 447/05, NJW 2006, 707; vom 20.10.2014 – 5 StR 176/14, BGHSt 60, 38, 43 f.; vom 27.09.2016 – 4 StR 263/16[]
  9. zur Unbeachtlichkeit des vor der Hauptverhandlung erklärten Widerspruchs s. BGH, Beschluss vom 17.06.1997 – 4 StR 243/97, NStZ 1997, 502 f.[]
  10. auf das Problem eingehend – soweit ersichtlich – nur MünchKomm-StPO/Wenske, § 203 Rn. 30 f.; vgl. auch LR/Stuckenberg aaO, § 203 Rn. 15; KK-Schneider aaO, § 203 Rn. 7[]
  11. vgl. BVerfG, Urteil vom 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99, NJW 2004, 999, 1007; BGH, Beschlüsse vom 04.04.1990 – StB 5/90, BGHSt 36, 396; vom 15.05.2008 – StB 4 und 5/08, NStZ 2008, 643; Becker, Referat zum 67. DJT, 2008, S. L 45, 55 f. mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 203 Rn. 2[]
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