Der Wartepflichtige darf nicht blindlings darauf vertrauen, dass der rechts blinkende Vorfahrtsberechtigte auch tatsächlich nach rechts abbiegt, so dass der Wartepflichtige gefahrlos in die Vorfahrtstraße einfahren kann. Vielmehr bedarf es zumindest eines weiteren Anzeichens, das aus Sicht des Wartepflichtigen diesen Schluss zulässt, sei es dass der Vorfahrtberechtigte sich bereits deutlich nach rechts eingeordnet hat oder er seine Geschwindigkeit (ohne sonstigen erkennbaren Anlass) deutlich reduziert.

Auch wenn das Fahrverhalten des Vorfahrtberechtigten in diesem Sinn missverständlich ist, ist gemäß § 17 StVG gleichwohl dem Wartepflichtigen regelmäßig ein höherer Haftungsanteil (hier: 70:30) zuzuordnen.
Nach der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung [1] darf der Wartepflichtige nur dann auf ein Abbiegen des Vorfahrtberechtigten vertrauen, wenn über das bloße Betätigen des Blinkers hinaus in Würdigung der Gesamtumstände, sei es durch eine eindeutige Herabsetzung der Geschwindigkeit oder aber einen zweifelsfreien Beginn des Abbiegemanövers, eine zusätzliche tatsächliche Vertrauensgrundlage geschaffen worden ist, die es im Einzelfall rechtfertigt, davon auszugehen, das Vorrecht werde nicht (mehr) ausgeübt [2]; der Wartepflichtige darf also niemals „blindlings“ [3] auf das Abbiegen des Blinkenden vertrauen. Nicht erforderlich ist, dass über das Blinken nach rechts hinaus kumulativ neben einer eindeutigen Geschwindigkeitsreduktion, die auf ein Abbiegen hindeutet, zusätzlich ein Einordnen nach rechts gegeben sein muss. Dies wird zwar – erst recht – den Schluss rechtfertigen, dass der Blinkende ein Abbiegen plant, doch ist lediglich erforderlich, dass neben dem Blinken zumindest ein weiteres deutliches Anzeichen dafür gegeben ist, dass der Vorfahrtberechtigte tatsächlich vor dem Wartepflichtigen abbiegt.
Gemessen daran war der Behauptung der Beklagten, der Kläger habe neben einem eindeutigen Blinken nach rechts auch seine Geschwindigkeit maßgeblich reduziert, so dass bei dem hinter dem Kläger fahrenden Zeugen P. der Eindruck entstanden sei, der Vorausfahrende würde nun nach rechts abbiegen, im Wege der Beweisaufnahme nachzugehen. Zwar haben die Beklagten keine exakten (d.h. bezifferten) Angaben zur behaupteten „deutlichen“ Geschwindigkeitsverminderung gemacht, doch genügt dies – regelmäßig – für einen dem Beweis zugänglichen substantiierten Sachvortrag, zumal der Wartepflichtige andernfalls genötigt würde, vermeintlich genau bezifferte Angaben zur Geschwindigkeitsreduktion ins Blaue hinein aufzustellen. Erforderlich, aber auch genügend ist in diesen Fällen, wenn der Wartepflichtige darlegt und und unter Beweis stellt, dass der Vorfahrtberechtigte seine Geschwindigkeit so deutlich verringerte, dass bei objektiver Würdigung der Eindruck bei dem Wartepflichtigen entstehen musste, er könne gefahrlos auf die Vorfahrtstraße auffahren.
Nach der Rechtsprechung sind zwar Zeugenangaben zu gefahrenen Geschwindigkeiten, von eng umgrenzten Ausnahmefällen abgesehen, regelmäßig ohne großen Beweiswert. Anderes gilt nach Überzeugung des Oberlandesgerichts Dresden aber für die Frage, ob ein Pkw im oben genannten Sinne seine Geschwindigkeit maßgeblich reduziert. Dies gilt jedenfalls für jene Zeugen, die sich in einer Position befinden, aus der heraus sich diese Verminderung der Geschwindigkeit gut beobachten lässt. Insbesondere gilt dies für Zeugen, die hinter dem abbremsenden Vorfahrtberechtigten fahren und selbst auf dieses Abbremsen reagieren (müssen).
Ist hiernach der Nachweis eines unfallmitursächlichen, missverständlichen Verkehrsverhaltens des Unfallgegners, mithin eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO, geglückt, sind sodann die wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge gemäß § 17 Abs. 1 StVG gegeneinander abzuwägen. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Dresden [4] trägt bei einem Aufeinandertreffen von Vorfahrtverstoß (§ 8 StVO) einerseits und missverständlichem Verhalten (§ 1 Abs. 2 StVO) andererseits derjenige Unfallbeteiligte die Hauptverantwortung, dem der Vorfahrtverstoß zur Last fällt. Insoweit hält das Oberlandesgericht auch im vorliegenden Fall eine Haftungsverteilung von 70:30 zulasten der Beklagten, die sich die Vorfahrtverletzung ihrer Versicherten zurechnen lassen muss, für insgesamt angemessen und sachgerecht [5].
Oberlandesgericht Dresden, Urteil vom 20. August 2014 – 7 U 1876/13
- vgl. ausführlich OLG Dresden, Beschluss vom 24.04.2014 – 7 U 1501/13[↩]
- OLG Saarbrücken, a.a.O.; OLG Hamm, Urteil vom 11.03.2003 – 9 U 169/02, NJW-RR 2003, 975; OLG Celle, Urteil vom 22.02.1996 – 5 U 71/95, juris; KG, Urteil vom 13.01.1992 – 12 U 5054/90, juris; OLG Oldenburg, Beschluss vom 25.05.1992 – Ss 130/92, NJW 1993, 149; OLG Düsseldorf, Urteil vom 23.03.1992 – 1 U 99/91, OLGR 1992, 189; OLG Hamm, Beschl v. 22.03.1991 – 2 Ss OWi 230/91, juris; KG, Urteil vom 29.09.1989 – 12 U 4646/88, juris; OLG Saarbrücken, Urteil vom 02.10.1981 – 3 U 109/80, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 13.11.1980 – 3 Ss OWi 2478/80, juris; ausdrücklich offengelassen von OLG Düsseldorf, Urteil vom 10.06.1976 – 12 U 135/75, juris; ebenso jetzt wohl auch: OLG München, Urteil vom 06.09.2013 – 10 U 2336/13, SVR 2014, 10[↩]
- so OLG Koblenz, Urteil vom 03.04.1995 – 12 U 761/94[↩]
- vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 24.04.2014, a.a.O.[↩]
- vgl. auch OLG Hamm, Urteil vom 11.03.2003, a.a.O. und OLG München, Urteil vom 06.09.2013 – 10 U 2336/13, SVR 2014, 105[↩]