Ent­schä­di­gung für „zu­ge­schwom­me­ne“ Be­triebs­grund­stücke

Grund­stücks­be­zo­ge­ne Ver­bind­lich­kei­ten (hier: Grund­schuld), die in der Zeit vom 15. Sep­tem­ber 1935 bis 8. Mai 1945 ent­stan­den sind, blei­ben auch dann gemäß § 2 Satz 5 Teil­satz 3 NS-VEntschG un­be­rück­sich­tigt, wenn sie an einem sog. „zu­ge­schwom­me­nen“ (im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 4 VermG spä­ter an­ge­schaff­ten) Grund­stück von dem Nach­fol­ge­un­ter­neh­men ein­ge­gan­gen wur­den.

Ent­schä­di­gung für „zu­ge­schwom­me­ne“ Be­triebs­grund­stücke

Für die Berechnung der grundstücksbezogenen (Singular-)Entschädigung gelten gemäß § 2 Satz 5 Teilsatz 1 NS-VEntschG die Vorschriften des § 3 Abs. 1 Satz 2 und 3 und § 3 Abs. 2 bis 4 EntschG entsprechend, wobei die Modifikationen in § 2 Satz 2 und § 2 Satz 5 Teilsatz 3 NS-VEntschG zu berücksichtigen sind. Das Verwaltungsgericht hat zwar im Einklang mit § 2 Satz 5 Teilsatz 1 NS-VEntschG i.V.m. § 3 Abs. 4 Satz 1 EntschG als Ausgangswert der Berechnung auf den im Grundstückskaufvertrag angegebenen Einheitswert von 183 400 RM abgestellt. Ihm ist aber – infolge der nicht gesondert berechneten Entschädigung für das Betriebsgrundstück – insoweit ein Bundesrechtsverstoß unterlaufen, als es diesen Wert nicht gemäß § 2 Satz 2 NS-VEntschG vor einem etwaigen Abzug langfristiger Verbindlichkeiten vervierfacht hat. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht dadurch Bundesrecht verletzt, dass es die an dem Grundstück anlässlich seiner Anschaffung im Jahr 1939 als Kreditsicherheit bestellte Grundschuld als abzugsfähige Verbindlichkeit berücksichtigt hat.

Die Entschädigung für ein nach § 3 Abs. 1 Satz 4 Teilsatz 4 VermG später angeschafftes Betriebsgrundstück als Folge der erweiterten Singularrestitution ist eine gesonderte Entschädigung, die in Durchbrechung des § 3 Abs. 1 Satz 3 Teilsatz 1 VermG zusätzlich zu einer etwaigen Unternehmensrestitution bzw. Unternehmensentschädigung1 zu gewähren ist. Sie ist entsprechend ihres Gegenstandes der Art nach eine (reine) Grundstücksentschädigung. Ihre Berechnung ist daher nach den Regeln über die Entschädigung für Grundvermögen durchzuführen. Dass die Einzelgegenstandsrestitution bzw. Einzelgegenstandsentschädigung nur als Folge einer Unternehmensschädigung gewährt wird, ändert daran nichts2.

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Nach § 2 Satz 2 NS-VEntschG ist Bemessungsgrundlage der Entschädigung bei Vermögensgegenständen, für die ein Einheitswert festgestellt wird, das Vierfache3 des vor der Schädigung zuletzt festgestellten Einheitswertes.

Maßgeblicher Schädigungszeitpunkt im Sinne des § 2 Satz 2 NS-VEntschG für ein sog. „zugeschwommenes“ Betriebsgrundstück ist der Zeitpunkt, in dem das Grundstück erworben wurde. Denn dieser Zeitpunkt ist nach der vermögensrechtlichen Wertung („später angeschafft“) für die Zugriffsmöglichkeit der Geschädigten auf den Gegenstand rechtlich entscheidend4. Die Bemessungsgrundlage beträgt somit 733 600 RM.

Nach § 2 Satz 5 Teilsatz 1 NS-VEntschG i.V.m. § 3 Abs. 4 Satz 1 EntschG sind langfristige Verbindlichkeiten, die mit dem Grundstück im Zeitpunkt der Schädigung in wirtschaftlichem Zusammenhang standen oder an ihm dinglich gesichert waren, von der Bemessungsgrundlage abzuziehen. Zwar gilt für Entschädigungen grundsätzlich das in § 2 Satz 5 Teilsatz 1 NS-VEntschG zum Ausdruck kommende sog. Nettoprinzip. § 2 Satz 5 Teilsatz 3 NS-VEntschG, der grundsätzlich auch bei der Berechnung der Entschädigung für sog. „zugeschwommene“ Betriebsgrundstücke Anwendung findet5, schränkt dieses Prinzip jedoch ein, indem er nach seinem klarem Wortlaut den Abzug von Verbindlichkeiten untersagt, die in der Zeit vom 15.09.1935 bis 8.05.1945 entstanden sind. Die Anrechnung der Grundschuld kann nicht über eine teleologisch einschränkende Auslegung dieser Vorschrift erreicht werden. Eine entsprechende Anwendung der Fiktion des § 3 Abs. 1 Satz 4 Teilsatz 4 VermG scheidet aus.

Der Gesetzgeber hat mit der Verweisung in § 2 Satz 5 Teilsatz 1 NS-VEntschG auf § 3 Abs. 4 EntschG unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass auch die Entschädigung durch NSverfolgungsbedingte Zwangsmaßnahmen nach dem sog. Nettoprinzip zu erfolgen hat6. Nur der tatsächlich bei dem Geschädigten im Zeitpunkt der Schädigung vorhandene wirtschaftliche Wert des geschädigten Vermögensgegenstandes soll Gegenstand einer Entschädigungsleistung sein. Denn wirtschaftlich betrachtet waren die Geschädigten nur in diesem Umfang entreichert. Dementsprechend sind langfristige, im Zusammenhang mit dem zu entschädigenden Grundstück stehende Verbindlichkeiten entschädigungsmindernd zu berücksichtigen, da sie die entschädigungsfähige Substanz minderten. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EntschG, der anordnet, dass diese Verbindlichkeiten von der Bemessungsgrundlage – im Fall der Entschädigung für Grundvermögen also von einem Vielfachen (hier: dem Vierfachen) des Grundstückseinheitswertes – abzuziehen sind, hat insoweit lediglich klarstellende Funktion. Daher ist es unschädlich, dass auf diese Vorschrift in § 2 Satz 5 Teilsatz 1 NS-VEntschG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird, zumal sich ihre Anwendbarkeit über § 3 Abs. 4 EntschG erschließt.

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Allerdings modifiziert § 2 Satz 5 Teilsatz 3 NS-VEntschG das sog. Nettoprinzip im Hinblick auf die entschädigungsmindernde Berücksichtigung langfristiger Verbindlichkeiten. Danach findet § 3 Abs. 4 EntschG mit der Maßgabe Anwendung, dass die in der Zeit vom 15.09.1935 bis 8.05.1945 entstandenen Verbindlichkeiten unberücksichtigt bleiben und die übrigen Verbindlichkeiten vorbehaltlich des Nachweises eines höheren verfolgungsbedingten Anteils mit der Hälfte ihres zum Zeitpunkt der Schädigung valutierenden Nennwertes abgezogen werden. Diese Privilegierung trägt dem zeitgeschichtlichen Erfahrungswissen Rechnung, dass schon seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30.01.1933 Verbindlichkeiten häufig verfolgungsbedingt entstanden waren und außerdem die wirtschaftliche Betätigung jüdischer Bürger massiv behindert wurde, sodass sie häufig nicht in der Lage waren, bestehende Verbindlichkeiten zu tilgen. Dies gilt umso mehr für Verbindlichkeiten, die nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze am 15.09.1935 entstanden sind4. Hinsichtlich Letzterer ist daher die entschädigungsmindernde Berücksichtigung vollständig ausgeschlossen. Für davor entstandene Verbindlichkeiten wird vorbehaltlich des Nachweises eines höheren verfolgungsbedingten Anteils pauschalierend davon ausgegangen, dass solche Verbindlichkeiten zur Hälfte verfolgungsbedingt waren und deshalb nur zur Hälfte entschädigungsmindernd berücksichtigt werden können7.

Die Gerichte sind nur ausnahmsweise befugt, den Wortlaut einer Vorschrift zu korrigieren, wenn die gesetzliche Regelung nach ihrem Wortsinn Sachverhalte erfasst, die sie nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht erfassen soll. In einem solchen Fall ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege der teleologischen Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen8. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich des § 2 Satz 5 Teilsatz 3 NS-VEntschG nicht vor.

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Gemessen an dem aufgezeigten Zweck kann § 2 Satz 5 Teilsatz 3 NS-VEntschG nicht dahin eingeschränkt werden, dass die Privilegierung der in der Zeit vom 15.09.1935 bis zum 8.05.1945 entstandenen Verbindlichkeiten hinsichtlich solcher Verbindlichkeiten entfällt, die – wie hier – im Zusammenhang mit oder nach dem Erwerb des später angeschafften Betriebsgrundstücks bestellt wurden. Von der Privilegierung werden vielmehr auch Verbindlichkeiten erfasst, die nach der verfolgungsbedingten Schädigung aufgenommen wurden, ohne dass der Geschädigte dies zu beeinflussen vermochte4. Die Privilegierung derartiger Verbindlichkeiten kann mit Rücksicht auf den Normzweck insbesondere auch nicht von der Feststellung abhängig gemacht werden, dass – was hier nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zweifelhaft sein mag – der für den Erwerb des Grundstücks eingesetzte Betrag aus dem entzogenen Unternehmen stammte. Denn die Frage der Privilegierung stellt sich erst, wenn der Anspruch auf gesonderte Entschädigung für das Betriebsgrundstück dem Grund nach bejaht wurde. Ist dies – wie im vorliegenden Fall bindend festgestellt – der Fall, steht damit zugleich fest, dass der Grundstückserwerb gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 Teilsatz 1 und 2 VermG mit Mitteln des Unternehmens erfolgte. Dies kann daher im Verfahren über die Festlegung der Höhe der Entschädigung nicht (erneut) geprüft werden.

Der Anspruch auf gesonderte Entschädigung für das Betriebsgrundstück erweitert den ergänzend zur Unternehmensrestitution bzw. Unternehmensentschädigung gewährten Anspruch auf Einzelrestitution dieses Grundstücks nach § 3 Abs. 1 Satz 4 VermG. Infolgedessen setzt er – wie der Anspruch auf Einzelrestitution – dem Grunde nach voraus, dass das sog. „zugeschwommene“ Betriebsgrundstück gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 Teilsatz 1 und 2, § 3 Abs. 1 Satz 6 VermG mit Mitteln des Unternehmens erworben wurde. Ist dies der Fall, erstreckt sich der verfolgungsbedingte Charakter der (Unternehmens-)Anteilsschädigung nicht nur auf den Erwerb des später angeschafften Betriebsgrundstücks, der als solcher in der Regel ebenfalls keinen diskriminierenden oder sonst benachteiligenden Charakter aufweist, sondern auch auf die an dem Grundstück im Zusammenhang mit oder nach seinem Erwerb bestellten Verbindlichkeiten. Es würde auf einen Wertungswiderspruch hinauslaufen, diese Verbindlichkeiten bei der grundstücksbezogenen Entschädigung mangels eines eigenständigen verfolgungsbedingten Zusammenhangs von dem Anwendungsbereich des § 2 Satz 5 Teilsatz 3 NS-VEntschG auszunehmen mit der Folge, dass sie gegebenenfalls nach § 2 Satz 5 Teilsatz 1 NS-VEntschG i.V.m. § 3 Abs. 4 Satz 1 EntschG in vollem Umfang abzuziehen wären, diese aber bei der Rückübertragung des Grundstücks im Rahmen der Festsetzung des Ablösebetrages gemäß § 18 Abs. 2 Satz 6 VermG nur eingeschränkt oder gegebenenfalls gar nicht zu berücksichtigen, weil sie dem Grundstück nach der (Unternehmens-)Anteilsschädigung auferlegt wurden und nicht der Sicherung einer Verpflichtung des Berechtigten im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 5 VermG dienten. Der Privilegierung derartiger Verbindlichkeiten bei der Singularrestitution nach § 18 Abs. 2 Satz 6 VermG liegt die Überlegung zugrunde, dass dem Berechtigten mit dem verfolgungsbedingten Entzug seiner Anteile am Unternehmen die damit verbundene Möglichkeit genommen wird, das Handeln des Unternehmens – insbesondere das Eingehen von Verpflichtungen und die Bestellung von Grundpfandrechten zu deren Sicherung – zu beeinflussen. Für die lediglich als Erweiterung der Singularrestitution gewährte Einzelgegenstandsentschädigung kann nichts anderes gelten9.

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Eine entsprechende Anwendung der Fiktion des § 3 Abs. 1 Satz 4 Teilsatz 4 VermG dahin, dass bei einem später angeschafften Betriebsgrundstück der Zeitpunkt der Entziehung des Unternehmens (hier Anfang März 1934) zugleich auch als Zeitpunkt der Entstehung der an dem Grundstück bestellten Grundpfandrechte gilt, scheitert bereits daran, dass der maßgebliche Schädigungszeitpunkt für die Berechnung der gesonderten grundstücksbezogenen Entschädigung der Zeitpunkt ist, zu dem das Grundstück konkret angeschafft wurde.

Die gesonderte Entschädigung für das Betriebsgrundstück ist nicht in entsprechender Anwendung des § 2 Satz 3 NS-VEntschG um die Entschädigung für das Unternehmen zu mindern. Es fehlt an der hierfür erforderlichen Regelungslücke.

§ 2 Satz 4 NS-VEntschG enthält eine abschließende Regelung für die Fälle, dass – wie hier – eine gesonderte Entschädigung für das Betriebsgrundstück als Folge der sog. erweiterten Singularrestitution ansteht und in eine tatsächliche wie rechtliche Beziehung zu einer bereits erfolgten, gleichzeitig erfolgenden oder künftigen Entschädigung für das Unternehmen tritt10.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. März 2012 – 5 C 11.11

  1. s. insoweit BVerwG, Urteil vom 26.06.1997 – 7 C 53.96 – VIZ 1997, 687 = Buchholz 428 § 3 VermG Nr. 18 S. 18[]
  2. BVerwG, Urteil vom 11.12.2008 – 5 C 3.08, BVerwGE 132, 330 Rn. 22; s.a. Urteile vom 13.12.2007 – 5 C 11.07 – a.a.O. jeweils Rn. 9 f. und – 5 C 9.07, Buchholz 428.42 § 2 NS-VEntschG Nr. 5 Rn. 15[]
  3. s. insoweit BVerwG, Urteil vom 30.06.2011 – 5 C 23.10 – ZOV 2011, 218 m.w.N.[]
  4. BVerwG, Urteil vom 11.12.2008 a.a.O.[][][]
  5. BVerwG, Urteil vom 11.12.2008 a.a.O. Rn. 24[]
  6. BVerwG, Urteile vom 27.07.2006 – 5 C 2.06, Buchholz 428.42 § 2 NS-VEntschG Nr. 2 Rn. 14 und vom 18.02.1999 – 3 C 8.98 – VIZ 1999, 476[]
  7. BVerwG, Urteil vom 18.02.1999 a.a.O.[]
  8. BVerwG, Urteil vom 09.02.2012 – 5 C 10.11 – Umdruck S. 6 m.w.N.[]
  9. BVerwG, Urteil vom 11.12.2008 a.a.O., s.a. Urteil vom 24.09.2003 – 8 C 8.03, Buchholz 428 § 18 VermG Nr. 18 S. 38 f.[]
  10. BVerwG, Urteil vom 11.12.2008 a.a.O. Rn. 13[]
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