Nach dem gesetzgeberischen Willen räumt sowohl § 66 Abs. 2 als auch Abs. 3 Satz 2 StGB dem Tatgericht die Möglichkeit ein, sich – auch bei Vorliegen einer festgestellten hangbedingten Gefährlichkeit eines Angeklagten – auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich der Täter schon dies hinreichend zur Warnung dienen lässt1.

Mit Blick auf die Voraussetzung der Gefährlichkeit eines Angeklagten für die Allgemeinheit (§ 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB), die auch für eine Anordnung nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB vorliegen muss, ist zwar nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung in der Literatur auf den Zeitpunkt der Aburteilung abzustellen2, so dass eine noch ungewisse Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Strafvollzug bei der Prognose außer Betracht zu bleiben hat3.
Der Tatrichter kann den Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs bei seiner Entscheidung nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB aber dann Bedeutung beimessen, wenn gleichzeitig eine Haltungsänderung des Angeklagten zu erwarten ist4.
Ein Absehen von der Verhängung der Sicherungsverwahrung ist danach bei Vorliegen einer hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten jedenfalls gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte erwarten lassen, dass dem Angeklagten aufgrund der Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und diesen begleitender resozialisierender sowie therapeutischer Maßnahmen zum Strafende eine günstige Prognose gestellt werden kann. Lediglich denkbare positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug sollen demgegenüber nicht ausreichen5, wenngleich es einer Prognose naturgemäß eigen ist, dass eine abschließende Gewissheit nicht zu gewinnen ist und ein gewisses Risiko verbleibt.
Diesen Maßgaben hat das Landgericht Coburg6 im vorliegenden Fall bei seiner Ermessensausübung Rechnung getragen. Es hat nicht nur – tragfähig begründet – eine bereits eingetretene Haltungs- und Verhaltensänderung des Angeklagten festgestellt und zudem sein ihn stützendes persönliches Umfeld für seine Prognose berücksichtigt, sondern ist insbesondere sachverständig beraten zu der Einschätzung gelangt, dass die dissoziale Persönlichkeitsstörung des Angeklagten im Rahmen einer Sozialtherapie behandelbar ist und auch eine anschließende Behandlung seiner Suchterkrankung wahrscheinlich erfolgreich sein wird. Auf dieser Grundlage ist es rechtsfehlerfrei zu der Einschätzung gelangt, „dass der Angeklagte nunmehr im Strafvollzug eine Sozialtherapie durchlaufen wird und damit der Grad der von ihm ausgehenden Gefahr entscheidend reduziert wird“. Hierbei hat es in seine Überlegungen eingestellt, dass im Strafvollzug vielfältige therapeutische Angebote bestehen und der Angeklagte nunmehr therapiemotiviert ist und einer solchen Behandlung erstmals positiv gegenübersteht7. Es hat die beim Angeklagten festgestellte Haltungs- und Verhaltensänderung tragfähig damit begründet, dass der Angeklagte durch die freiwillige Kooperation mit den Ermittlungsbehörden im Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz glaubhaft Abstand vom Drogenmilieu genommen und dass er durch seine Entschuldigung bei der Adhäsionsklägerin und dem Anerkenntnis ihrer Schadensersatzforderung Empathiefähigkeit bewiesen und seine nunmehr erstmals gewonnene Einsicht, dass er seine Lebensgestaltung grundlegend ändern müsse, glaubhaft dokumentiert habe.
Insoweit liegt auch kein Erörterungsmangel vor, auch wenn sich das Landgericht mit den Ausführungen der Sachverständigen Dr. E. , wonach beim Angeklagten aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur ein hohes Rückfallrisiko – bei erhöhtem Risiko zukünftiger Gewalt- oder Sexualstraftaten – bestehe, und der übereinstimmenden Ansicht beider zu Rate gezogenen Sachverständigen, wonach der Angeklagte unfähig sei, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen, nicht ausdrücklich bei der Beurteilung der Gefährlichkeit und im Rahmen der Ermessensausübung auseinander gesetzt hat. Denn die vorgenannten Ausführungen der Sachverständigen, die erkennbar von der Begutachtungssituation ausgehen, in welcher der Angeklagte noch keine Sozialtherapie durchlaufen hatte, münden schlussendlich in der abschließenden Einschätzung, die dissozialen Verhaltensweisen des Angeklagten seien im Rahmen einer Sozialtherapie behandelbar, wodurch das Rückfallrisiko erheblich reduziert werden könne. Diese Einschätzung, der sich auch der weitere Sachverständige Dr. Z. angeschlossen hat, hat sich das Landgericht zu eigen gemacht. Eines näheren Eingehens auf die Ausführungen der Sachverständigen Dr. E. zur Persönlichkeit des Angeklagten und der daraus resultierenden Rückfallgefahr ohne durchlaufene Sozial- und anschließende Suchttherapie bedurfte es danach im Rahmen der Ermessensausübung nicht mehr.
Die Ermessensausübung der Strafkammer erweist sich auch vor dem Hintergrund als rechtsfehlerfrei, dass der Angeklagte in der Vergangenheit bis auf den versuchten Totschlag im Jahr 2012 nicht wegen schwerer Straftaten verurteilt wurde, sondern nur wegen im Lichte des § 66 StGB eher geringfügiger Delikte mit Geld- oder kürzeren Freiheitsstrafen belegt wurde8. Die Anlass- und Symptomtaten weisen – so das Landgericht rechtsfehlerfrei – auch kein solches Gewicht auf, dass eine Ermessensreduzierung im Sinne einer zwingenden oder sich zumindest aufdrängenden Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung eingetreten wäre.
Die rechtsfehlerfreien Ausführungen des Landgerichts zur Frage der Ermessensausübung und der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) tragen auch die Ablehnung einer Anordnung eines Vorbehalts der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 26.5.2020 – 1 StR 538/19
- st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 16.04.2020 – 4 StR 8/20 Rn. 6; und vom 10.10.2018 – 5 StR 274/18 Rn.19, jeweils mwN[↩]
- st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 08.08.2017 – 5 StR 99/17 Rn. 16; und vom 08.07.2005 – 2 StR 120/05 Rn. 17 BGHSt 50, 188, 193 mwN; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 66 Rn. 66; Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern in MünchKomm, StGB, 3. Aufl., § 66 Rn. 120 mwN[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 08.08.2017 – 5 StR 99/17 Rn. 16; und vom 03.02.2011 – 3 StR 466/10 Rn. 14 mwN[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 08.08.2017 – 5 StR 99/17 Rn. 16; vom 03.02.2011 – 3 StR 466/10 Rn. 14; vom 20.07.1988 – 2 StR 348/88, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 3; und vom 28.05.1998 – 4 StR 17/98 Rn. 5, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 6, jeweils mwN[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 08.08.2017 – 5 StR 99/17 Rn. 16; vom 11.07.2013 – 3 StR 148/13 Rn. 6; und vom 03.02.2011 – 3 StR 466/10 Rn. 14, jeweils mwN[↩]
- LG Coburg, Urteil vom 08.05.2019 – 118 Js 5967/18 3 KLs 110 Ss 35/19[↩]
- vgl. auch BGH, Urteil vom 10.10.2018 – 5 StR 274/18 Rn.20 mwN; Beschluss vom 13.09.2011 – 5 StR 189/11 Rn.19 f.[↩]
- vgl. zur Berücksichtigungsfähigkeit von zurückliegenden Taten und der Frequenz der Tatbegehung BGH, Urteile vom 25.04.2019 – 4 StR 478/18 Rn. 12; vom 27.07.2017 – 3 StR 196/17 Rn. 11; vom 18.02.2010 – 3 StR 568/09 Rn. 6 f.; und vom 30.03.1999 – 5 StR 563/98 Rn. 10[↩]
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