Versicherte, die in ihrem Leistungsvermögen qualitativ beeinträchtig sind und nur noch körperlich leichte Arbeiten verrichten können, sind weiterhin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, ohne dass es einer konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedarf.

So hat das Bundessozialgericht in dem hier vorliegenden Fall eines Streits über die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung entschieden und das Verfahren an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen zur erneuten Entscheidung unter Beachtung des rechtlichen Rahmens, insbesondere der von der Rechtsprechung entwickelten Katalogfälle der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes.
Die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ist an ganz bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Nach § 43 Absatz 2 Satz 2 SGB VI sind Versicherte dann voll erwerbsgemindert, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Was unter den „üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“ im Rahmen der Arbeitsfähigkeit zu verstehen ist, hat das Bundessozialgericht des öfteren in seiner Rechtsprechung genauer definiert. So muss z.B. die Wegefähigkeit gegeben sein: Der Versicherte muss den Weg zur Arbeitsstelle zumutbar zurücklegen können. Als Erwerbsgemindert gilt nach dem Bundessozialgericht auch derjenige, der – trotz Hilfsmitteln wie Gehstützen – nicht in der Lage ist, täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen oder mit einem eigenen Kfz zur Arbeit zu fahren1. Der Weg zur Arbeit muss ohne besondere Gefahr für sich oder andere möglich sein.
In dem hier vorliegenden Fall hatte das Bundessozialgericht über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente zu entscheiden. Nachdem der Rentenantrag eines 1964 geborenen Klägers vom beklagten Rentenversicherungsträger abgelehnt worden war, wurde die beim Sozialgericht Berlin eingereichte Klage ebenfalls abgewiesen2. Dagegen hat sich der Betroffene vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg gewehrt. Dort wurde dem Kläger eine Erwerbsminderungsrente von Oktober 2014 – Dezember 2019 zugesprochen. Nach Meinung des Landessozialgerichts liegt eine Erwerbsminderung trotz eines quantitatives Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich für leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor, da hier eine Summierung von qualitativen Leistungseinschränkungen gegeben ist((LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.07.2018 – L 8 R 883/14)). So hält das Landessozialgericht die nach dem Bundessozialgericht vorzunehmende Prüfung, ob ein Versicherter noch bestimmten Verrichtungen (Zureichen, Abnehmen, Transportieren etc) nachgehen kann, für überholt. Denn der Arbeitsmarkt hat sich seit der Entscheidung des Bundessozialgerichts3 erheblich verändert. Daher reicht es aus, viele „gewöhnliche“ Einschränkungen zu haben, so dass alle auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Tätigkeiten nicht mehr verrichtet werden können. Mit dieser Entscheidung war der Rentenversicherungsträger nicht einverstanden und hat sich mit der Revision dagegen gewandt.
Die Sichtweise des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg ist nach Auffassung des Bundessozialgerichts nicht richtig: So hält das Bundessozialgericht seine bisherige Rechtsprechung in Bezug auf die anerkannten sog. Katalogfälle des verschlossenen Arbeitsmarktes4 bei der Einsatzfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für weiterhin maßgebend . Denn die frühere Rechtsprechung ist auf die Rechtslage nach der gesetzlichen Neuformulierung übertragbar.
In seiner Entscheidung hat das Bundessozialgericht deutlich zum Ausdruck gebracht, dass in ihrem Leistungsvermögen qualitativ beeinträchtigte Versicherte, die nur noch körperlich leichte Arbeiten mindestens 6 Stunden täglich verrichten können, zur Zeit weiterhin grundsätzlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sind, ohne dass es einer konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedarf. Für die Annahme, Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die körperlich leichte Verrichtungen zum Gegenstand haben, sind durch die Digitalisierung und andere Entwicklungen weggefallen, gibt es nach Auffassung des Bundessozialgerichts keine sicheren Erkenntnisse. Es ist danach an der Vermutung eines „offenen Arbeitsmarktes“ festzuhalten.
Doch kann es vom Regelfall der Vermutung des offenen Arbeitsmarktes auch eine Ausnahme geben: Diese liegt vor bei einer Erwerbstätigkeit, die nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen ausgeübt werden kann. Gleiches gilt für eine Wegefähigkeit, die relevant eingeschränkt ist. Im Falle einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bedarf es einer konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit. Maßgeblich ist in jedem Fall die Prüfung im Einzelfall.
Auf die Einsetzbarkeit auf dem Arbeitsmarkt muss sich die Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen genauso nachteilig auswirken wie eine schwere spezifische Leistungsbehinderung. Nach Auffassung des Bundessozialgerichts setzt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen voraus, dass (mindestens) zwei Leistungseinschränkungen vorhanden sind, die jeweils für sich genommen aufgrund ihrer Art oder Schwere schon eine erhebliche Einschränkung auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringen. Außerdem ist auch im Fall mehrerer auf den ersten Blick „gewöhnlichen“ Leistungseinschränkungen eine Summierung gegeben, wenn eine besondere Addierungs- oder Verstärkungswirkung festgestellt werden kann, die sich aufgrund ihres Zusammentreffens insgesamt ungewöhnlich auswirken. Dagegen reicht allein die Anzahl der „gewöhnlichen“ Einschränkungen nicht aus, damit der Fall einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen festgestellt werden kann. Vielmehr ist zu analysieren, ob und durch welche ihrer Auswirkungen das Feld der Einsatzmöglichkeiten – über körperlich leichte Arbeiten hinaus – ungewöhnlich beschränkt wird. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist nach Meinung des Bundessozialgerichts eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen. Wenn sie für den Versicherten nicht geeignet ist, kann eine volle Erwerbsminderung trotz vollschichtigem Leistungsvermögen festgestellt werden.
Bundessozialgericht, Urteil vom 11. Dezember 2019 – B 13 R 7/18 R