Anspruch auf Videoverhandlung – bei erstmaliger Antragstellung "in letzter Minute"?

Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt kein Anspruch auf die Durchführung einer Videoverhandlung, wenn der Antrag erstmals nach Dienstschluss des Gerichts am Vorabend des Verhandlungstags gestellt wird, die mündliche Verhandlung auf den frühen Vormittag terminiert wurde und im Gerichtsgebäude keine Videokonferenztechnik verfügbar ist.

Anspruch auf Videoverhandlung – bei erstmaliger Antragstellung "in letzter Minute"?

Das Finanzgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO) insoweit nicht verletzt, sodass insoweit kein Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) gegeben ist. Es hat eine Gehörsverletzung weder hinsichtlich der Berücksichtigung des Klagevorbringens noch hinsichtlich der Durchführung der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit der erst am Vorabend des Termins eine Videokonferenz beantragenden Klägerin begangen.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.

Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten in einem ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen wurde. Die Gerichte müssen nicht jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich bescheiden. Es müssen nur die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden. Geht das Gericht jedoch in den Entscheidungsgründen auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung dieses Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war1.

Gemessen daran hat das Finanzgericht das rechtliche Gehör der Klägerin, die sich als Rechtsanwältin selbst vertritt, im Hinblick auf ihr Klagevorbringen nicht verletzt. Denn es hat dieses Vorbringen bei seiner Entscheidung in vollem Umfang zur Kenntnis genommen und auch in Erwägung gezogen. Das Finanzgericht hat die Klagebegründung der Klägerin im angegriffenen Urteil auszugsweise wiedergegeben und wegen der weiteren Einzelheiten in zulässiger Weise auf die Klageschrift und die weiteren Schriftsätze vom 07.08.2024 und 25.09.2024 Bezug genommen. Soweit es die Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs für den alleinigen Streitmonat Dezember 2023 als nicht erfüllt angesehen und die Klage deshalb als unbegründet abgewiesen hat, begründet dies keine Gehörsverletzung. Das Finanzgericht hat hierbei kein für die Entscheidung wesentliches Vorbringen der Klägerin übergangen.

Art. 103 Abs. 1 GG gewährt den Verfahrensbeteiligten einen Anspruch, sich vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und dessen rechtlicher Bewertung äußern zu können.

Findet eine mündliche Verhandlung statt, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht eines Verfahrensbeteiligten, sich in dieser Verhandlung zu äußern. Eine Gehörsverletzung liegt vor, wenn trotz beantragter Terminverlegung und Bestehen eines Verlegungsgrundes gleichwohl eine mündliche Verhandlung am ursprünglich bestimmten Termin stattfindet und in der Sache entschieden wird. Gleiches gilt, sofern sich -ohne dass das Vorliegen eines Verlegungsgrundes abschließend beurteilt werden könnte- aus der Art und Weise der Behandlung eines abgelehnten Terminverlegungsantrages beziehungsweise der Begründung für dessen Ablehnung ergibt, dass die Bedeutung und die Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör vom Gericht verkannt wurden. Da die Ablehnung eines Verlegungsantrages regelmäßig die Möglichkeit eines Beteiligten auf die Wahrnehmung dieses Anspruchs durch Äußerung in der mündlichen Verhandlung einschränkt, gestalten die einfachrechtlichen Vorschriften zur Behandlung von Verlegungsanträgen den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG aus und sind insofern unmittelbar grundrechtsrelevant. Deshalb kann bei Verstößen hiergegen die Schwelle zur Grundrechtsverletzung eher erreicht sein, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts der Fall ist2.

Eine Gehörsverletzung liegt vor, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache entscheidet, obwohl ein Verfahrensbeteiligter einen Terminverlegungsantrag gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht hat3. Gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO kann das Gericht in diesem Fall einen Termin aufheben. Liegt ein erheblicher Grund vor, verdichtet sich das gesetzliche Ermessen („kann“) zu einer Rechtspflicht und das Gericht muss zur Gewährleistung rechtlichen Gehörs den Termin zur mündlichen Verhandlung verlegen, selbst wenn es den Rechtsstreit für entscheidungsreif hält und dessen Erledigung durch die Terminverlegung verzögert würde4.

Die erheblichen Gründe für eine Verlegung sind gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen. Strengere Anforderungen gelten, wenn der Terminverlegungsantrag „in letzter Minute“ gestellt wird und dem Gericht infolgedessen keine Zeit mehr bleibt, zur Glaubhaftmachung aufzufordern5; in diesem Fall muss der Beteiligte den Verlegungsgrund regelmäßig von sich aus glaubhaft machen6. Ein solcher Verlegungsantrag „in letzter Minute“, bei dem erhöhte Anforderungen an die sofortige Glaubhaftmachung der erheblichen Gründe zu stellen sind, liegt jedenfalls dann vor, wenn der Antrag erst am Vorabend des Termins nach Dienstschluss des Gerichts gestellt wird7.

Nach diesen Maßstäben durfte das Finanzgericht im Streitfall die mündliche Verhandlung ohne die sich selbst vertretende Klägerin durchführen. Denn das Finanzgericht durfte nach dem bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung (9:29 Uhr) vorliegenden Vorbringen der Klägerin annehmen, dass eine Möglichkeit für sie bestanden hätte, bei frühem Fahrtantritt mit öffentlichen Verkehrsmitteln rechtzeitig zum Termin zu erscheinen. Einen durch ihren Anspruch auf rechtliches Gehör vermittelten Anspruch auf Durchführung einer Videoverhandlung hatte die Klägerin nicht.

Mit der Ladung vom 09.08.2024 wurden die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung am 26.09.2024 im Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt in Dessau-Roßlau geladen und zugleich darauf hingewiesen, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 91 Abs. 2 FGO). Erst nach Dienstschluss am 25.09.2024 beantragte die Klägerin, die Durchführung der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz zu gestatten. Ihr betreffendes Schreiben weist die Fax-Uhrzeit „21:03“ aus, die Übermittlung aus ihrem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) den Eingangszeitpunkt „25.09.2024, 21:25:15“.

Gemäß dem noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung versandten Antwortschreiben der Senatsvorsitzenden vom 26.09.2024 verfügte das Finanzgericht am Tag der mündlichen Verhandlung über keine Videokonferenztechnik. Ein erheblicher Grund für die Aufhebung des Termins könne -so die Vorsitzende- nicht gesehen werden, denn trotz des (kurzfristigen) Ausfalls ihres Kfz bestehe für die Klägerin die Möglichkeit, zum Beispiel mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Gericht zu kommen. Der dadurch entstehende Aufwand sei hinzunehmen. Erst etwas mehr als eine Stunde nach Urteilsverkündung und Sitzungsende (9:41 Uhr) ging beim Finanzgericht ein weiteres Schreiben ein, in dem die Klägerin die Verlegung der mündlichen Verhandlung und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragte (Fax-Uhrzeit „10:49“ und beA-Eingang „26.09.2024, 11:24:50“).

In Anbetracht dieser zeitlichen Abfolge war dem Finanzgericht weder zu Beginn noch am Ende der mündlichen Verhandlung ein erheblicher Grund für eine etwaige Terminverlegung bekannt (diese war von der Klägerin, die zunächst nur die Durchführung einer Videoverhandlung begehrte, bis dahin nicht ausdrücklich beantragt worden). Der Umstand, dass das Finanzgericht die mündliche Verhandlung nicht verlegte, begründet insofern schon deshalb keine Gehörsverletzung. Zudem bestand gegenüber der als Rechtsanwältin zugelassenen Klägerin keine richterliche Hinweispflicht in Bezug auf die Verpflichtung, einen etwaigen „in letzter Minute“ vor der mündlichen Verhandlung gestellten Terminverlegungsantrag von sich aus substantiiert zu begründen und die darin aufgestellten tatsächlichen Behauptungen glaubhaft zu machen8.

Auch soweit das Finanzgericht die Klägerin darauf hingewiesen hat, dass ihre „Teilnahme an der mündlichen Verhandlung leider nicht per Bild- und Tonübertragung“ gestattet werden könne, weil „gerichtsseits die technischen Voraussetzungen dafür noch nicht bestehen“, führt dies nicht zu einer Gehörsverletzung. Aus ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör konnte die Klägerin unter den Umständen des Streitfalls keinen Anspruch auf Durchführung der mündlichen Verhandlung im Wege einer sehr kurzfristig einzurichtenden Videokonferenz für die bereits auf 9:00 Uhr terminierte Sitzung ableiten. Zum einen war nach dem Vorbringen im ersten Schreiben für das Finanzgericht nicht erkennbar, weshalb es der Klägerin aufgrund der (erst im zweiten Schreiben erläuterten) Umstände unmöglich schien, rechtzeitig vor Verhandlungsbeginn im Gerichtsgebäude anzukommen. Zum anderen stellte die Klägerin ihren Antrag auf Videoverhandlung ohne vorherige Ankündigung so kurzfristig, dass dem Finanzgericht nach Dienstbeginn am Verhandlungstag nahezu keine Zeit mehr blieb, eine Verhandlung per Videokonferenz im Interesse der Klägerin zu ermöglichen9. Schon aus diesen Gründen vermag die Ablehnung der Videoverhandlung nicht die gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu begründen.

Entgegen der Auffassung der Klägerin war das Finanzgericht aufgrund des Gebots, rechtliches Gehör zu gewähren, auch nicht verpflichtet, die Beteiligten vorab über das Fehlen der Videokonferenztechnik im Gerichtsgebäude zu informieren10. Für das Finanzgericht war vor dem 26.09.2024 nicht erkennbar, dass die Klägerin die Durchführung der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz beantragen wollte und dass sie von den fehlenden technischen Voraussetzungen des Finanzgerichtes keine Kenntnis hatte. Die rechtskundige Klägerin durfte sich nicht ungefragt darauf verlassen, dass die kurzfristige Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach einem Antrag „in letzter Minute“ unproblematisch möglich sein würde.

Danach kommt es nicht mehr darauf an, dass das Vorhandensein und die Einsatzfähigkeit der erforderlichen Technik der Gerichte als ungeschriebene Voraussetzungen des Einsatzes von Videokonferenztechnik angesehen werden und ein Anspruch der Beteiligten hierauf ohnehin verneint wird11 (vgl. auch § 128a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 ZPO, wonach die mündliche Verhandlung „in geeigneten Fällen und soweit ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen“ als Videoverhandlung stattfinden kann und der Vorsitzende die von einem Verfahrensbeteiligten beantragte Teilnahme per Bild- und Tonübertragung „unter diesen Voraussetzungen“ gestatten soll).

Ob sich das Finanzgericht im September 2024 generell auf die im Gerichtsgebäude noch nicht zur Verfügung stehende Videokonferenztechnik berufen konnte, bedarf vorliegend ebenfalls keiner Entscheidung12.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 19. September 2025 – III B 95/24

  1. vgl. zu diesen Rechtsgrundsätzen: BVerfG, Beschluss vom 23.06.2025 – 1 BvR 1718/24, DStR 2025, 1698, Rz 23, m.w.N.; vgl. auch BFH, Beschluss vom 12.07.2016 – III B 33/16, BFH/NV 2016, 1750, Rz 18[]
  2. vgl. zum Ganzen BVerfG, Beschluss vom 10.06.2021 – 1 BvR 1997/18, NJW 2021, 3384, Rz 9 f., m.w.N.[]
  3. vgl. BFH, Beschlüsse vom 04.11.2019 – X B 70/19, BFH/NV 2020, 226, Rz 9; vom 21.04.2023 – VIII B 144/22, BFH/NV 2023, 859, Rz 4; vom 26.07.2023 – II R 4/21, BFHE 281, 251, BStBl II 2024, 25, Rz 12[]
  4. vgl. BFH, Beschlüsse vom 05.05.2020 – III B 158/19, BFH/NV 2020, 905, Rz 8; vom 21.04.2023 – III B 41/22, BFH/NV 2023, 825, Rz 18; BFH, Beschlüsse vom 08.11.2016 – I B 137/15, BFH/NV 2017, 433, Rz 11; vom 07.06.2023 – IX B 11/23, BFH/NV 2023, 983, Rz 4; vom 07.03.2025 – XI B 11/24, BFH/NV 2025, 700, Rz 12[]
  5. vgl. BFH, Beschlüsse vom 14.12.2017 – V B 57/17, BFH/NV 2018, 345, Rz 4; und vom 04.11.2019 – X B 70/19, BFH/NV 2020, 226, Rz 10[]
  6. vgl. BFH, Beschlüsse vom 18.01.2022 – III B 108/21, BFH/NV 2022, 606, Rz 5 f.; vom 21.04.2023 – III B 41/22, BFH/NV 2023, 825, Rz 18[]
  7. vgl. BFH, Beschlüsse vom 15.02.2013 – IX B 178/12, BFH/NV 2013, 762, Rz 4; vom 08.11.2016 – I B 137/15, BFH/NV 2017, 433, Rz 14; vom 04.11.2019 – X B 70/19, BFH/NV 2020, 226, Rz 15; Wendl in Gosch, FGO § 91 Rz 88 ff.[]
  8. vgl. BFH, Beschluss vom 05.05.2020 – III B 158/19, BFH/NV 2020, 905, Rz 8[]
  9. vgl. FG Nürnberg, Beschluss vom 11.04.2024 – 6 K 860/22, 6 K 873/22[]
  10. vgl. BFH, Beschluss vom 26.04.2023 – X B 102/22, BFH/NV 2023, 824, Rz 10 f.[]
  11. vgl. nur BFH, Beschluss vom 12.05.2021 – IV R 31/18, BFH/NV 2021, 1079, Rz 6; BVerwG, Beschluss vom 04.06.2021 – 5 B 22.20 D, NVwZ-RR 2021, 997, Rz 12; BSG, Beschluss vom 29.03.2022 – B 8 SO 1/22 BH, Rz 8; LSG NRW, Beschluss vom 17.07.2023 – L 9 AL 122/22 NZB, Rz 23; Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 91a Rz 4[]
  12. vgl. die durch das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom 15.07.2024, BGBl 2024 I Nr. 237, mit Wirkung vom 19.07.2024 eingefügten Vorschriften des § 227 Abs. 1 Satz 3, Abs. 4 ZPO; zur gleichzeitigen Ersetzung des § 91a FGO a.F. durch § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 128a ZPO vgl. BFH, Urteil vom 21.08.2024 – II R 43/22, BStBl II 2025, 527, Rz 18[]

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