Reverse-Charge-Verfahren im Baugewerbe

Im Rahmen des Reverse-Charge-Verfahren im Bausektor setzt Zahlungspflicht von Umsatzsteuer durch Leistungsempfänger keine nachhaltige Erbringung von Bauleistungen voraus. Selbst eine nur gelegentliche Erbringung von Bauleistungen genügt nach einer aktuellen Entscheidung des Finanzgerichts Münster, um einem Unternehmer die Pflicht aufzuerlegen, anstelle des leistenden Unternehmers die Umsatzsteuer für selbst empfangene Bautätigkeiten an das Finanzamt abzuführen (sog. Reverse-Charge-Verfahren). Damit weicht das Finanzgericht Münster von der Handhabung der Finanzverwaltung ab, die in den Umsatzsteuerrichtlinien insoweit eine nachhaltige eigene Bauleistungstätigkeit des Leistungsempfängers fordert.

Reverse-Charge-Verfahren im Baugewerbe

In dem vom Finanzgericht Münster entschiedenen Streitfall schlossen die Klägerin, die selbst im Baugewerbe tätig war, und die Beigeladene einen Generalunternehmervertrag ab, in dem sich die Beigeladene verpflichtete, ein Wohnhaus zu errichten. Die Klägerin zahlte an die Beigeladene – unter Hinweis auf § 13b UStG – nur den Netto-Werklohn und führte die Umsatzsteuer selbst an das Finanzamt ab. Zu späterer Zeit machte die Klägerin geltend, sie sei nicht zur Zahlung der Steuer verpflichtet gewesen. Die von ihr selbst erbrachten Bauleistungen hätten im Streitjahr weniger als 10 % ihres Gesamtumsatzes betragen. Sie sei daher – was die Finanzverwaltung in Abschn. 182a Abs. 10 UStR für die Umkehr der Steuerschuld allerdings voraussetze – nicht nachhaltig im Baugewerbe tätig gewesen. Das Finanzamt hielt die Steuerfestsetzung aus anderen Gründen aufrecht.

Das Finanzgericht Münster wies die Klage ab: Nach § 13b Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 5 Satz 2 UStG sei bei der Erbringung bestimmter Bauleistungen nicht – wie ansonsten üblich – der leistende Unternehmer, sondern der Leistungsempfänger zur Zahlung der Umsatzsteuer verpflichtet, sofern er in derselben Branche tätig sei. Entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung in den Umsatzsteuerrichtlinien sei für die Umkehr der Steuerschuldnerschaft, so das Finanzgericht Münster, nicht Voraussetzung, dass der Leistungsempfänger selbst nachhaltige Bauleistungen erbringen müsse. Auch eine gelegentliche Betätigung im Baugewerbe genüge, sofern dies für den leistenden Unternehmer erkennbar sei. Dies entspreche der Praktikabilität und auch dem Willen des Gesetzgebers, durch die Umkehr der Steuerschuldnerschaft bei Bauleistungen Umsatzsteuerausfälle zu vermeiden.

Nach Auffassung der Finanzverwaltung ist die Voraussetzung für das Rerverse-Charge-Verfahren des § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStGnur erfüllt, wenn derartige Umsätze nachhaltig erbracht werden. Davon sei auszugehen, wenn der Leistungsempfänger im vorangegangenen Kalenderjahr Bauleistungen im Sinne von § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG erbracht hat, deren Bemessungsgrundlage mehr als 10% der Summe seiner steuerbaren Umsätze betragen hat oder der Leistungsempfänger dem leistenden Unternehmer eine im Zeitpunkt der Ausführung der Umsätze gültige Freistellungsbescheinigung nach § 48b EStG vorlegt (Abschn. 182a Abs. 10 Sätze 2 und 3 UStR 2005)1. Nach Abschn. 182a Abs. 12 Satz 2 UStR 2008 muss die Vorlage der Freistellungsbescheinigung ausdrücklich für umsatzsteuerliche Zwecke erfolgen.

Das Finanzgericht Berlin-Brandenburg2 hält die 10%-Grenze für ein taugliches Abgrenzungskriterium zur Bestimmung der Voraussetzungen für den Übergang der Steuerschuldnerschaft.

In der Literatur wird bereits das Merkmal der Nachhaltigkeit als unvereinbar mit der gesetzlichen Regelung und insbesondere die 10%-Grenze als unpraktikabel angesehen3. Stadie4 hält dagegen das Merkmal der Nachhaltigkeit vom Ansatz her für zutreffend. Da es der Schutz des leistenden Unternehmers aber verlange, dass dieser die Voraussetzungen für den Übergang der Steuerschuldnerschaft erkennen könne, sei auf das äußere Erscheinungsbild im Sinne einer Typus-Betrachtung abzustellen. Die 10%-Grenze erachtet auch Stadie5 als verfehlt, da der leistende Unternehmer nicht beurteilen könne, ob die Grenze überschritten ist.

Das Finanzgericht Münster folgt nicht der Auffassung, dass der Leistungsempfänger Bauleistungen im Sinne von § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG nachhaltig erbringen muss, damit die Steuerschuldnerschaft gemäß § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG auf ihn übergeht. Eine derartige Einschränkung des Tatbestands ergibt sich nicht aus dem Gesetzeswortlaut und entspricht auch nicht dem Sinn und Zweck der Regelung.

Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten durch die Erweiterung des Übergangs der Steuerschuldnerschaft auf Bauleistungen Umsatzsteuerausfälle verhindert werden, die dadurch eintreten können, dass bei bestimmten Umsätzen nicht sichergestellt werden kann, dass diese von den leistenden Unternehmern vollständig im allgemeinen Besteuerungsverfahren erfasst werden bzw. der Fiskus den Steueranspruch beim Leistenden realisieren kann6. Nach dem ursprünglichen Gesetzesentwurf sollte die Steuerschuldnerschaft in allen Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 3 EStG übergehen, wenn der Empfänger ein Unternehmer ist6. Dieser Entwurf wurde im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zunächst auf vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer eingeschränkt. Dies wurde in der Stellungnahme des Bundesrates7 damit begründet, dass eine Ausdehnung auf den von der Bauabzugsteuer betroffenen Kreis der Leistungsempfänger zu einer Überdehnung des Anwendungsbereiches führen und eine unübersehbare Anzahl nicht vorsteuerabzugsberechtigter Unternehmer in eine Umsatzsteuerschuldnerschaft drängen würde. Erst im Vermittlungsausschuss hat § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG seine endgültige Fassung erhalten8. Dadurch ist der Übergang der Steuerschuldnerschaft im Vergleich zu den anderen in § 13b Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 und 5 UStG genannten Fällen, in denen es lediglich erforderlich ist, dass der Leistungsempfänger Unternehmer ist, bei Bauleistungen auf einen engeren Personenkreis beschränkt. Ausgehend von der gesetzgeberischen Zielsetzung besteht jedoch kein Bedürfnis, den Tatbestand im Wege der Auslegung noch weiter dahingehend einzuschränken, dass der Leistungsempfänger nicht nur Bauleistungen erbringen muss, sondern diese auch nachhaltig erbringen muss. Nach Ansicht des Finanzamtes reicht es aus, wenn der Leistungsempfänger nur gelegentlich Bauleistungen in diesem Sinne erbringt. Lediglich Fälle, in denen der Leistungsempfänger gar keine Bauleistungen erbringt (z. B. ein Rechtsanwalt lässt seine Kanzleiräume umbauen), sollten nicht von der Regelung erfasst sein.

Dieses Ergebnis entspricht auch Praktikabilitätserwägungen. Für den leistenden Unternehmer besteht ein Bedürfnis, verlässlich beurteilen zu können, wer Schuldner der Umsatzsteuer ist und wie er abrechnen muss9. Denn im Fall einer fehlerhaften Rechnungserteilung liefe er Gefahr, die Steuer nach § 14c UStG zu schulden. Die ohnehin bestehende Schwierigkeit der Prüfung, ob der Leistungsempfänger selbst Bauleistungen erbringt, muss auf ein Mindestmaß reduziert werden. Mit dem zusätzlichen Erfordernis einer Nachhaltigkeit und der Bestimmung dieses Erfordernisses durch die 10%-Grenze wird jedoch genau das Gegenteil erreicht, denn dem leistenden Unternehmer wird es praktisch nicht möglich sein, diese Voraussetzungen zu überprüfen. In einem Fall wie dem Streitfall würde die Anwendung der 10%-Grenze sogar zu dem absurden Ergebnis führen, dass die Umsatzsteuer für eine einheitliche Leistung teilweise – soweit Abschlagsrechnungen im Jahr 2004 erteilt wurden – vom Leistungsempfänger und im Übrigen vom leistenden Unternehmer geschuldet wird. Dieses Ergebnis kann das Gesetz nicht bezwecken.

Ebenso wenig überzeugt die zweite Alternative der in Abschn. 182a Abs. 12 Satz 2 UStR 2008 genannten Voraussetzungen, wonach von einer Nachhaltigkeit auszugehen sein soll, wenn eine Freistellungsbescheinigung nach § 48b EStG für umsatzsteuerliche Zwecke vorgelegt wird. Dies hieße im Umkehrschluss, dass in den Fällen, in denen zwar eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, diese aber nicht für Umsatzsteuerzwecke vorgelegt wurde, ein Übergang der Steuerschuldnerschaft nicht stattfinden würde. Im Ergebnis würde damit die Frage der Steuerschuldnerschaft in das Belieben des Leistungsempfängers gestellt. Diese Folge kann dem Gesetz nicht entnommen werden.

Für die Anwendung von § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG muss es vielmehr ausreichen, wenn der Leistungsempfänger ein Unternehmer ist, der gelegentlich Leistungen i. S. v. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 erbringt und dies für den leistenden Unternehmer erkennbar ist. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nach der Überzeugung des Senats erfüllt, da die Klin. im Jahr 2003 unstreitig Bauleistungen erbracht hat und nach ihrem im Handelsregister eingetragenen Gesellschaftszweck ein Unternehmen ist, das unter anderem Bauleistungen erbringt. Auch der Umstand, dass eine Freistellungsbescheinigung nach § 48b EStG für das Streitjahr erteilt wurde, die über eine Online-Abfrage abrufbar ist, spricht für dieses Ergebnis.

Da die gesetzlichen Voraussetzungen für den Übergang der Steuerschuldnerschaft erfüllt sind, kommt es auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage der Einigung über diese Rechtsfolge nicht an. Im Übrigen besteht für die „Vereinfachungsregelung“ in Abschn. 182a Abs. 17 UStR 2005 bzw. Abschn. 182a Abs. 23 UStR 2008, wonach selbst eine fehlerhaft durchgeführte Versteuerung beim Leistungsempfänger bei Vorliegen einer Einigung „nicht zu beanstanden“ sein soll, keine gesetzliche Grundlage.

Finanzgericht Münster, Gerichtsbescheid vom 1. September 2010 – 5 K 3000/08 U (nicht rechtskräftig,Revision beim BFH – V R 37/10)

  1. so auch BMF, Schreiben vom 16.10.2009 – BStBl I 2009, 1298 Tz. 2, 3 und 5[]
  2. FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.03.2009 – 7 V 7278/08, EFG 2009, 1166[]
  3. Küffner/Zugmaier, DStR 2004, 712, 713; Kuplich, UR 2007, 369, 373 f.[]
  4. in Rau/Dürrwächter, UStG, § 13b Rn. 211[]
  5. a.a.O.[]
  6. BT-Drs. 15/1502 S. 31[][]
  7. BT-Drs. 15/1798[]
  8. BT-Drs. 15/2261[]
  9. so auch FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.03.2009 – 7 V 7278/09, EFG 2009, 1166[]