Die Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft eines deutschen Staatsangehörigen nach § 1599 Abs. 1 BGB führt grundsätzlich dazu, dass der gemäß § 4 Abs. 1 StAG ausschließlich von der Vaterschaft abgeleitete Erwerb der Staatsangehörigkeit des Kindes rückwirkend zum Erwerbszeitpunkt wieder entfällt1.

Diesem Wegfall steht jedoch im vorliegenden Fall Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG entgegen. Danach darf die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf dagegen nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. Der Wegfall der gemäß § 4 Abs. 1 StAG erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit nach Anfechtung der sie vermittelnden Vaterschaft ist trotz deren ex – tunc -Wirkung aus verfassungsrechtlicher Perspektive jedenfalls als Verlust der Staatsangehörigkeit zu behandeln.
Zu einer unzulässigen Entziehung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG wird dieser Verlust erst, wenn er die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit beeinträchtigt2. Dies ist solange nicht der Fall, wie das betroffene Kind sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft in einem Alter befindet, in dem Kinder üblicherweise ein eigenes Bewusstsein ihrer Staatsangehörigkeit und ein Vertrauen auf deren Bestand noch nicht entwickelt haben3. Die Klägerin, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Urteils des Amtsgerichts in dem Vaterschaftsanfechtungsverfahren fast sieben Jahre alt war, befand sich jedoch bereits in einem Alter, in dem nach Maßgabe dieser Grundsätze der Wegfall ihrer deutschen Staatsangehörigkeit als eine nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG unzulässige Entziehung zu werten ist.
Insoweit ist es geboten, das Alter, in dem Kinder ein eigenes Vertrauen auf den Bestand ihrer Staatsangehörigkeit entwickelt haben, abstrakt durch Festlegung einer Altersgrenze zu bestimmen. Die Alternative einer konkreten Prüfung, ob das betroffene Kind ein hinreichendes Bewusstsein seiner Staatsangehörigkeit entwickelt hat, scheidet aus. Sie stieße auf praktische Schwierigkeiten und hätte die Ungleichbehandlung der betroffenen Kinder zur Folge. So dürfte es bereits kaum möglich sein, im gerichtlichen Verfahren – etwa durch Anhörung des Kindes – rückblickend die „innere Tatsache“ zu ermitteln, welches Bewusstsein der eigenen Staatsangehörigkeit im relevanten Zeitpunkt der gerichtlichen Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft vorlag. Außerdem liegt es nahe, dass die Notwendigkeit einer von Einzelfall zu Einzelfall getroffenen tatrichterlichen Feststellung, ob die unbestimmten Kriterien für ein hinreichendes Bewusstsein und Vertrauen in den Bestand der Staatsangehörigkeit erfüllt sind, zu Rechtsunsicherheit und Ungleichheit in der Gewährung des Schutzes aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG führen würde. Eine konkrete Betrachtung würde schließlich auch insoweit zu einer Ungleichbehandlung in der Gewährung des Grundrechtsschutzes führen, als besonders informierte oder sensibilisierte Kinder früher in den Genuss des grundrechtlichen Schutzes kämen als ihre Altersgenossen, die sich über Fragen der Staatsangehörigkeit noch keine Gedanken gemacht haben.
Die somit gebotene allgemeine Altersgrenze, ab welcher der Verlust der Staatsangehörigkeit zu einer nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG unzulässigen Entziehung wird, ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Hamburg jedenfalls mit dem üblichen Eintritt in die Grundschule, also der Vollendung des sechsten Lebensjahres, erreicht.
Dafür spricht zunächst, dass mit Beginn der Teilhabe am Bildungssystem wesentliche Grundlagen einer Integration in die deutsche Gesellschaft gelegt werden4. Der Grundschulbesuch selbst ist zwar nicht Ausdruck einer staatsbürgerlichen Sonderstellung, weil auch ausländische Kinder grundsätzlich der allgemeinen Schulpflicht unterliegen. Bereits in der Grundschule beginnt aber die Vermittlung des Grundwissens über den Unterschied zwischen einzelnen Ländern, Sprachen und kulturellen Besonderheiten, das Grundlage für die Bildung eines staatsbürgerlichen Identifikationsgefühls ist. Auch wenn ein Kind im Grundschulalter üblicherweise noch kein vollständiges Verständnis der mit der Staatsangehörigkeit verbundenen abstrakten Rechte entwickelt, so kann es dennoch bereits in der Lage sein, in seiner Laiensphäre wesentliche Elemente der mit der Staatsangehörigkeit verknüpften besonderen Verbundenheit zu einem bestimmten Staat, namentlich das daraus folgende dauerhafte Bleiberecht (ebenso wie dessen Verlust), zu verstehen und ein entsprechendes Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln.
Dabei wird nicht verkannt, dass nicht alle Kinder mit dem Erreichen des Grundschulalters ein entsprechendes Bewusstsein der eigenen Staatsangehörigkeit und ein Vertrauen auf ihren Bestand bilden. Jedoch ist bei Kindern ab diesem Alter jedenfalls von der Möglichkeit der Entwicklung eines solchen Verständnisses auszugehen. Für eine frühe Altersgrenze wie das Grundschuleintrittsalter spricht deshalb auch das Gebot der effektiven Gewährleistung des Grundrechtsschutzes. Denn sie stellt sicher, dass der durch Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vermittelte Schutz trotz der Notwendigkeit einer abstrakt-generellen Betrachtungsweise möglichst allen Kindern eröffnet ist, die bereits ein Bewusstsein ihrer Staatsangehörigkeit entwickelt haben. Denn mit steigender Altersgrenze (z. B. bei Maßgeblichkeit des Übergangs auf eine höhere Schule5) wächst innerhalb der Gruppe der jüngeren Kinder die Anzahl derjenigen, die tatsächlich bereits ein solches Bewusstsein ausgebildet haben; ihnen bliebe der grundrechtliche Schutz aufgrund der typisierten Orientierung am Alter versagt, obwohl bei ihnen individuell nach dem Maßstab des Bundesverfassungsgerichts eine Entziehung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vorläge. Angesichts des Gewichts der durch Art. 16 Abs. 1 GG geschützten Staatsangehörigkeit ist deshalb eher die umgekehrte Folge hinzunehmen, dass durch eine frühere Altersgrenze auch Kinder erfasst werden, die ein solches Bewusstsein tatsächlich noch nicht ausgebildet haben.
Die Orientierung am Grundschuleintrittsalter entspricht schließlich im Wesentlichen auch der Einschätzung des Bundesgesetzgebers: In § 17 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1, Alt. 3 StAG6 wurde mit Wirkung vom 12. Februar 2009 die zeitliche Grenze auf die Vollendung des fünften Lebensjahres des Kindes festgesetzt. Danach wird die kraft Gesetzes erworbene deutsche Staatsangehörigkeit Dritter durch eine erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung – soweit diese nicht nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB durch die zuständige Behörde betrieben wurde – nicht mehr berührt. Dabei hat der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung die in der rechtswissenschaftlichen Literatur7 vertretene Ausrichtung am Grundschuleintrittsalter aufgegriffen und die Altersgrenze noch ein Jahr früher angesetzt; er ging davon aus, dass bis zu diesem Lebensalter die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Voraussetzungen, dass das Kind kein eigenes Bewusstsein seiner Staatsangehörigkeit und kein eigenes Vertrauen auf deren Bestand habe, weiter gegeben sein dürften8. Zwar ist § 17 Abs. 2 und 3 StAG auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil das Nichtbestehen der die Staatsangehörigkeit vermittelnden Vaterschaft im Falle der Klägerin vor Inkrafttreten der Vorschrift festgestellt worden ist. Dennoch kann die hinter der einfachgesetzlichen Änderung stehende verfassungsrechtliche Wertung des Gesetzgebers bei der Konkretisierung der durch Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG gezogenen Grenze herangezogen werden. Denn der Gesetzgeber reagierte mit der Ergänzung des § 17 StAG ausdrücklich auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die zuvor geltenden einfachgesetzlichen Bestimmungen einen durch erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung bedingten Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit auch in einem Alter nicht ausschlössen, in dem die Verlässlichkeit des Staatsangehörigkeitsstatus beeinträchtigt und die durch Art. 16 Abs. 1 Satz 1 gezogene Grenze überschritten sein könnte9.
Verwaltungsgericht Hamburg, Urteil vom 25. September 2009 – 5 K 1457/08
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.10.2006 – 2 BvR 696/04; OVG Hamburg, Beschluss vom 10.02.2004 – 3 Bf 238/03[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.05.2006 – 2 BvR 669/04; Beschluss vom 24.10.2006 – 2 BvR 696/04[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.10.2006, a. a. O. [dort Entziehung bei ca. eineinhalbjährigem Kind verneint]; vgl. ferner BayVGH, Beschluss vom 11.09.2007 – 5 CS 07.1921 [Entziehung bei ca. zweieinhalbjährigem Kind verneint]; VG München, Urteil vom 16.04.2009 – M 10 K 08.5928 [Entziehung bei ca. dreijährigem Kind verneint]; VG Potsdam, Beschluss vom 31.07.2008 – 3 L 172/08 [Entziehung bei ca. dreijährigem Kind verneint][↩]
- vgl. Becker, NVwZ 2006, 304, 306[↩]
- vgl. Becker , NVwZ 2006, 304, 306[↩]
- i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes v. 05.02.2009, BGBl. I 2009, 158; hierzu Huber , NVwZ 2009, 201, 204[↩]
- vgl. de Groot/Schneider , Gedächtnisschrift für Bleckmann, Köln 2007, S. 79, 102[↩]
- vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der BReg, BT-Drs. 16/10528, S. 7[↩]
- vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der BReg, BT-Drs. 16/10528, S. 1, 2 und 7; zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der vorherigen Rechtslage vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.10.2006 – 2 BvR 696/04; zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung ferner Kiefer , ZAR 2007, 93, 95 f.; Pfersich , ZAR 2007, 151, 152[↩]