EU-Rechtswidrige Bankenbeihilfen während der Finanzkrise

Das Gericht der Europäischen Union hat eine Entscheidung der Europäischen Kommission über die verschiedenen Beihilfen, die der niederländischen ING-Bankgruppe wegen der Finanzkrise gewährt wurden, teilweise für nichtig erklärt. Die EU-Kommission hat im vorliegenden Fall nach Ansicht des Europäischen Gerichts nicht nachgewiesen, dass die Änderung der Bedingungen für die Rückzahlung des zugeführten Kapitals einen Vorteil bedeutete, den ein privater Kapitalgeber in der gleichen Lage nicht gewährt hätte.

EU-Rechtswidrige Bankenbeihilfen während der Finanzkrise

Der Ausgangssachverhalt

Die ING Groep NV (ING), die ihren Sitz in Amsterdam (Niederlande) hat, bietet über 85 Mio. Kunden in mehr als 40 Ländern Bank-, Versicherungs- und Vermögensanlagedienstleistungen an. Mit rund 125 000 Beschäftigten und einer Bilanzsumme von 1 332 Mrd. Euro Ende des Jahres 2008 ist sie eines der größten Finanzinstitute der Welt.
Beihilfen für ING zur Behebung einer beträchtlichen Störung der niederländischen Wirtschaft.

Im Zusammenhang mit der Finanzkrise im Herbst 2008, die insbesondere im Zeichen des Konkurses der Bank Lehman Brothers am 15. September 2008 stand, beschlossen verschiedene Mitgliedstaaten, Maßnahmen zur Sicherung der Stabilität und des reibungslosen Funktionierens der Finanzmärkte in der Europäischen Union zu ergreifen.

In den Niederlanden veranlasste die Finanzkrise den niederländischen Staat zu mehreren Interventionen, u. a. zu einer Beihilfe für die Fortis-Gruppe, deren niederländischer Teil, einschließlich der Bank ABN Amro, am 3. Oktober 2008 verstaatlicht wurde, und zu Rekapitalisierungsmaßnahmen für Aegon und SNS Reaal am 28. Oktober 2008 und am 11. November 2008.

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Zugunsten von ING, einem während der gesamten Krise als grundsätzlich gesund angesehenen Institut, wurden drei Beihilfemaßnahmen getroffen, um die Kontinuität des Zahlungssystems und des Interbankenmarkts in den Niederlanden zu gewährleisten.

Die erste Beihilfemaßnahme bestand in einer Kapitalerhöhung, die am 11. November 2008 durch die Ausgabe von hybriden Wertpapieren vorgenommen wurde, die weder Stimmrecht noch Dividendenanspruch gewährten und in vollem Umfang vom niederländischen Staat gezeichnet wurden. Dadurch konnte ING ihr Grundkapital der Kategorie 1 um 10 Mrd. Euro erhöhen; es stieg dadurch von 6,5 % auf 8 % nach der Kapitalerhöhung.

Nach den ursprünglich vereinbarten Rückzahlungsbedingungen sollten diese Wertpapiere auf Initiative von ING entweder zum Stückpreis von 15 Euro (d. h. mit einem Rückzahlungsagio von 50 % auf den Ausgabepreis von 10 Euro) zurückgekauft werden oder nach drei Jahren eins zu eins in Stammaktien umgewandelt werden. Sollte ING sich für die Umwandlung entscheiden, hatte der niederländische Staat jedoch die Möglichkeit, die Wertpapiere an ING zu einem Stückpreis von 10 Euro zuzüglich Stückzinsen zurückzuverkaufen. Der Staat sollte nur dann eine Kuponzahlung erhalten, wenn ING für die Stammaktien Dividenden ausschüttete.

Diese ursprünglichen Bedingungen wurden in der Folge für einen Teil des zugeführten Kapitals geändert. Nach den neuen Bedingungen, die der niederländische Staat der Kommission mitteilte, konnte ING bis zu 50 % der Wertpapiere zum Ausgabepreis von 10 Euro pro Stück zurückkaufen, zuzüglich der auf der Basis des Jahreskupons von 8,5 % errechneten Stückzinsen und, sollten die ING-Aktien zu einem Preis von mehr als 10 Euro gehandelt werden, einer Vorfälligkeitsentschädigung. Dies sicherte dem niederländischen Staat einen internen Zinsfuß von mindestens 15 %.

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Die zweite Beihilfemaßnahme bestand in einem Cashflow-Swap bezüglich wertgeminderter Aktiva und betraf ein Portfolio, das durch in den USA gewährte Hypothekendarlehen besichert und dessen Wert beträchtlich gesunken war. Die dritte Beihilfemaßnahme bestand in Garantien des niederländischen Staats für Verbindlichkeiten von ING im Umfang von über 12 Mrd. Euro.

Prüfung durch die Kommission

Nach mehreren Verwaltungsverfahren erging die Entscheidung der Kommission vom 18. November 2009 über die Vereinbarkeit dieser Beihilfemaßnahmen mit dem Binnenmarkt. In dieser Entscheidung stufte die Kommission die vom niederländischen Staat gezeichnete Erhöhung des Kapitals von ING als Beihilfe ein und vertrat die Auffassung, dass diese – nach der Änderung der Bedingungen für ihre Rückzahlung – insbesondere eine zusätzliche Beihilfemaßnahme von „etwa 2 Mrd. EUR“ umfasse. Die Kommission stellte nach ihrer Prüfung in Art. 2 Abs. 1 der Entscheidung fest, dass „[d]ie ING von den Niederlanden gewährte Umstrukturierungsbeihilfe … eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 [EG] dar[stellt]“, und in Art. 2 Abs. 2, dass diese Beihilfe „[v]orbehaltlich der in Anhang II aufgeführten Verpflichtungszusagen … mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar [ist]“. Die Niederlande und ING, die von der DNB, der niederländischen Zentralbank, unterstützt wurde, fochten die Entscheidung vom 18. November 2009 vor dem Gericht an, insbesondere soweit die Kommission die Auffassung vertrat, dass die Beihilfemaßnahmen eine zusätzliche Beihilfe von 2 Mrd. Euro umfassten.

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Würdigung durch das Gericht der Europäischen Union

Nach Ansicht des Europäischen Gerichts durfte sich die Kommission nicht auf die Feststellung beschränken, dass die Änderung der Bedingungen für die Rückzahlung des zugeführten Kapitals ipso facto eine staatliche Beihilfe darstelle, ohne vorher zu prüfen, ob ING durch die vorgenommene Änderung ein Vorteil eingeräumt wurde, den ein privater Kapitalgeber in der gleichen Lage wie der niederländische Staat nicht gewährt hätte. Diese Prüfung setzte insbesondere einen Vergleich der ursprünglichen Rückzahlungsbedingungen mit den geänderten voraus.

Das Gericht der Europäischen Union stellt fest, dass sich aus der Entscheidung vom 18. November 2009 nicht ergibt, dass die Kommission einen solchen Vergleich durchgeführt hätte. Sie hat nämlich lediglich ausgeführt, dass die Änderung der Rückzahlungsbedingungen einen Einnahmenverzicht für den niederländischen Staat bedeute, ohne zu berücksichtigen, dass die ursprünglichen Bedingungen für ING keine Verpflichtung, sondern nur die Möglichkeit vorsahen, die vom niederländischen Staat gezeichneten Wertpapiere innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist von drei Jahren zurückzukaufen. Außerdem hatte die Kommission im November 2008 die Auffassung vertreten, dass die Rendite, die der Markt für Wertpapiere wie die bei der Kapitalzuführung ausgegebenen erwartete und die „den von einer Krise betroffenen Markt widerspiegelt[e]“, „15 % oder mehr“ betrug. Die Kommission sah diese Rendite als zu hoch an und gab sich in diesem Stadium mit einer Rendite von „über 10 %“ zufrieden. Daraus folgt, dass die Kommission der Ansicht war, dass private Kapitalgeber möglicherweise an derartigen Wertpapieren interessiert gewesen wären. Das Gericht hält es daher für nicht ausgeschlossen, dass im November 2009 – als die Finanzkrise weniger spürbar war und davon ausgegangen werden durfte, dass die vom Markt erwartete Rendite niedriger sein würde – private Kapitalgeber möglicherweise noch immer an solchen Wertpapieren interessiert waren.

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In diesem Zusammenhang hat die Kommission nicht geprüft, inwiefern eine Rendite zwischen 15 % und 22 %, die dem niederländischen Staat nach der Änderung der Rückzahlungsbedingungen gewährt wurde, nicht dem entsprach, was vernünftigerweise von einem privaten Kapitalgeber erwartet werden konnte, der sich in einer vergleichbaren Situation befand, d. h. Inhaber von Wertpapieren der bei der Kapitalzuführung ausgegebenen Art war und eine Rückzahlung seitens des Emittenten erhalten sollte. Das Gericht ist der Ansicht, dass die Kommission ihre Entscheidung nicht erlassen durfte, ohne diese Informationen zu berücksichtigen und zu prüfen, wie sie sich auf ihre Beurteilung der Beihilfe auswirken.

Das Gericht der Europäischen Union erklärt die Entscheidung der Kommission daher insoweit für nichtig, als sie auf der Feststellung beruht, dass die Änderung der Bedingungen für die Rückzahlung des zugeführten Kapitals eine zusätzliche Beihilfe von etwa 2 Mrd. Euro darstelle, und als darin infolgedessen die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt und insbesondere der Umfang der als Gegenleistung für eine solche Beihilfe getroffenen Ausgleichsmaßnahmen geprüft werden.

Angesichts dessen besteht für das Gericht der Europäischen Union kein Anlass, die Argumente zu prüfen, die ING und die Kommission in Bezug auf die in Anhang II der Entscheidung vom 18. November 2009 aufgeführten Verpflichtungszusagen vorgebracht haben, da sie voraussetzen, dass die Umstrukturierungsbeihilfe, auf die sich Art. 2 der Entscheidung bezieht, zutreffend bewertet wurde, was in der vorliegenden Rechtssache nicht der Fall ist.

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Gericht der Europäischen Union, Urteil vom 2. März 2012 – T-29/10 [Niederlande/Kommission] und T-33/10 [ING Groep NV/Kommission]