Bei Inhaberschuldverschreibungen mit 100%igem Kapitalschutz oder mit bedingtem Kapitalschutz bezogen auf das Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten bestimmter Schwellenwerte oder Barrierepuffer stellt ein Sonderkündigungsrecht der Emittentin, verbunden mit dem Risiko eines teilweisen oder völligen Kapitalverlustes, eine für die Anlageentscheidung eines an Zertifikaten mit Kapitalschutz interessierten Anlegers wesentliche Anleihebedingung dar, über die ein solcher Kunde durch die ihn beratende Bank ungefragt aufzuklären ist.

Die beratende Bank ist zu einer anleger- und objektgerechten Beratung verpflichtet. Inhalt und Umfang der Beratungspflichten hängen dabei von den Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich sind einerseits der Wissensstand, die Risikobereitschaft und das Anlageziel des Kunden und andererseits die allgemeinen Risiken, wie etwa die Konjunkturlage und die Entwicklung des Kapitalmarktes, sowie die speziellen Risiken, die sich aus den Besonderheiten des Anlageobjekts ergeben. Die Beratung hat sich auf diejenigen Eigenschaften und Risiken des Anlageobjekts zu beziehen, die für die jeweilige Anlageentscheidung wesentliche Bedeutung haben oder haben können. Während die Bank über diese Umstände richtig, sorgfältig, zeitnah, vollständig und für den Kunden verständlich zu unterrichten hat, muss die Bewertung und Empfehlung des Anlageobjekts unter Berücksichtigung der genannten Gegebenheiten lediglich ex ante betrachtet vertretbar sein. Das Risiko, dass sich eine aufgrund anleger- und objektgerechter Beratung getroffene Anlageentscheidung im Nachhinein als falsch erweist, trägt der Anleger [1].
Ausgehend von diesen Maßstäben war die beratende Bank verpflichtet, vor dem Erwerb der streitgegenständlichen Zertifikate darüber aufzuklären, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen der Emittentin bereits vor dem Laufzeitende ein Sonderkündigungsrecht zusteht.
Bei dem Sonderkündigungsrecht handelt es sich um einen Umstand, der für die Anlageentscheidung des Anlegers zum Erwerb der streitgegenständlichen Zertifikate wesentliche Bedeutung hatte. Bei der Empfehlung von Inhaberschuldverschreibungen mit einem unbedingten Kapitalschutz zum Laufzeitende oder einem bedingten Kapitalschutz bis zum Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten einer bestimmten Sicherheitsbarriere ist die beratende Bank deshalb verpflichtet, einen Anleger ungefragt über ein Sonderkündigungsrecht der Emittentin aufzuklären, bei dessen Ausübung für den Anleger das Risiko eines teilweisen oder vollständigen Kapitalverlustes besteht.
Kennzeichnend für Inhaberschuldverschreibungen mit einem 100%igen Kapitalschutz ist, dass durch den Kapitalschutz dem Anleger die Rückzahlung seines Anlagebetrages zum Laufzeitende vorbehaltlos garantiert wird. Dadurch beschränkt sich das über das Bonitätsrisiko der Emittentin hinausgehende Risiko des Anlegers bei solchen Zertifikaten darauf, dass er mit dem Anlagebetrag keinen Gewinn erwirtschaftet. Bei Zertifikaten mit bedingtem Kapitalschutz bezogen auf das Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten von bestimmten Schwellenwerten oder Barrierepuffern der Basiswerte führt der Kapitalschutz demgegenüber dazu, dass dem Anleger die Rückzahlung seines Anlagebetrages jedenfalls bis zum Eintritt eines prozentual bestimmten Anstieges oder Rückganges der Basiswertkurse gewährleistet wird. Bis zu diesem Zeitpunkt trägt auch hier der Anleger lediglich das Bonitätsrisiko der Emittentin, nicht jedoch ein Kapitalverlustrisiko.
Ein Sonderkündigungsrecht als zusätzliche einseitige Einwirkungsbefugnis der Emittentin auf diese Rahmenbedingungen schafft demgegenüber für den Anleger ein zusätzliches Risiko [2], das dem Wesensmerkmal des Kapitalschutzes diametral entgegensteht, denn der im Kündigungsfall von der Berechnungsstelle der Emittentin festzulegende kostenbereinigte Marktwert der Zertifikate kann den Anlagebetrag unterschreiten, dessen Garantie dann gerade entfällt. Dabei handelt es sich um eine für die Anlageentscheidung eines an Zertifikaten mit Kapitalschutz interessierten Anlegers wesentliche Anleihebedingung, über die ein solcher Kunde durch die ihn beratende Bank aufzuklären ist. In entsprechender Anwendung der für die bürgerlichrechtliche Prospekthaftung im engeren Sinne entwickelten Grundsätze, wonach ein Prospekt über alle Umstände sachlich richtig, vollständig und zeitnah unterrichten muss, die für die Anlageentscheidung von wesentlicher Bedeutung sein können, ist eine Anleihebedingung als wesentlich anzusehen, wenn sie Umstände betrifft, die den Zweck der Kapitalanlage vereiteln können und die ein Anleger deshalb bei seiner Anlageentscheidung „eher als nicht“ berücksichtigen würde [3]. Dies ist bei einem Kündigungsrecht der Emittentin, dessen Ausübung zu einer Reduzierung des Rückzahlungsbetrages einer Anleihe mit Kapitalschutz bis auf Null führen kann, ohne weiteres der Fall.
Auch die Emittentin hat dies offensichtlich so gesehen, denn sie hat in ihren – dem Anleger freilich vorenthaltenen – Anleihebedingungen gleich an mehreren Stellen im Fettdruck hervorgehoben, dass Investoren beachten sollten, dass der im Falle einer Kündigung der Emittentin zu ermittelnde Marktwert der Zertifikate unter Umständen unter dem festgelegten Nennbetrag pro Schuldverschreibung bzw. dem Betrag, den ein Investor für die Schuldverschreibungen gezahlt hat, liegen kann und möglicherweise Null betragen kann.
Diese Aufklärungspflicht der beratenden Bank entfällt nicht deshalb, weil in den Anleihebedingungen ein Sonderkündigungsrecht der Emittentin nur für Ausnahmekonstellationen geregelt wäre, deren Eintritt von vornherein völlig unwahrscheinlich wäre. Auch der wenig wahrscheinliche Eintritt eines solchen Kündigungsgrundes, wie etwa eines Delistings, einer Verstaatlichung oder einer Insolvenz einer Großbank oder eines DAX-Unternehmens, kann für einen auf den Erhalt seines eingesetzten Kapitals bedachten Anleger von entscheidender Bedeutung sein. Da die Berechnungsstelle der Emittentin den kostenbereinigten Rückzahlungsbetrag nach billigem Ermessen festsetzen kann, droht bei einer Kündigung der Emittentin dem Erwerber von Zertifikaten mit 100%igem oder mit bedingtem Kapitalschutz bereits vor dem Erreichen des Barrierepuffers ein erheblicher finanzieller Schaden bis hin zum Totalverlust seines eingesetzten Kapitals.
Dies gilt hinsichtlich des streitgegenständlichen Zertifikats umso mehr, als zu den Gründen für das Sonderkündigungsrecht der Emittentin nicht nur eine tatsächlich erfolgte, sondern bereits eine nur geplante Änderung oder Ergänzung steuerrechtlicher Vorschriften in einem der Herkunftsländer der Emittentin bzw. der Garantin zählt. Da Planungen zur Änderung oder Ergänzung steuerrechtlicher Vorschiften angesichts der Komplexität und der Dauer nationalstaatlicher Gesetzgebungsverfahren im Grunde immer stattfinden und darüber hinaus völlig offen ist, ab wann im Sinne der Anleihebedingungen von der „Planung“ einer Steuerrechtsänderung auszugehen ist, wird der Emittentin durch diesen Sonderkündigungsgrund praktisch die Möglichkeit eingeräumt, sich bei einer für sie ungünstigen Entwicklung der Underlyings ohne Weiteres ihren Verpflichtungen aus dem Kapitalschutz der Zertifikate zu entziehen.
Dem steht nicht entgegen, dass der wirtschaftliche Nachteil, den der Anleger bei einer Kündigung durch die Emittentin vor Ablauf des Anlagezeitraumes erleidet, nur gering und deshalb zu vernachlässigen sei. Davon kann angesichts der in den Anleihebedingungen geregelten Folgen einer Emittentenkündigung schon deshalb keine Rede sein, weil die Emittentin selbst davon ausgeht, dass der von der Berechnungsstelle im Kündigungsfalle zu ermittelnde marktgerechte Wert der Zertifikate deren Nennbetrag bzw. den Anlagebetrag nicht nur unterschreiten, sondern sogar Null betragen kann. Für den auf die Sicherheit seines Kapitals bedachten Erwerber eines Zertifikats mit Kapitalschutz ist dies kein zu vernachlässigender Nachteil.
Soweit vertreten wird, bei den Fällen, in denen der Emittentin ein Sonderkündigungsrecht zusteht, handle es sich um Sachverhalte, in denen das aus dem Zertifikat resultierende Schuldverhältnis zwischen ihr und dem Anleger ohnehin nicht mehr durchführbar bzw. so erheblich gestört sei, dass eine Anpassung der Anleihebedingungen schon nach § 313 BGB geboten sei, ist dieser Einwand für die Beantwortung der Frage nach den Anforderungen an eine objektgerechte Beratung der Bank bei der Empfehlung von Zertifikaten mit Kapitalschutz ohne Aussagekraft. Einer Emittentin, die eine Kapitalgarantie in den Fällen einer schwerwiegenden Veränderung der bei Vertragsschluß maßgeblichen Umstände nicht mehr übernehmen will, ist es unbenommen, dem Instrumentarium des § 313 BGB nachgebildete Regelungen in ihre Anleihebedingungen aufzunehmen. Versieht sie ihre Schuldverschreibungen jedoch gleichwohl mit werbenden Bezeichnungen wie z.B. „Garantiezertifikat“, „Kapitalschutz“, „Sicherheitsschwelle“ oder „Barrierepuffer“, so handelt es sich bei den dazu im Widerspruch stehenden Rechtsfolgen ihrer Kündigung um für den Anlageentschluss eines Kapitalanlegers wesentliche Umstände, über die er durch die ihn beratende Bank, wenn diese ihm wie hier – die Anleihebedingungen der Emittentin nicht zur Verfügung stellt, jedenfalls auf andere Weise aufgeklärt werden muss. Denn anders als die Revision meint, entsprechen die streitgegenständlichen Regelungen zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Sonderkündigung der Emittentin weder bei Zertifikaten mit 100%igem noch bei solchen mit bedingtem Kapitalschutz dem allgemeinen Erwartungshorizont eines Anlegers.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 25. November 2014 – XI ZR 169/13
- vgl. BGH, Urteile vom 27.09.2011 – XI ZR 182/10, BGHZ 191, 119 Rn. 22; und vom 29.04.2014 – XI ZR 130/13, WM 2014, 1221 Rn. 16, jeweils mwN[↩]
- Podewils, ZHR 174 (2010), 192, 193[↩]
- st. Rspr., zuletzt BGH, Urteil vom 18.09.2012 – XI ZR 344/11, BGHZ 195, 1 Rn. 23 f. mwN[↩]
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