Pflegeperson im Sinne des § 86 Abs. 6 SGB VIII ist, wer ein Kind oder einen Jugendlichen über Tag und Nacht in seinen Haushalt aufnimmt (Legaldefinition des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII).
Nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII wird, abweichend von den Absätzen 1 bis 5 der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn das Kind oder der Jugendliche zwei Jahre bei der Pflegeperson lebt und sein Verbleib bei dieser Pflegeperson auf Dauer zu erwarten ist. Der in § 86 Abs. 6 SGB VIII verwendete Begriff der Pflegeperson wird in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gesetzlich definiert. Danach ist Pflegeperson, wer ein Kind oder einen Jugendlichen über Tag und Nacht in seinen Haushalt aufnimmt. Diese gesetzliche Begriffsbestimmung ist so allgemein gehalten, dass sie – obgleich sie nicht im Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches Achtes Buch steht – grundsätzlich für den gesamten Anwendungsbereich des Kinder- und Jugendhilferechts Geltung beansprucht. Sie ist als solche auch von dem engeren systematischen Zusammenhang des § 44 SGB VIII gelöst, sodass sie wegen ihrer Stellung in der Vorschrift über die Erlaubnis zur Vollzeitpflege nicht auf solche Personen beschränkt ist, die der Sache nach Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege im Sinne des § 27 i.V.m. § 33 SGB VIII leisten. Eine derartige Einschränkung ergibt sich auch nicht aus der Verwendung des Begriffs im speziellen Regelungskontext der örtlichen Zuständigkeit.
Die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII enthält eine leistungsunabhängige Begriffsbestimmung. Die Erläuterung des Begriffs der Pflegeperson ist nach Wortlaut und systematischer Stellung der Regelung über den Erlaubnisvorbehalt bei Vollzeitpflege vorangestellt. Die Qualifikation einer Person als Pflegeperson ist (notwendige) Voraussetzung für eine nach Maßgabe des § 44 Abs. 1 Satz 2 erforderliche und unter den Voraussetzungen des § 44 Abs. 2 SGB VIII zu versagende Erlaubnis. Sie ist nicht erst die Folge einer im Einzelfall für die Vollzeitpflege auf der Grundlage des § 44 SGB VIII erteilten Erlaubnis.
Zwar dürfte es sich bei der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII in der Praxis um den Regelfall des § 86 Abs. 6 SGB VIII handeln, der auch dem Gesetzgeber als Leitbild gedient hat1. Dafür spricht auch die an § 86 Abs. 6 SGB VIII anknüpfende Kostenerstattungsregelung des § 89a SGB VIII, die mit „Kostenerstattung bei fortdauernder Vollzeitpflege“ überschrieben ist. Jedoch ist der Begriff der Pflegeperson im Anwendungsbereich des § 86 Abs. 6 SGB VIII deshalb nicht zwangsläufig auf solche Personen begrenzt. Die Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege nach § 27 i.V.m. § 33 SGB VIII ist in § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht erwähnt. Auch Systematik sowie Gesetzeszweck enthalten keinen Anhaltspunkt, dass der Begriff der Pflegeperson in § 86 Abs. 6 SGB VIII an die Gewährung dieser speziellen Leistung gebunden ist. Vielmehr entspricht es, auch angesichts der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des § 86 Abs. 6 SGB VIII, dem gesetzgeberischen Anliegen, für den Begriff der Pflegeperson allein auf die Merkmale der Legaldefinition des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII abzustellen.
Nach dem Regelungskonzept des § 86 SGB VIII ist der Zuständigkeitswechsel nach § 86 Abs. 6 SGB VIII als Folge der Begründung eines neuen familiär oder familienähnlich strukturierten Pflegeverhältnisses veranlasst. Die Vorschrift des § 86 SGB VIII orientiert sich am Wohl des Kindes oder Jugendlichen (vgl. § 1 Abs. 1 und 3 SGB VIII) als Ausgangspunkt und Ziel jeder Jugendhilfemaßnahme und soll eine effektive Aufgabenwahrnehmung sicherstellen2. Zu diesem Zweck knüpft sie die örtliche Zuständigkeit losgelöst von der konkreten Leistung an eine räumliche Nähe zu dem Ort, an dem das Kind oder der Jugendliche (primär) seinen Lebensmittelpunkt hat. Sie ist mithin eine rein aufenthaltsbezogene Bestimmung. Dabei berücksichtigt sie, dass ein Kind oder Jugendlicher aus rechtlicher und pädagogischer Sicht im Zusammenhang mit den Personen zu sehen ist, die für es oder ihn die Erziehungsverantwortung innehaben3. Dementsprechend bindet § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII die örtliche Zuständigkeit grundsätzlich an den gewöhnlichen Aufenthalt(sort) der Eltern bzw. des maßgeblichen Elternteils (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), weil diese bzw. dieser im Regelfall auch die Nähe zur Lebenswelt des Kindes oder Jugendlichen vermitteln bzw. vermittelt. § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII durchbricht diese Regel in den Fällen, in denen ein Kind oder Jugendlicher auf Dauer in eine andere Familie eingebunden ist4. Lebt ein Kind oder Jugendlicher längere Zeit mit anderen Personen in einer familienähnlich strukturierten Gemeinschaft zusammen, verschiebt sich gewöhnlich dessen Lebensmittelpunkt. Das Kind oder der Jugendliche bildet typischerweise (auch) zu den dort als zentrale und langfristig zur Verfügung stehenden Bezugspersonen persönliche und familiäre Bindungen aus. In Anerkennung dieser allgemeinen psychosozialen Realität will § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII die örtliche Zuständigkeit – abweichend von § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII – an den gewöhnlichen Aufenthalt dieser Bezugspersonen binden. Dadurch wird die im Interesse des Kindes oder Jugendlichen liegende enge und kontinuierliche Zusammenarbeit des Jugendamtes mit der Person oder den Personen ermöglicht und begünstigt, die faktisch die Funktion der Eltern wahrnimmt oder wahrnehmen.
Für den erforderlichen familiären oder familienähnlichen Charakter ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass das Kind oder der Jugendliche gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII über Tag und Nacht in den Haushalt der Pflegeperson aufgenommen wird. Denn eine derartige Aufnahme ist ihrer Art nach typischerweise auf die Begründung familiärer oder familienähnlicher Beziehungen angelegt. Haushalt im Sinne dieser Vorschrift ist der private Haushalt der Pflegeperson. Die Pflegeperson muss also den Haushalt eigenverantwortlich führen. Eine Haushaltsaufnahme über Tag und Nacht ist gegeben, wenn das Kind oder der Jugendliche dort sein Zuhause hat. Das Kind oder der Jugendliche muss sich grundsätzlich durchgängig und nicht nur zeitweise im Haushalt der Pflegeperson aufhalten. Eine zeitweilige auswärtige Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen von vorübergehender Dauer (z.B. zur Schul- oder Berufsausbildung) ist dabei unschädlich, sofern es oder er im Rahmen der Möglichkeiten regelmäßig in den Haushalt der Pflegeperson zurückkehrt.
Die darüber hinaus geforderte Beständigkeit der Beziehung wird hingegen allein aus einem zweijährigen Aufenthalt bei der Pflegeperson und der positiven Prognose zum weiteren Verbleib bei dieser Person hergeleitet. Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass sich persönliche und emotionale Bindungen mit der Dauer des Zusammenlebens verfestigen. Für die Bestimmung der Zuständigkeit nicht erforderlich ist hingegen die Feststellung, dass eine derartige Verfestigung im konkreten Pflegeverhältnis tatsächlich eingetreten ist und sich eine der ElternKindBeziehung vergleichbare Bindung entwickelt hat. Denn die Bewertung der tatsächlichen Qualität von Bindungen in einem konkreten Pflegeverhältnis hängt im Wesentlichen von inneren Tatsachen ab und kann mit beträchtlichen Unsicherheiten belastet sein. Dies steht dem Bedürfnis nach Zuständigkeits- und Rechtssicherheit entgegen. Der Träger der örtlichen Jugendhilfe, der gegenwärtig zur Gewährung der Jugendhilfeleistung berechtigt und verpflichtet ist und dem damit die Verantwortung für die Gewährung einer einzelnen Jugendhilfemaßnahme zukommt, muss sich ohne intensivere Nachforschungen und Entscheidungen klar und eindeutig bestimmen lassen4.
Für eine von den Voraussetzungen der Vollzeitpflege im Sinne des § 33 SGB VIII unabhängige Begriffsbestimmung spricht zudem, dass die Zweijahresfrist des § 86 Abs. 6 SGB VIII üblicherweise auch bei solchen Zeiten angerechnet wird, in denen das Kind oder der Jugendliche bei einer Pflegeperson lebt, ohne dass eine Leistung der Jugendhilfe im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII erbracht wird5 – ZfJ 2002, 360; VG Freiburg, Beschluss vom 24.07.2001 – 8 K 1273/00 – JAmt 2001, 600)).
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. September 2009 – 5 C 20.10
- vgl. z.B. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen – Bundeskinderschutzgesetz – vom 15.04.2011, BT-Drucks 17/6256 S. 28[↩]
- BVerwG, Urteil vom 30.09.2009 – 5 C 18.08, BVerwGE 135, 58 = Buchholz 436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr. 9 jeweils Rn. 23[↩]
- vgl. Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl.2011, Vor § 86 Rn. 7[↩]
- vgl. BT-Drucks 11/5948 S. 104[↩][↩]
- vgl. z.B. Wiesner a.a.O. § 86 Rn. 35 f.; Reisch, in: Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und Jugendhilferecht, Stand Januar 2010, KJHG Art. 1 Erl. § 86 Rn. 74; Krug, in: Krug/Riehle, SGB VIII, Stand Dezember 2008, § 86 S.19; W. Schellhorn, in: Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/KJHG, 3. Aufl.2007, § 86 Rn. 49; Kunkel, in: Kunkel, LPKSGB VIII, 3. Aufl.2006, § 86 Rn. 49; Grube, in: Hauck, SGB VIII, Stand November 2004, K § 86 Rn. 29; VG Darmstadt, Urteil vom 25.09.2001 – 6 E 1879/00 ((4[↩]











