Auseinanderfallen von Schuldspruch und Urteilsgründen – und die Ergänzung der Urteilsformel

Nur solche Fehler sind „offensichtlich“, die sich ohne weiteres aus der Urkunde selbst oder aus solchen Tatsachen ergeben, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage treten und auch nur den entfernten Verdacht einer späteren sachlichen Änderung ausschließen.

Auseinanderfallen von Schuldspruch und Urteilsgründen – und die Ergänzung der Urteilsformel

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hatte das Landgericht vier Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge festgestellt und hierfür Einzelstrafen von einem Jahr und neun Monaten und dreimal einem Jahr und drei Monaten verhängt. Einen entsprechenden Schuldspruch hat es aber weder verkündet noch ist er im Tenor der Urteilsurkunde enthalten.

Der Bundesgerichtshof hat erwogen, ob es sich bei dem Auseinanderfallen von Schuldspruch und Urteilsgründen um ein offensichtliches Verkündungs- bzw. Fassungsversehen handelt, wonach eine – vom Generalbundesanwalt beantragte – ausnahmsweise Ergänzung der Urteilsformel zulässig wäre. Die Voraussetzungen für eine solche Abänderung des Urteils liegen hier aber nicht vor:

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind „offensichtlich“ nur solche Fehler, die sich ohne weiteres aus der Urkunde selbst oder aus solchen Tatsachen ergeben, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage treten und auch nur den entfernten Verdacht einer späteren sachlichen Änderung ausschließen. Es muss – auch ohne Berichtigung – eindeutig erkennbar sein, was das Gericht tatsächlich gewollt und entschieden hat. Bei dieser Prüfung ist ein strenger Maßstab anzulegen, um zu verhindern, dass mit einer Berichtigung eine unzulässige Abänderung des Urteils einhergeht1. Zwar spricht angesichts der späteren Abfassung der Urteilsgründe vieles dafür, dass sich das Landgericht bei dem verkündeten Tenor verzählt hat, jedoch ist dies nicht offensichtlich in dem dargestellten Sinne.

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Hier hat die Staatsanwaltschaft der Angeklagten in der Anklageschrift insgesamt acht Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt. Die zugelassene Nachtragsanklage vom 21.09.2016 erfasste einen weiteren Fall des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge; mithin waren bei dem Landgericht neun vorgeworfene Taten anhängig geworden. Das verkündete Urteil bezog sich auf vier Taten, für die eine Verurteilung erging (dreimal Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und einmal Beihilfe zu einer solchen Tat). Ausweislich des verkündeten Tenors und des Tenors der Urteilsurkunde ist „im Übrigen“, mithin für alle noch anhängig gewesenen Tatvorwürfe Freispruch erfolgt. Vor diesem Hintergrund war für die Verfahrensbeteiligten nicht erkennbar, dass tatsächlich für einen weiteren Tatvorwurf eine Verurteilung gewollt war, der Freispruch – entgegen des verkündeten Wortlauts – diese weitere Tat nicht erfassen sollte. Anhaltspunkte hierfür haben sich weder aus der Prozessgestaltung, noch aus dem die Tatvorwürfe teilweise bestreitenden Einlassungsverhalten der Angeklagten ergeben.

Jedenfalls bei einer solchen, eindeutig alle anhängigen Taten ergreifenden Fassung des verkündeten Tenors kann allein der Umstand, dass in den Urteilsgründen mehr Taten festgestellt, bewertet und sanktioniert worden sind, als es dem verkündeten Urteilstenor entspricht, nicht dazu berechtigen, einen offensichtlichen Zählfehler anzunehmen2. Eine Änderung der Urteilsformel liefe auf eine Durchbrechung des alle nicht verurteilten und noch anhängig gewesenen Vorwürfe erfassenden und rechtskräftig gewordenen Freispruchs hinaus.

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Da nicht zu bestimmen war, für welche der Taten, für die das Landgericht eine Einzelfreiheitsstrafe verhängt hat, die Angeklagte nicht verurteilt, sondern freigesprochen worden war, hob der Bundesgerichtshof die höchste Einzelfreiheitsstrafe auf und lies sie entfallen. Der Wegfall der Einsatzstrafe führte zur Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 1 StR 113/17

  1. vgl. BGH, Beschlüsse vom 11.04.2017 – 2 StR 345/16 mwN; und vom 22.11.2016 – 1 StR 471/16; Urteil vom 14.01.2015 – 2 StR 290/14, BGHR StPO § 267 Urteilsberichtigung 1 mwN; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 268 Rn. 10[]
  2. diese Frage offen lassend: BGH, Beschluss vom 17.03.2000 – 2 StR 430/99, NStZ 2000, 386, wobei sich der Freispruch ausweislich der Entscheidungsgründe abweichend auf eine bezifferte Fallanzahl bezog[]