Divergenz zwischen verkündeter und schriftlicher Urteilsformel

Bei Divergenz zwischen verkündeter Urteilsformel und dem zu den Akten gebrachten schriftlichen Urteil ist die verkündete Urteilsformel ausschlaggebend.

Divergenz zwischen verkündeter und schriftlicher Urteilsformel

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hält – entgegen der vom 5. Strafsenat geäußerten Ansicht1 – an seiner Auffassung fest2, dass das Übereinstimmen von verkündeter und im schriftlichen Urteil niedergelegter Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen ist.

Es ist für den 1. Strafsenat weiterhin nicht zu erkennen und wird vom 5. Strafsenat auch nicht erläutert, worin bei fehlender Übereinstimmung ein Verfahrensfehler liegen soll, der dann nur unter den strengen Voraussetzungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gerügt werden kann.

Neben den im Urteil des 1. Strafsenats vom 10.10.20192 genannten Gründen sind hierfür die Vorschriften der § 358 Abs. 2 Satz 1, § 331 Abs. 1 StPO anzuführen: Hat nur der Angeklagte (oder zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft) Rechtsmittel eingelegt und hebt das Rechtsmittelgericht daraufhin die Strafe auf, darf die neu zu verhängende Strafe die vorherige nicht übersteigen. Dieses Verbot der Schlechterstellung bewirkt zugunsten des Angeklagten eine Teilrechtskraft der Bestrafungsgrenze; als (partielles) Verfahrenshindernis ist es von Amts wegen zu beachten3.

Diese Teilrechtskraft tritt, falls weder die Staatsanwaltschaft zu Lasten des Angeklagten noch Nebenkläger das Urteil anfechten, binnen einer Woche ab Urteilsverkündung ein; für die Bestrafungsgrenze ist mithin die verkündete Urteilsformel maßgeblich.

Um die Auswirkung der Rechtskraft bestimmen zu können, haben nach alledem das Revisions- und Berufungsgericht auch den Verkündungsinhalt von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen. Bei Divergenz zwischen verkündeter Urteilsformel und dem – regelmäßig erst nach über einer Woche nach Verkündung – zu den Akten gebrachten schriftlichen Urteil ist erstere ausschlaggebend4.

Auch nach der Gegenansicht müsste man jedenfalls im neuen Revisionsverfahren nach zweiter Tatsachenentscheidung wegen des Verböserungsverbots die verkündete und vorrangige Urteilsformel von Amts wegen beachten5.

Indes ist im Interesse der Rechtssicherheit und -klarheit für die Revisionsverfahren in beiden Rechtsgängen eine einheitliche Handhabung geboten. Zudem darf für die Revisionsinstanz insoweit nichts anderes als für die Berufungsinstanz gelten; dem Berufungsrecht sind Verfahrensrügen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) fremd (§§ 314, 317 StPO).

Schließlich ist die Urteilsformel aus dem Hauptverhandlungsprotokoll geeignete Grundlage der Strafvollstreckung (vgl. § 13 Abs. 2, 3 Satz 1 der Strafvollstreckungsordnungen der Bundesländer). Auch dies spricht für das Erfordernis einer amtswegigen Prüfung.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 StR 336/20

  1. BGH, Beschluss vom 23.06.2020 – 5 StR 189/20 Rn. 5[]
  2. BGH, Urteil vom 10.10.2019 – 1 StR 632/18 Rn. 11-16[][]
  3. BGH, Beschlüsse vom 27.07.2017 – 1 StR 412/16 Rn. 73; vom 03.04.2013 – 3 StR 60/13 Rn. 3; und vom 23.08.2000 – 2 StR 171/00 Rn. 7; Urteil vom 14.10.1959 – 2 StR 291/59, BGHSt 14, 5, 7[]
  4. BGH, Urteil vom 10.10.2019 – 1 StR 632/18 Rn. 15 mwN[]
  5. BGH aaO; vgl. auch Ventzke, NStZ 2020, 372, 373[]

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