Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat, § 338 Nr. 5 StPO.

Dieser absolute Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO setzt im Sinne eines ungeschriebenen Merkmals voraus, dass der Angeklagte an wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat1.
Dies ist dann der Fall, wenn in den Sitzungsterminen, in denen der Angeklagte nicht anwesend war, wesentliche Teile der Hauptverhandlung, wie die Beweisaufnahme, die Beschränkung der Strafverfolgung, die Schlussvorträge und die Verlesung der Urteilsformel stattfanden.
Die Fortsetzung der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten an diesen Terminen verstößt gegen § 230 Abs. 1 StPO. Danach findet gegen einen ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht statt, es sei denn, dies ist nach § 231 Abs. 2 StPO ausnahmsweise zulässig. Nach dieser Vorschrift darf eine unterbrochene Hauptverhandlung ohne den Angeklagten zu Ende geführt werden, wenn er eigenmächtig ferngeblieben ist, d.h. ohne Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt2.
Eigenmächtig einem Fortsetzungstermin fern bleibt auch der Angeklagte, der sich schon vor dem angesetzten Termin wissentlich und ohne Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgrund, d.h. ohne Not, in eine Lage begibt, die für ihn vorhersehbar mit dem erheblichen Risiko verbunden ist, zum angesetzten Termin an der Teilnahme der Hauptverhandlung gehindert zu sein. Dem eigenmächtigen Ausbleiben im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO steht es deshalb gleich, dass sich ein Angeklagter nach der Vernehmung zur Sache – vorher gilt § 231a StPO – in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt3. Dem ist die Situation vergleichbar, dass ein Angeklagter während einer laufenden Hauptverhandlung in Deutschland im Ausland vorsätzlich eine Straftat von Gewicht begeht, bei deren Entdeckung er mit seiner Verhaftung rechnen muss, oder wenn ein in Deutschland vor Gericht stehender Angeklagter, der schon früher eine Straftat entsprechenden Gewichts im Ausland begangen hat, wegen der er – wie er weiß – auch mit seiner Verhaftung im Land des Tatorts rechnen muss, sich während des Laufs der gegen ihn gerichteten Hauptverhandlung ohne Not in jenes Land und dort in eine Situation mit hohem Verhaftungsrisiko begibt4.
Eine damit vergleichbare Situation hat der Angeklagte im vorliegenden Fall nach freibeweislicher Überprüfung5 nicht provoziert, da er nicht damit rechnen konnte, in der Türkei in Gewahrsam genommen bzw. verhaftet zu werden:
Der Angeklagte ist ausweislich seines Reisepasses seit 2011 insgesamt 48mal in die Türkei einund wieder ausgereist. Es bestand daher für ihn kein Anlass, von einem möglichen Verhaftungsrisiko in der Türkei auszugehen. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Angeklagte im Jahr 1995 in Deutschland aufgrund politischer Verfolgung Asyl erhalten hat und die politische Lage in der Türkei seit 2015 angespannt ist. Der Angeklagte war seit 2015 einige Male unbehelligt nach B. zu seiner Familie gereist und konnte daher davon ausgehen, dass sich an diesem Zustand auch 2017 nichts geändert hatte. Dafür, dass der Angeklagte sich während dieses oder eines früheren Aufenthalts in der Türkei strafbar gemacht haben könnte, fehlen jegliche Anhaltspunkte.
Der Angeklagte hatte auch einen gewichtigen Grund für die Reise. Seine Mutter war erkrankt und wurde in die Intensivstation eines Krankenhauses eingewiesen. Es mag zwar sein, dass sich herausgestellt hat, dass die Mutter tatsächlich nicht lebensbedrohlich erkrankt war. Es war dem Angeklagten jedoch nicht zuzumuten, erst zuzuwarten und dann möglicherweise nicht rechtzeitig im Krankenhaus erscheinen zu können. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Angeklagte elf Geschwister hat, die sich um die Mutter hätten kümmern können.
Der Angeklagte war nicht verpflichtet, dem Gericht seine Reisepläne mitzuteilen oder seine Personalpapiere auszuhändigen (§§ 125, 116 Abs. 1 Satz 2 StPO). Mithin durfte er sich an den verhandlungsfreien Tagen an jedem Ort aufhalten. Dabei ist es auch unerheblich, dass das Gericht darauf hingewiesen hatte, dass sich die Verteidigung auf die Schlussvorträge vorbereiten solle, zumal der Angeklagte geplant hatte, am 16.06.2017, also vier Tage vor dem nächsten Verhandlungstag, nach Deutschland zurückzukehren.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27. Juni 2018 – 1 StR 616/17
- vgl. Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 338 Rn. 36 mwN[↩]
- BGH, Beschluss vom 19.11.2009 – 4 StR 276/09, BGHR StPO § 231 Abs. 2 Abwesenheit, eigenmächtige 16 Rn. 5; Urteil vom 30.11.1990 – 2 StR 44/90, BGHSt 37, 249, 251[↩]
- BGH, Urteil vom 19.02.2002 – 1 StR 546/01, NStZ 2002, 533, 535 Rn. 14 mwN[↩]
- BGH, Beschluss vom 07.11.2007 – 1 StR 275/07 Rn. 18, NStZ-RR 2008, 285[↩]
- BGH, Beschluss vom 06.06.2001 – 2 StR 194/01, BGHR StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 24[↩]