Anfechtung einer Widerspruchsrücknahmeerklärung

Die (wirksam erfolgte) Erklärung, ein Widerspruch werde zurückgenommen, kann nicht entsprechend den Regelungen des BGB über die Anfechtung von Willenserklärungen angefochten werden. Die Möglichkeit, sich von einer solchen Rücknahmeerklärung durch deren Widerruf zu lösen, besteht nur in eng begrenzten Ausnahmefällen.

Anfechtung einer Widerspruchsrücknahmeerklärung

Zu den grundsätzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Anfechtungsklage gehört es gemäß § 68 VwGO, dass der Kläger gegen den Ausgangsbescheid ein Vorverfahren betrieben hat und der Widerspruch seinerseits zulässig war. Ein wegen Versäumung der Widerspruchsfrist unzulässiger Widerspruch bewirkt im Fall der späteren Klagerhebung auch deren Unzulässigkeit; die Wahrung der Widerspruchsfrist ist (grundsätzlich) im gerichtlichen Verfahren eine von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeitsvoraussetzung der Anfechtungsklage1. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Der zunächst fristgemäß erhobene Widerspruch hat seine Wirksamkeit durch die Rücknahmeerklärung des Klägers verloren.

Verfahrensbeendende Erklärungen wie Rücknahmen können nicht ihrerseits durch „Rücknahmeerklärungen“ aus der Welt geschaffen werden2.

Auf Klagen und Widersprüche bezogene Rücknahmeerklärungen können nicht nach den Regeln des bürgerlichen Rechts angefochten werden3.

Die Unanwendbarkeit der bürgerlich-rechtlichen Regeln über die Anfechtung von Willenserklärungen auf Prozesshandlungen hat ihren Grund darin, dass Prozesshandlungen eine prozessuale Gestaltungswirkung entfalten. Interesse der Rechtssicherheit sollen die Handlungen, die unmittelbar den Prozess betreffen (Einleitung, Führung und Beendigung), ausschließlich den strengen förmlichen Regeln des Prozessrechts unterliegen. Um jeden Zweifel hinsichtlich der Wirksamkeit von Prozesshandlungen auszuschließen, kommt es daher nur auf den in der Erklärung verkörperten Willen an. Demgegenüber würde jede vom Gesetz nicht ausdrücklich gestattete Auslegung, Bedingung oder Anfechtung einer Prozesshandlung eine eindeutige, für Gericht und Beteiligte verbindliche Beurteilung der Prozessentwicklung erschweren oder gar unmöglich machen und damit dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufen. Diese Überlegungen treffen auch auf die Einlegung und Rücknahme des Widerspruchs zu4. Der Widerspruch löst zwar keine gerichtliche Überprüfung aus, sondern eine nochmalige Prüfung durch die Verwaltung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit und der Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes. Dennoch ist er mit einer Prozesshandlung insoweit vergleichbar, als er einerseits bestimmten Förmlichkeiten (vgl. § 70 VwGO) unterliegt und andererseits von der Wirksamkeit des Widerspruchs die Bestandskraft des ihm zugrunde liegenden Bescheides berührt ist: Nur der ordnungsgemäß eingelegte Widerspruch begründet für den Betroffenen einen Anspruch auf nochmalige sachliche Überprüfung durch die Verwaltung. Außerdem eröffnet in der Regel erst die Einlegung des Widerspruchs die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung (§ 68 VwGO). Auch wenn die Einlegung und Rücknahme des Widerspruchs noch nicht Teile des durch die Klageerhebung eröffneten Verwaltungsrechtsstreits sind, so sind sie doch für die Möglichkeit, einen Prozess zu führen, von bestimmender Bedeutung. Dass aufgrund der Einlegung des Widerspruchs eine im Vergleich zum Verwaltungsprozess weitergehende Überprüfung – nämlich auch hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der behördlichen Entscheidung – durchgeführt wird, steht der entsprechenden Anwendung der für Prozesshandlungen geltenden Vorschriften und Grundsätze auf die Rücknahme des Widerspruchs nicht entgegen. Nach alledem kann die Rücknahme des Widerspruchs nicht wegen Willensmängeln angefochten werden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht allerdings in bestimmten Fällen ausnahmsweise die Möglichkeit, sich von einer Rücknahmeerklärung durch deren Widerruf zu lösen und die Rücknahme damit unwirksam zu machen. Eine solche Fallkonstellation ist hier jedoch nicht ersichtlich.

Eine Ausnahme gilt in Fällen, in denen ein Wiederaufnahmegrund (vgl. § 153 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 580 ZPO) gegeben ist; dies betrifft insbesondere den Fall, dass die Rücknahmeerklärung durch eine strafbare Handlung herbeigeführt worden ist5. Hierfür bietet der Vortrag des Klägers keinen hinreichenden Anhaltspunkt.

Eine weitere Ausnahme erkennt die Rechtsprechung bei Rücknahmeerklärungen in Gerichtsverfahren an, wenn die Rücknahmeerklärung für das Gericht und den Prozessgegner sogleich als Versehen offenbar und deshalb nach Treu und Glauben als unwirksam zu behandeln ist6. Übertragen auf den vorliegenden Fall der Rücknahme eines Widerspruchs in einem Widerspruchsverfahren ohne weitere Beteiligte (vgl. § 13 HmbVwVfG) bedeutet dies, dass der Kläger die Rücknahmeerklärung hätte widerrufen können, wenn diese zum Zeitpunkt ihres Eingangs für die Mitarbeiter des JPA „sogleich als Versehen offenbar“ gewesen wäre. Auch hierfür spricht nichts. Die Erklärung bezog sich eindeutig auf das eingeleitete Widerspruchsverfahren; eine Verfahrensverwechselung7 war ausgeschlossen. Für ein sonstiges „Versehen“ bot das Rücknahmeschreiben keinerlei Anhaltspunkte.

Die Rücknahmeerklärung ist auch nicht etwa deswegen unerheblich, weil der Kläger „zwei verschiedene“ Widersprüche gegen den Bescheid eingelegt und sich die Rücknahmeerklärung nur auf einen der beiden Widersprüche bezogen hätte. Dieses Argument ist bereits vom rechtlichen Ansatz her abwegig. Es versteht sich von selbst, dass zwei textlich identische Widerspruchsschreiben gleichen Datums, die sich gegen denselben Verwaltungsakt richten, nicht zu zwei verschiedenen Widerspruchsverfahren führen. Im Übrigen würde sich selbst dann nicht erschließen, weshalb die Rücknahmeerklärung nicht „beide Widersprüche“ erfassen sollte.

Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 7. Oktober 2014 – 3 Bf 86/12

  1. vgl. BVerwG, Urteil vom 9.12.1988, 8 C 38.86 8; Urteil vom 8.03.1983, NJW 1983, 1923; Urteil vom 14.09.1998, 8 B 154.98, NVwZ-RR 1999, 538 6[]
  2. vgl. Schmid in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl.2014, § 92 Rn. 26; Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl.2013, § 92 Rn. 2, 11[]
  3. BVerwG, Urteil vom 21.03.1979, BVerwGE 57, 342[]
  4. vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 13.04.1978 – BVerwG 2 C 5.74, Buchholz 237.2 § 79 LBG Berlin Nr. 2[]
  5. vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.01.1971, Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 3; Urteil vom 21.03.1979, a. a. O., Rn. 18; Urteil vom 6.12.1996, a. a. O., Rn. 13[]
  6. vgl. BVerwG, Urteil vom 6.12.1996, a. a. O., Rn. 14; Urteil vom 15.06.2005, NVwZ-RR 2005, 721 15 f.[]
  7. zu einem solchen Fall vgl. BVerwG, Urteil vom 15.06.2005, a. a. O.[]