Hinsichtlich der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren durch einen Eingriff in die Zusammensetzung des Parlaments ist besondere Zurückhaltung geboten. Der Umstand, dass die gegebenenfalls fehlerhaft gewählten Abgeordneten auch weiterhin an politischen Entscheidungen von herausgehobener Bedeutung teilnehmen können, vermag hieran für sich genommen nichts zu ändern.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat jedoch keinen Erfolg, wenn der Antrag in der Hauptsache unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre1. Bei offenem Ausgang hat das Bundesverfassungsgericht lediglich die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Verfahren in der Hauptsache aber Erfolg hätte, mit den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Verfahren in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre2. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen3.
Nach dieser Maßgabe ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Erfolg zu versagen. Dabei kann dahinstehen, inwieweit die Wahlprüfungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2. von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Denn jedenfalls aufgrund der Folgenabwägung scheidet der Erlass einer einstweiligen Anordnung aus.
Dem gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem der Beschwerdeführer zu 2. den (vorläufigen) Ausschluss von 65 Abgeordneten aus der parlamentarischen Willensbildung begehrt, liegt in der Hauptsache die Geltendmachung der Ungültigkeit der Bundestagswahl 2017 aufgrund von Wahlfehlern in Gestalt verfassungswidriger Normen des Bundeswahlgesetzes zugrunde. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte das Hauptsacheverfahren aber Erfolg, würden die betroffenen Abgeordneten trotz des Vorliegens von Wahlfehlern und einer daraus sich eventuell ergebenden Ungültigkeit der Bundestagswahl oder Unwirksamkeit der Erlangung der Bundestagsmandate jedenfalls bis zum Abschluss des Wahlprüfungsbeschwerdeverfahrens an der parlamentarischen Willensbildung teilnehmen. Erginge hingegen die einstweilige Anordnung, bliebe das Hauptsacheverfahren aber erfolglos, würden diese Abgeordneten in der Zwischenzeit von der parlamentarischen Willensbildung ausgeschlossen, obwohl ihre Wahl zum Deutschen Bundestag verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden wäre.
Die Folgenabwägung führt im vorliegend entschiedenen Fall dazu, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht kommt:
Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass einer einmal durch eine Wahl hervorgebrachten Volksvertretung grundsätzlich ein im Demokratiegebot wurzelnder Bestandsschutz zukommt4. Demgemäß führt sogar das rechtskräftig festgestellte Vorliegen eines Wahlfehlers im Wahlprüfungsverfahren nicht automatisch zur Ungültigerklärung der Wahl. Vielmehr setzt dies zum einen voraus, dass der Wahlfehler Mandatsrelevanz entfaltet5. Zum anderen unterliegt auch dann die Wahlprüfungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs6. Grundsätzlich ist daher das Erfordernis des Bestandsschutzes einer gewählten Volksvertretung mit den Auswirkungen des festgestellten Wahlfehlers abzuwägen7. Der Eingriff in die Zusammensetzung der gewählten Volksvertretung durch eine wahlprüfungsrechtliche Entscheidung muss trotz des Interesses an der Erhaltung der gewählten Volksvertretung gerechtfertigt sein.
Vor diesem Hintergrund ist hinsichtlich der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren durch einen Eingriff in die Zusammensetzung des Parlaments besondere Zurückhaltung geboten. Steht das Vorliegen eines Wahlfehlers noch nicht fest, kommt dem im Demokratiegebot wurzelnden Bestandsschutz der gewählten Volksvertretung besondere Bedeutung zu.
Eingedenk dessen ist für den Erlass einer einstweiligen Anordnung hier kein Raum. Nach den vorgenannten Maßstäben kommt dem Bestandsschutz des gewählten Deutschen Bundestages ein erhebliches Gewicht zu. Hingegen ist kein diesen Bestandsschutz überwiegendes Interesse erkennbar, das es rechtfertigen würde, schon vor einer Entscheidung über die Wahlprüfungsbeschwerde ausnahmsweise Abgeordnete von der Teilnahme an der parlamentarischen Willensbildung, die durch das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich garantiert ist8, auszuschließen. Der Umstand, dass die gegebenenfalls fehlerhaft gewählten Abgeordneten auch weiterhin an politischen Entscheidungen von herausgehobener Bedeutung teilnehmen können, vermag hieran für sich genommen nichts zu ändern.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. Juni 2020 – 2 BvC 37/19
- vgl. BVerfGE 71, 158, 161; 111, 147, 152 f.; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 122, 342, 361; 131, 47, 55; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 55, 1, 3; 104, 23, 27; 132, 195, 232 Rn. 86; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 89, 243, 253; 103, 111, 134; 121, 266, 311 f.; 129, 300, 344; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 1, 430, 433; 21, 196, 199; 48, 271, 280; 89, 243, 254; 89, 266, 273; 121, 266, 310 f.; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 121, 266, 311; 123, 39, 87 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 89, 243, 253; 103, 111, 135; 121, 266, 311; 129, 300, 345; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 80, 188, 217 f.; 130, 318, 342; 140, 115, 149 ff. Rn. 91 ff.[↩]
Bildnachweis:
- Deutscher Bundestag: clareich | CC0 1.0 Universal