Nimmt ein Bezieher von Kindergeld eine Erwerbstätigkeit im EU-Ausland auf, ohne die Familienkasse darüber zu informieren, so ist der Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht des ausländischen EU-Mitgliedstaats, der aufgrund der Erwerbstätigkeit vorrangig zuständig zur Gewährung von Familienleistungen geworden ist, auch dann nachträglich auf das nach deutschem Recht gewährte Kindergeld anzurechnen, wenn der Kindergeldberechtigte die ihm im Auslandsstaat zustehenden Familienleistungen dort nicht beantragt und bezogen hat.

Die Fiktion des Art. 68 Abs. 3 Buchst. b der VO Nr. 883/2004, wonach der im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat gestellte Antrag auf Familienleistungen zugleich als Antrag gilt, der im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat gestellt worden ist, wirkt auch dann, wenn die Familienkasse den im Inland gestellten Kindergeldantrag nicht an den ausländischen Träger weiterleitet, weil ihr ein Auslandsbezug nicht bekannt ist.
Eine im Inland wohnende Mutter mit niederländischer Staatsangehörigkeit erfüllt daher für ihre ebenfalls im Inland lebenden Kinder die Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld (§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG). Dieser Anspruch wird allerdings wegen des Anspruchs der Klägerin auf Familienleistungen nach niederländischem Recht unionsrechtlich auf den Betrag begrenzt, der sich bei Anrechnung des Anspruchs auf Familienleistungen in den Niederlanden ergibt.
Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so stehen nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 Ansprüche auf Familienleistungen, die durch eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden, an erster Stelle. Der entsprechende Mitgliedstaat ist somit vorrangig zur Gewährung von Familienleistungen zuständig. Der nachrangig verpflichtete Staat, in dem der Kindergeldberechtigte wohnt, aber nicht beschäftigt oder selbständig erwerbstätig ist, ist nur dann zur Gewährung von Familienleistungen verpflichtet, wenn seine Familienleistungen höher sind als die im Beschäftigungsstaat bzw. im Staat der selbständigen Erwerbstätigkeit vorgesehenen Leistungen, und zwar in Höhe des Unterschiedsbetrags (Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der VO Nr. 883/2004).
In verfahrensrechtlicher Hinsicht sieht Art. 68 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 vor, dass der bei einem nachrangigen Träger gestellte Kindergeldantrag von diesem an den vorrangig zuständigen weiterzuleiten ist (s.a. Art. 81 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit1). Der Normgeber geht bei diesen Vorschriften offensichtlich davon aus, dass die nachrangig verpflichteten Träger umfassende Kenntnisse über mögliche Leistungsansprüche nach den Rechtsvorschriften des vorrangig verpflichteten Mitgliedstaats haben. Der Träger des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats bearbeitet den Antrag so, als ob er direkt bei ihm gestellt worden wäre; der Tag der Einreichung beim ersten Träger gilt aber als der Tag der Einreichung beim vorrangig zuständigen Träger (Art. 68 Abs. 3 Buchst. b, Art. 81 Satz 3 der VO Nr. 883/2004). Dies bedeutet, dass der im nachrangig verpflichteten Staat gestellte Antrag auf Familienleistungen als Antrag auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des vorrangig verpflichteten Mitgliedstaats gilt. Art. 68 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 regelt damit das „Prinzip der europaweiten Antragstellung“2.
Entgegen der Ansicht des Finanzgerichts Düsseldorf3 ist die Koordinierungsregelung des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 im Streitfall anwendbar, obwohl das Verfahren zur Weiterleitung des im nachrangig zuständigen Staat gestellten Kindergeldantrags an den vorrangig zuständigen, wie es in Art. 68 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004, Art. 81 der VO Nr. 987/2009 vorgesehen ist, nicht eingehalten wurde4. Eine unterbliebene Weiterleitung hindert nicht die Fiktionswirkung des Art. 68 Abs. 3 Buchst. b Halbsatz 2, Art. 81 der VO Nr. 883/2004. Eine entsprechende Einschränkung sehen die genannten Verordnungen nicht vor. Ein in einem nachrangig zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Union gestellter Antrag auf Familienleistungen löst die Fiktionswirkung, wonach er zugleich als im vorrangig zuständigen Staat gestellt gilt, auch dann aus, wenn der Träger, bei dem der Antrag gestellt wird, keine Kenntnis davon hat, dass ein Sachverhalt mit Auslandsbezug vorliegt, z.B. weil der Kindergeldberechtigte -wie im Streitfall- eine Auslandstätigkeit aufgenommen hat, ohne die Familienkasse hiervon zu informieren. Die Wirkung tritt somit auch dann ein, wenn zu dem Zeitpunkt, als der Kindergeldantrag gestellt wurde, noch gar kein Anlass bestand, ihn an einen ausländischen Träger von Familienleistungen weiterzuleiten.
Nichts anderes ergibt sich in diesem Zusammenhang aus dem „Schwemmer“, Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union5. Die Entscheidung erging noch zur Regelung des Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.03.1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Im zeitlichen Anwendungsbereich dieser Regelung galt aber noch nicht eine Regelung wie die des Art. 68 Abs. 3 Buchst. b der VO Nr. 883/2004, die dazu führt, dass ohnehin bereits die Antragstellung in einem Mitgliedstaat die entsprechende formelle Anspruchsvoraussetzung im anderen Mitgliedstaat wahrt. Soweit der EuGH im Urteil Trapkowski6 auf sein Urteil in der Rechtssache Schwemmer Bezug nahm, betraf dies -wie sich aus dem Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs7 ergibt- nicht den Fall einer fehlenden formellen, sondern den Fall einer -in Form des Überschreitens der Einkommensgrenze- fehlenden materiellen Voraussetzung des Anspruchs auf Familienleistungen8. Die Familienkasse ist somit nicht zu einer Antragsweiterleitung an die im ausländischen Mitgliedstaat zuständige Behörde verpflichtet, wenn sie keine Kenntnis von einem vorrangigen Anspruch in diesem Staat hat.
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall der niederländischen Mutter scheidet die Gewährung von Kindergeld in Höhe der Beträge, die nach § 66 Abs. 1 EStG für die einzelnen Jahre des Streitzeitraums vorgesehen sind, aus. Die Familienkasse hat den Anspruch auf Familienleistungen nach niederländischem Recht zu Recht angerechnet. Der Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht und der Anspruch auf Familienleistungen nach niederländischem Recht sind nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Die Niederlande waren wegen der Erwerbstätigkeit der Klägerin gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 9. Dezember 2020 – III R 31/18
- ABl.EU 2009 Nr. L 284, S. 1[↩]
- Osterholz in: juris PraxisKommentar SGB I, 3. Aufl.2018, Art. 69 der VO Nr. 883/2004, Rz 60, m.w.N.[↩]
- FG Düsseldorf, Urteil vom 28.05.2018 – 7 K 1723/17 Kg[↩]
- anderer Ansicht Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Art. 68 VO Nr. 883/2004 Rz 4[↩]
- EuGH, Urteil Schwemmer vom 14.10.2010 – C-16/09, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht 2011, 86[↩]
- EuGH, Urteil vom 22.10.2015 – C-378/14, EU:C:2015:720, DStR/E 2015, 1501[↩]
- BFH, Beschluss vom 08.05.2014 – III R 17/13, BFHE 245, 522, BStBl II 2015, 329[↩]
- BFH, Urteil vom 22.02.2018 – III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 36[↩]
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