Die Rechtsfrage, ob die Vereinbarung einer sog. Wertpapierleihe über den Wertpapierbesitz die sog. Wegzugsbesteuerung im Augenblick der Aufgabe der unbeschränkten Steuerpflicht des Verleihers hindert, bleibt unbeantwortet, wenn sich aus den vertraglichen Regelungen ergibt, dass der Übertragungszeitpunkt dem Umzugszeitpunkt nachfolgt.

Zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehört gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG auch der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu mindestens einem Prozent beteiligt war. Dabei sind „Anteile an einer Kapitalgesellschaft“ Aktien, Anteile an einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Genussscheine oder ähnliche Beteiligungen und Anwartschaften auf solche Beteiligungen (§ 17 Abs. 1 Satz 3 EStG). Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG ist bei einer natürlichen Person, die insgesamt mindestens zehn Jahre nach § 1 Abs. 1 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war und deren unbeschränkte Steuerpflicht durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes endet, auf Anteile an einer inländischen Kapitalgesellschaft § 17 EStG im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht auch ohne Veräußerung anzuwenden, wenn im Übrigen für die Anteile zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind.
Der hier vom Bundesfinanzhof entschiedene Rechtsstreit betrifft ausschließlich die Frage, ob im Zusammenhang mit dem Ende der unbeschränkten Steuerpflicht des Ehemannes unter Berücksichtigung des Wertpapierdarlehensvertrages „dem Grunde nach“ die Voraussetzungen des § 6 AStG erfüllt sind; Ausführungen des Bundesfinanzhofs zu anderen Tatbestandsmerkmalen der Norm sind entbehrlich.
Das erstinstanzlich hiermit befasste Schleswig-Holsteinische Finanzgericht1 hat im angefochtenen Urteil dahin erkannt, dass durch die sog. Wertpapierleihe („Wertpapierdarlehen“ als Sachdarlehen i.S. der §§ 607 ff. BGB)) der Tatbestand des § 17 EStG nicht erfüllt worden sei. Durch den Vertrag verpflichte sich der Darlehensgeber, dem Darlehensnehmer die Wertpapiere grundsätzlich auf eine begrenzte Zeit mit der Maßgabe zu „verleihen“, dass Wertpapiere gleicher Art und Güte (nicht notwendig dieselben Wertpapiere) zurückzugeben sind. Damit sei der Verleiher verpflichtet, dem Entleiher das Eigentum an den Wertpapieren zu übertragen; der Entleiher trete als zivilrechtlicher Eigentümer in alle Rechte und Pflichten aus den Aktien ein. Neben dem Stimmrecht stünden ihm dabei grundsätzlich auch sämtliche Erträge aus den darlehensweise übertragenen Wertpapieren zu. Der Darlehensnehmer wiederum verpflichte sich zur Zahlung eines Darlehensentgelts und bei Fälligkeit zur Rückerstattung von Wertpapieren gleicher Art und Güte; durch das Darlehensentgelt erhalte der Verleiher aufgrund schuldrechtlicher Abrede einen Ersatz für entgangene Dividendenerträge. In einem solchen Fall gehe damit zwar grundsätzlich sowohl das zivilrechtliche als auch das sog. wirtschaftliche Eigentum (§ 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO) an den Wertpapieren auf den Entleiher über; dennoch werde ein Realisationstatbestand (§ 17 Abs. 1 Satz 1 EStG) nicht erfüllt, da der Anspruch auf Rückerstattung von Wertpapieren gleicher Art, Menge und Güte (§ 607 Abs. 1 Satz 2 BGB) regelmäßig als wirtschaftlich gleichwertiges Surrogat für die darlehensweise übertragenen Wertpapiere anzusehen sei. Dieser Anspruch entstehe bereits durch die Übertragung auf den Entleiher, während die Fälligkeit auf den Zeitablauf bzw. die Kündigung des Darlehens hinausgeschoben werde (§§ 607 Abs. 1 Satz 2, 608 Abs. 1 BGB).
Diese Annahme habe zur Folge, dass neben der Ablehnung eines Veräußerungstatbestands auf Seiten des Verleihers beim Entleiher nicht von einem unentgeltlichen Erwerb (§ 17 Abs. 2 Satz 5 EStG) gesprochen werden könne. Zwar würden die Zahlungen des Entleihers maßgeblich der Gebrauchsüberlassung und nicht der Verschaffung seiner Eigentümerstellung dienen; gleichwohl erlange er das Eigentum an den Wertpapieren nicht im Wege eines unentgeltlichen Geschäfts im steuerrechtlichen Sinne, weil er zugleich mit dem Erwerb der Papiere eine Rückgabeverbindlichkeit (als Gegenleistung) eingehe und es damit an der für die Unentgeltlichkeit erforderlichen Bereicherung auf Seiten des Empfängers (Entleihers) fehle. Im Streitfall bestünden zwar Zweifel, ob eine zivilrechtlich wirksame Übertragung der Wertpapiere am Wegzugstag schon vollzogen war, weil der Zeitpunkt der Umschaltung des Besitzmittlungsverhältnisses unklar sei und die Aktien vinkuliert waren (§ 3 der Satzung; § 68 Abs. 2 AktG), wobei die Genehmigung in der Hauptversammlung der AG ohne Angabe von Gründen hätte versagt werden können und die Genehmigung der Verfügung erst im Folgejahr des Wohnsitzwechsels erfolgte (Zweifel an der steuerrechtlichen Wirksamkeit der zivilrechtlichen Rückwirkung des § 184 BGB). Allerdings sei der Tatbestand des § 17 EStG auch bei einer rechtswirksamen Übertragung vor dem Wohnsitzwechsel erfüllt, da der Ehemann zu diesem Zeitpunkt jedenfalls auf der Grundlage der Darlehensvereinbarung eine „Anwartschaft auf eine Beteiligung“ i.S. des § 17 Abs. 1 Satz 3 EStG innegehabt hätte.
In dem angefochtenen finanzgerichtlichen Urteil wurde ohne Rechtsfehler dahin erkannt, dass durch den Abschluss und den (vom Finanzgericht zugunsten des Ehemannes unterstellt) rechtswirksamen Vollzug eines Wertpapierdarlehens (auch als „Wertpapierleihe“ bezeichnet), das das Finanzgericht (offensichtlich unter Korrektur der offenkundigen begrifflichen Verwechselungen in einzelnen Regelungsbereichen) in den grundsätzlichen Rechtsfolgen zutreffend gewürdigt hat2, die Tatbestandsvoraussetzung „Veräußerung“ (des § 17 Abs. 1 EStG) nicht erfüllt wird3. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass der gesetzliche Begriff der „Veräußerung“ in § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG eine enge Anknüpfung zum Umstand der Gewinnrealisierung aufweist4. In diesem Zusammenhang hat der Bundesfinanzhof in seinem Urteil in BFHE 274, 4635 begründet, dass der Vollzug einer solchen Vereinbarung -auch wenn es (wie im Streitfall) zur Übertragung des zivilrechtlichen Eigentums gekommen und auf der Grundlage einer Bewertung der Rechte und Pflichten der beiden Vertragspartner (Verteilung des Wertrisikos, Verteilung der Früchte, Verteilung der Stimmrechte und der Verfügungsbefugnis)6 der Ehemann als Darlehensgeber nicht als wirtschaftlicher Eigentümer anzusehen sein sollte- steuerrechtlich nicht als Realisationsakt zu werten ist und eine Parallele zum Tauschgeschäft, d.h. einem gewinnrealisierenden Vorgang, nicht angebracht ist. Zwar schuldet der Darlehensnehmer nicht die Rückgabe desselben Wertpapiers, sondern ist -in Form einer Gattungsschuld i.S. von § 243 BGB- nur zur Rückgabe (irgend-)eines Wertpapiers der gleichen Art und Güte verpflichtet. Gleichwohl fehlt es bei der Hingabe einer vertretbaren Sache gegen die Verpflichtung zur Rückgabe einer Sache der gleichen Art und Güte an einem zur Realisierung führenden Umsatzakt; dass sich der Marktwert der als Darlehensvaluta hingegebenen Wertpapiere im Zeitraum zwischen Hingabe und Rückgabe (während der Vertragslaufzeit) verändern kann, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung.
Daran ist festzuhalten. Die Vereinbarung im Streitfall beendet die auf den Ehemann als Darlehensgeber bezogene steuerrechtliche Verstrickung der in den Anteilen gespeicherten stillen Reserven nicht, da sie eine (nach der „Rückgabe“) zukünftige Realisierung nach den dann maßgebenden Wertverhältnissen gewährleistet7; Binnewies/Mückl/Olbing, GmbH-Rundschau 2020, 1309, 1323 f.; Brinkmeier, GmbH-Steuerberater 2020, 153, 158 f.; Weiss, Internationale Steuer-Rundschau 2020, 122, 124)). Insoweit ist das Wertpapierleih- oder Wertpapierdarlehensgeschäft dadurch gekennzeichnet, dass die Chancen und Risiken von Wertänderungen stets beim Verleiher (Darlehensgeber) bleiben, da er Wertpapiere gleicher Ausstattung und Menge („gleicher Gattung“) zurückerhält8.
Das Finanzgericht hat im angefochtenen Urteil allerdings zunächst nicht beachtet, dass nach dem von ihm festgestellten Inhalt der Darlehensvereinbarung Vertragsgegenstand im Zeitpunkt des Wohnsitzwechsels ausschließlich der ursprünglich dem Ehemann zuzurechnende Wertpapierbestand war, nicht aber der kurz zuvor im Wege der Gesamtrechtsnachfolge erworbene Bestand; jener ging nach § 1 Ziff. 1.2 Satz 2 des Vertrages erst zum 31.12.2006 in die Leihvereinbarung ein (siehe im vorliegenden Fall auch den „Nachtrag zum Vertrag über ein Wertpapierdarlehen“ vom 05.07.2007, in dem ausgeführt ist, dass die auf den Darlehensgeber vom Erblasser G übergegangenen Aktien vertragsgemäß zum 31.12.2006 auf den Darlehensnehmer übergegangen seien). Insoweit könnte sich die im Revisionsverfahren streitige Rechtsfrage sachlich nur für einen Teil des Wertpapierbestands stellen, während für den anderen Teil die zeitlich punktuell auf den Wohnsitzwechsel bezogene Rechtsfolge des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG („Veräußerungsfiktion“) unabhängig von der kurze Zeit später wirksam werdenden Einbeziehung der (geerbten) Wertpapiere in die Wertpapierleihe eingetreten ist.
Ob für den vor dem Erbanfall im Eigentum des Ehemannes befindlichen Wertpapierbestand der vertragliche Anspruch auf „Rückgewähr“ („Rückgabeverpflichtung“ des § 1 Ziff. 1.4 des Vertrages)) die Voraussetzungen einer i.S. von § 17 Abs. 1 Satz 3 EStG tatbestandlichen „Anwartschaft auf eine Beteiligung“ erfüllt9, ob -da die Wertpapierleihevereinbarung das Potential der Realisierung eines Vermögenszuwachses (als Gegenstand des Belastungsgrundes des § 17 EStG) für den Verleiher nur in zeitlicher Hinsicht beschränkt (während der Laufzeit der Leihvereinbarung ausschließt, aber nach einer „Aktienrückgabe“ für die Zukunft wieder eröffnet bzw. bei einer Ersatzleistung in Geld in diesem Moment umsetzt)- der normzweckbezogene Raum besteht, von einer „Veräußerungsfiktion“ auszugehen, um die nationale Besteuerung zu gewährleisten („Entstrickungstatbestand“)10, oder ob ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts vorliegt (§ 42 AO)11, und auf dieser jeweiligen Grundlage der Besteuerungstatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG verwirklicht wurde, ist im Streitfall aus tatsächlichen Gründen nicht zu entscheiden.
Das Finanzgericht hat in seinem Urteil Fragen im Zusammenhang mit der Übertragung der Anteile an den Darlehensnehmer „letztlich … dahinstehen“ lassen. Nach dem von ihm festgestellten Inhalt des Darlehensvertrages ergibt sich mit der gebotenen Eindeutigkeit, dass der Stichtag für die darlehensweise Übertragung der Aktien der 31.12.2006 sein sollte. Insbesondere wird in § 1 des Vertrages der 31.12.2006 ausdrücklich als „Valutierungstermin“ bezeichnet, bis zu dem der Darlehensgeber anstelle einer Übergabe der Wertpapiere die Umbuchungsmitteilung für das Depot erteilen sollte. Auf dieser Grundlage ist der Beleg „Nummer 24“ für das Aktienregister auch auf dieses Datum ausgestellt worden. Ist damit das Eigentum an den Aktien („erst“) zu diesem Termin („Valutierungstermin“ – unter der aufschiebenden Bedingung der Zustimmung der Gesellschafterversammlung) zivilrechtlich übergegangen und für einen früheren Übergang des sog. wirtschaftlichen Eigentums (§ 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO) nichts ersichtlich, sind im Zeitpunkt des durch den Wohnsitzwechsel ausgelösten Endes der unbeschränkten Steuerpflicht des Ehemannes12 die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG erfüllt.
Eine Auswirkung auf die Höhe der festzusetzenden Einkommensteuer auf der Grundlage der antragsbezogenen Stundungsregelung des § 6 Abs. 4 AStG13 besteht für den Ehemann, der als nichtselbständig Tätiger mit arbeitgeberfremdem Beteiligungsbesitz die persönlichen „Selbständigkeitsvoraussetzungen“ im Sinne des Urteils „Wächtler “ des Gerichtshofs der Europäischen Union14 nicht erfüllt, nicht. Die Rechtsfolgen eines solchen Antrags, den das Finanzgericht auch nicht festgestellt hat, sind damit nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 23. November 2022 – I R 52/19
- FG Schleswig-Holstein, Urteil vom 12.09.2019 – 4 K 113/17[↩]
- s.a. z.B. BFH, Urteile vom 16.04.2014 – I R 2/12, BFHE 246, 15; vom 18.08.2015 – I R 88/13, BFHE 251, 190, BStBl II 2016, 961; vom 29.09.2021 – I R 40/17, BFHE 274, 463; Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen -BMF- vom 11.11.2016, BStBl I 2016, 1324, zu I.[↩]
- dem FG-Urteil ausdrücklich zustimmend z.B. Schmidt/Levedag, EStG, 41. Aufl., § 17 Rz 21; Strahl/Winkler in Korn, § 17 EStG Rz 55; Trossen in BeckOK EStG, § 17 Rz 137; TK, Deutsche Steuer-Zeitung 2020, 147; s.a. Schmidt in Herrmann/Heuer/Raupach, § 17 EStG Anm. 70 [„Keine Veräußerungsgeschäfte … Wertpapierleihe“][↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 21.10.1999 – I R 43, 44/98, BFHE 190, 377, BStBl II 2000, 424; s.a. BFH, Urteil vom 17.07.1980 – IV R 15/76, BFHE 131, 329, BStBl II 1981, 11; Brandis/Heuermann/Vogt, § 17 EStG Rz 340a[↩]
- s.a. BFH, Urteile in BFHE 246, 15, und in BFHE 251, 190, BStBl II 2016, 961[↩]
- s. etwa Anzinger, Steuer und Wirtschaft -StuW- 2022, 194, 196 f.[↩]
- so in der Sache auch Strahl/Winkler, a.a.O.; Brender, juris PraxisReport Bank- und Kapitalmarktrecht 5/2020 Anm. 5; s.a. BMF, Schreiben in BStBl I 2016, 1324, zu III. 1.a[↩]
- Anzinger, StuW 2022, 194, 196[↩]
- s. zu den maßgebenden Kriterien allgemein BFH, Urteil vom 19.12.2007 – VIII R 14/06, BFHE 220, 249, BStBl II 2008, 475; für die Situation der Wertpapierleihe einer „Anwartschaft“ zustimmend Hütte, EFG 2020, 42; Strahl/Winkler, a.a.O.; ablehnend Gosch in Kirchhof/Seer, EStG, 21. Aufl., § 17 Rz 17[↩]
- s. zum Zweck des § 6 AStG, eine abschließende Besteuerung der stillen Reserven im Rahmen der unbeschränkten Steuerpflicht sicherzustellen, z.B. BFH, Urteil vom 08.12.2021 – I R 30/19, BFHE 275, 331, BStBl II 2022, 763[↩]
- so wohl Beinert/Oertel, Steuerberater-Jahrbuch 2020/2021, 2021, 139, 167; s.a. Hütte, EFG 2020, 42[↩]
- zu diesem konkreten Zeitpunktbezug Häck in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, § 6 AStG Rz 249[↩]
- zur Anwendung im Streitjahr s. § 21 Abs. 13 Satz 2 AStG i.d.F. des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften vom 07.12.2006, BGBl I 2006, 2782, BStBl I 2007, 4[↩]
- EuGH, Urteil Wächtler vom 26.02.2019 – C-581/17, EU:C:2019:138[↩]
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