Für den Bundesfinanzhof ist es ernstlich zweifelhaft, ob sich die Beteiligungsgrenze nach der im Jahr der Veräußerung geltenden Wesentlichkeitsgrenze gemäß § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 richtet –und damit zurückwirkt– oder ob der Beteiligungsbegriff veranlagungszeitraumbezogen auszulegen ist, indem das Tatbestandsmerkmal „innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt“ in § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG für jeden abgeschlossenen Veranlagungszeitraum nach der in diesem Veranlagungszeitraum jeweils geltenden Beteiligungsgrenze zu bestimmen ist.

Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch die Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. Eine wesentliche Beteiligung ist gegeben, wenn der Veräußerer an der Gesellschaft zu mindestens 10 % unmittelbar oder mittelbar beteiligt war (§ 17 Abs. 1 Satz 4 EStG).
Diese Fassung des Gesetzes ist gemäß § 52 Abs. 1 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999 anzuwenden. Veräußert also jemand im Jahr 1999 eine Beteiligung von 10 %, ist dieser Vorgang steuerbar. Veräußert er allerdings eine Beteiligung von wie im Streitfall- lediglich 9,22 %, liegt ein steuerbares Veräußerungsgeschäft nur vor, wenn er innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. Da die Wesentlichkeitsgrenze von 10 % nach § 52 Abs. 1 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999 gilt, folgt daraus umgekehrt zugleich, dass sie für frühere Veranlagungszeiträume nicht anwenDBA‑r ist. Deshalb ist es unerheblich, ob der Steuerpflichtige, der im Jahr 1999 eine Beteiligung unter 10 % veräußert, innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft über 10 %, aber bis einschließlich 25 % beteiligt war. Denn in den Veranlagungszeiträumen vor 1999 war eine wesentliche Beteiligung nur dann gegeben, wenn der Veräußerer an der Gesellschaft zu mehr als einem Viertel unmittelbar oder mittelbar beteiligt war (so § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG in früheren Fassungen).
Dieser sog. veranlagungszeitraumbezogene Beteiligungsbegriff [1], der sich – wie gezeigt – aus dem Wortlaut der einschlägigen Normen zwanglos ergibt, entsprach der überwiegenden Auffassung im Schrifttum, indes nicht der damaligen Rechtsprechung des BFH [2]. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Urteil aber aufgehoben [3] aufgehoben. Damit ist dieses Urteil nicht mehr existent und die dort entschiedene Rechtsfrage wieder offen. Es ist mithin zweifelhaft, ob sich die Beteiligungsgrenze nach der im Jahr der Veräußerung geltenden Wesentlichkeitsgrenze richtet und damit zurückwirkt- oder ob der Beteiligungsbegriff veranlagungszeitraumbezogen auszulegen ist, indem das Tatbestandsmerkmal „innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt“ in § 17 Abs. 1 EStG für jeden abgeschlossenen Veranlagungszeitraum nach der in diesem Veranlagungszeitraum jeweils geltenden Beteiligungsgrenze zu bestimmen ist [4].
Diese Zweifel an der vom Bundesfinanzhof [5] vertretenen Auffassung gewinnen eine zusätzliche Dimension durch den vom Bundesverfassungsgericht [6] hervorgehobenen Zweck der Veräußerungsgewinnbesteuerung: Die Besteuerung ist danach nicht deshalb auf die Realisation bezogen, weil erst zu diesem Zeitpunkt der Wertzuwachs entsteht, sondern obwohl er bereits vorher beim Steuerpflichtigen entstanden ist. Es wird also im Zeitpunkt der Realisation ein über den vorangegangenen Zeitraum akkumulierter Zuwachs an Leistungsfähigkeit nachholend der Besteuerung unterworfen. Auf die bloß formale Zuordnung des Veräußerungsgewinns zu einem bestimmten Veranlagungszeitraum kommt es daher nicht an, sondern maßgeblich ist, dass sich die höhere Leistungsfähigkeit, auf die mit der steuerlichen Erfassung des Veräußerungsgewinns zugegriffen wird, materiell auf den gesamten Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung bezieht [7]. Unter dieser Prämisse kann es nur um einen steuerbaren Zuwachs an Leistungsfähigkeit gehen. Der Wertzuwachs in den Zeiträumen vor dem Realisationszeitraum muss steuerbar, also der Einkommensteuer unterlegen haben. Dies ist aber nur der Fall, wenn der Steuerpflichtige in qualifizierter Weise an der Kapitalgesellschaft beteiligt war. Die sog. latente Verstrickung muss irgendwann einmal aktuell geworden sein. Wenn es nämlich auf die „formale Zuordnung des Veräußerungsgewinns zu einem bestimmten Veranlagungszeitraum“ nicht ankommt, so kann auch nicht entscheidend sein, ob der Steuerpflichtige allein aus der Retrospektive dieses Zeitraums früher einmal wesentlich und damit steuerbar beteiligt war, ohne es aber während des Zuwachses an Leistungsfähigkeit je gewesen zu sein.
Diesen Zusammenhang verstärkt folgender Aspekt: Wenn das Bundesverfassungsgericht im o.g. Beschluss mit Gesetzeskraft [8] entschieden hat, dass § 17 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 nichtig ist, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 am 31.03.1999 entstanden sind und die so wie auch im Streitfall- bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können, so kann es nicht rückwirkend auf eine Beteiligungsgrenze ankommen, die der Steuerpflichtige allein in dem Zeitraum verwirklicht hat, in dem ein Wertzuwachs nicht steuerbar war.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss [6] keine Stellung zu dem Tatbestandsmerkmal des § 17 Abs. 1 EStG bezogen, um das es hier geht. Es hat vielmehr allgemeine Maßstäbe zu den Grundsätzen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes entwickelt, und hat das einfache Recht nicht ausgelegt. Es hat seine Maßstäbe auf das geltende Recht angewandt, es mit Gesetzeskraft teilweise als nichtig verworfen und die Norm des § 17 Abs. 1 EStG damit modifiziert. Es hat das BFH-Urtel [5] als diesen Maßstäben widersprechend aufgehoben und die Sache an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen. Dieser muss deshalb nicht nur den damals streitigen Fall nach den neuen Maßstäben entscheiden, sondern sich darüber hinaus auch mit der Rechtsfrage aufgrund einer gewandelten normativen Ausgangslage – auch mit Blick auf die folgende Absenkung der Beteiligungsgrenze durch das Steuersenkungsgesetz vom 23.10.2000 [9] [10] – erneut beschäftigen.
Ernstliche Zweifel bestehen für dem Bundesfinanzhof im konkreten Fall darüber hinaus an der Art und Weise, wie das Finanzamt den Gewinn ermittelt hat. Es hat sich dabei offenbar an dem BMF, Schreiben in BStBl I 2011, 16 orientiert. Zutreffend wendet die Beschwerdebegründung ein, dass dieses Schreiben was die dort gebildeten Beispielsfälle betrifft- auf den vorliegenden Fall zunächst nicht anwendbar sein mag. Darüber hinaus wird die Rechtsgrundlage zu klären sein, aufgrund dessen das BMF eine lineare Wertentwicklung der Beteiligung unterstellt, als Norminterpretation [11] oder aber als Schätzung von Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 der Abgabenordnung [12].
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 24. Februar 2012 – IX B 146/11
- so für Verlustfälle bereits BFH, Urteil vom 29.05.2008 – IX R 62/05, BFHE 221, 227, BStBl II 2008, 856[↩]
- vgl. zu den unterschiedlichen Auffassungen eingehend: BFH, Urteil in BFHE 209, 275, BStBl II 2005, 436[↩]
- BVerfG, Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86[↩]
- vgl. aus dem neueren Schrifttum Schmidt/WeberGrellet, EStG, 30. Aufl., § 17 Rz 35; Gosch in Kirchhof, EStG, 10. Aufl., § 17 Rz 34, m.w.N.; Rapp in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 17 Rz 94; Eilers/R. Schmidt in Herrmann/Heuer/Raupach, § 17 EStG Rz 131; Strahl in Korn, § 17 EStG Rz 40; differenzierend Schneider, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 17 Rz A 256 und B 157[↩]
- in BFHE 209, 275, BStBl II 2005, 436[↩][↩]
- in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86[↩][↩]
- so BVerfG, Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86, unter B.I.02.b, bb[↩]
- BGBl I 2010, 1296[↩]
- BGBl I 2000, 1433[↩]
- s. dazu Birk, FR 2011, S. 1 ff.[↩]
- zur Regelungsdelegation auf die Verwaltung im Fall einer Typisierung vgl. BFH, Urteil vom 19.08.2008 – IX R 3/08 ((BFHE 223, 563, BStBl II 2009, 447[↩]
- zur Feststellungslast vgl. BFH, Urteil vom 25.11.2010 – IX R 47/10, BFHE 232, 235, BStBl II 2011, 744[↩]
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