Europäischer Haftbefehl – und die Schlüssigkeitsprüfung

Es ist grundsätzlich Aufgabe des ersuchenden Staates, das Auslieferungsersuchen in Gestalt des Europäischen Haftbefehls so zu fassen, dass der ersuchte Staat entsprechend § 83a Nr. 5 IRG in die Lage versetzt wird, eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen und sich die Gewissheit zu verschaffen, dass der Einhaltung der Spezialitätsbindung Rechnung getragen werden kann.

Europäischer Haftbefehl – und die Schlüssigkeitsprüfung

Die Justizbehörden des ersuchten Staates sind aus Gründen der Achtung der Souveränitätsrechte des ersuchenden Staates nicht befugt, in tatsächliche und rechtliche Bewertungen anderer Staaten einzugreifen und ihre Tatbewertung an die Stelle des ersuchenden Staates zu setzen. Sie dürfen die Tatumschreibung deshalb nicht aus der Bewertung übersandter Beweismittel, wie vorliegend der Verschriftung von Telekommunikationsprotokollen, selbst entnehmen.

Eine Auslieferung des Verfolgten zur Verfolgung der in dem Europäischen Haftbefehl erscheint daher von vornherein unzulässig (§ 15 Abs. 2 IRG), wenn die Tat angesichts der von dem ersuchenden Staat übersandten Auskünfte nicht in einem Maße konkretisiert werden kann, dass Umfang und Reichweite einer Spezialitätsbindung festgestellt werden können. Dies steht der Zulässigkeit der Auslieferung nach §§ 10, 83a Abs. 1 Nr. 5 IRG entgegen.

Nach § 83a Abs. 1 Nr. 5 IRG ist die Beschreibung der Umstände erforderlich, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatorts und der Tatbeteiligung der gesuchten Person (vgl. auch Art. 8 Abs.1 Nr. 1 RbEuHb). Hierzu gehört vor allem eine ausreichende Konkretisierung des Tatvorwurfs, welche eine Überprüfung ermöglicht, ob die Tat zu den Deliktsgruppen des Art. 2 Abs. 2 des RbEuHb gehört oder – wenn nicht – ob das dem Verfolgten vorgeworfene Verhalten nach deutschem Recht strafbar ist1.

Darüber hinaus ist eine hinreichende Konkretisierung der Taten auch geboten, um den Gegenstand des Auslieferungsersuchens so zu bestimmen, dass die Reichweite des Spezialitätsgrundsatzes gewahrt werden kann. Der Spezialitätsgrundsatz besagt, dass der Verfolgte in dem Staat, in den er ausgeliefert wird, nur wegen der Tat oder der Taten verfolgt werden darf, derentwegen die Auslieferung bewilligt worden ist; nur wenn dies gewährleistet ist, darf die Auslieferung für zulässig erklärt werden (vgl. § 11 IRG, Art. 14 EuAlÜbk). Die Folge hiervon ist, dass eine Auslieferung im Grundsatz nur „tatscharf“ für zulässig erklärt werden kann2. Grundsätzlich muss die konkrete Tatbeteiligung der betroffenen Person zu erkennen sein3. Bei der Beurteilung kann dahinstehen, ob – was die Angabe in dem Europäischen Haftbefehl, dass das Ersuchen eine Tat zum Gegenstand hat, im weiteren aber eine Vielzahl von möglichen Tathandlungen angedeutet wird – das italienische Recht einen Fortsetzungszusammenhang kennt. Denn die für das innerdeutsche Strafverfahren geltenden Maßstäbe sind um des Spezialitätsgrundsatzes willen auch auf das Auslieferungsverfahren zu übertragen4. Ansonsten besteht die Gefahr der Aushöhlung dieses Grundsatzes, und die Antwort auf die Frage, ob sich die Strafverfolgung im ersuchenden Staat im Rahmen der Auslieferungsbewilligung des ersuchten Staates hält, wird unklar.

Im Hinblick auf Serientaten, insbesondere auch Bandenhandel mit Rauschgift, gilt, dass dann, wenn sich Tathandlungen nicht auf eine so genannte Bewertungseinheit, also einen Gesamtvorrat an Rauschgift, mit dem sukzessive Handel getrieben wird, beziehen, konkrete Einzeltaten individualisierbar umschrieben werden müssen, damit sich hieraus die Verwirklichung des objektiven und subjektiven Deliktstatbestandes jeweils nachprüfbar ergibt5. Nur wenn eine Individualisierung der Einzeltaten nach Tatzeit, Tatort und Geschehensablauf auf unüberwindbare Schwierigkeiten stößt, genügt es ausnahmsweise, einen bestimmten Tatzeitraum, die Grundzüge der Art und Weise der Tatbegehung und eine (Höchst-) Zahl der einzelnen Taten anzugeben6. Grund dafür ist, dass sonst die Gefahr der Beeinträchtigung der Verteidigung des Angeklagten durch vage, unbestimmte Vorwürfe droht und der Umfang der Rechtskraft ebenso unklar wird wie die Antwort auf die Frage, ob sich das Urteil im Rahmen der von der Anklage gezogenen Grenzen hält. Ebenso wie eine unzureichend bestimmte Anklage deshalb unwirksam wäre, kann unter diesen Umständen auch die Auslieferung um die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes willen nicht erfolgen7.

Das Ersuchen teilt im hier entschiedenen Fall lediglich mit, dass der Verfolgte im Zeitraum zwischen März 2011 und Oktober 2012 in C. und Umgebung dauerhaft illegalen Handel mit Betäubungsmitteln wie Kokain mit anderen Mittätern betrieben haben soll, darunter C., der dem Mafia-Clan von C. unter der Führung des inhaftierten Bosses O. angehört haben soll. Ein erweiterter Haftbefehl ergab zusätzlich, dass ab Ende September 2012 ein gewisser F. auf Anweisungen des Verfolgten Betäubungsmittel bei dem Paar C.-S. zu kaufen begonnen habe. Im Übrigen enthält dieser erweiterte Haftbefehl über fünf Seiten die Wiedergabe von abgehörten Telefongesprächen, die Beleg für Tathandlungen der Gruppierung sein sollen. Selbst wenn sich diesen Beweismitteln einzelne Taten entnehmen lassen sollten, so ist die beweismäßige Auswertung Aufgabe des ersuchenden, nicht aber des ersuchten Staates. Die Justizbehörden des ersuchten Staates sind aus Gründen der Achtung der Souveränitätsrechte des ersuchenden Staates nicht befugt, in tatsächliche und rechtliche Bewertungen anderer Staaten einzugreifen und ihre Tatbewertung an die Stelle des ersuchenden Staates zu setzen. Es ist vielmehr Aufgabe des ersuchenden Staates, das Auslieferungsersuchen in Gestalt des Europäischen Haftbefehls so zu fassen, dass der ersuchte Staat entsprechend § 83a Nr. 5 IRG in die Lage versetzt wird, eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen und sich die Gewissheit zu verschaffen, dass der Einhaltung der Spezialitätsbindung Rechnung getragen werden kann.

Soweit auch eine Prüfung der Handlungen des Verfolgten unter dem Gesichtspunkt der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung im Sinne des § 129 StGB in Betracht kommt, steht dem ungeachtet des Umstandes, dass insoweit die Auslieferung des Verfolgten gerade nicht begehrt wird, da ihm persönlich die Mitgliedschaft in dem Mafia-Clan nicht vorgeworfen wird, entgegen, dass der beschriebene Sachverhalt keine nach Tatzeit und Tatort konkretisierbaren Umstände seines Eintritts in eine solche Vereinigung oder deren Geschäftszwecke fördernde individualisierbare Tathandlungen beschreibt.

Vor diesem Hintergrund kann derzeit von einer Auslieferungsfähigkeit nicht ausgegangen werden. Von der Möglichkeit, entsprechend § 30 IRG ergänzende Auskünfte einzuholen, hat die Generalstaatsanwaltschaft bereits vergebens Gebrauch gemacht. Dass im Falle des Erlasses eines Auslieferungshaftbefehls zeitnah die erforderlichen Auskünfte erteilt werden, erwartet das Oberlandesgericht danach nicht, weshalb der Erlass eines Auslieferungshaftbefehls derzeit nicht zulässig ist.

Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss vom 6. Mai 2014 – 1 Ausl 64/14

  1. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10.02.2005 – 1 AK 4/04; OLG Koblenz, Beschluss vom 29.03.2007 – (1) Ausl – III – 6/07; beide zitiert nach juris; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., IRG § 83a Rn. 11[]
  2. OLG Stuttgart, NStZ-RR 2003, 276; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, IRG § 10 Rn. 3[]
  3. OLG Celle, StV 2010, 318[]
  4. OLG Stuttgart aaO[]
  5. BGHSt 40, 138[]
  6. BGH aaO[]
  7. Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, IRG § 10 Rn. 3; OLG Stuttgart aaO[]