Widersprüchliche Feststellungen zur BTM-Abhängigkeit im Strafurteil

Sind die Erwägungen im Strafurteil in Bezug auf Betäubungsmittelabhängigkeit und/oder symptomatischen Zusammenhang widersprüchlich, darf sich die Vollstreckungsbehörde bei ihrer Zurückstellungsentscheidung nach § 35 BtMG (hier: Ablehnung) nicht ausschließlich auf die getroffenen Urteilsfeststellungen berufen; sie ist stattdessen verpflichtet, eine neue eigene umfassende Bewertung vorzunehmen.

Widersprüchliche Feststellungen zur BTM-Abhängigkeit im Strafurteil

Den in einem Urteil getroffene Feststellungen zur Drogenabhängigkeit und/oder Kausalität zwischen Drogenabhängigkeit und Straftaten kommt in der Regel ein hohes Gewicht zu. Dies gilt umso mehr, wenn solche Erkenntnisse auf dem Gutachten eines Sachverständigen gründen1. Gleichwohl ist anerkannt, dass auch in diesen Fällen keine uneingeschränkte Bindungswirkung gegeben ist. Die Feststellungen im Urteil haben letztlich gleichwohl nur die Bedeutung einer widerleglichen Vermutung2.

Obgleich hier das in Frage stehende Urteil sowohl eine Drogenabhängigkeit als auch einen symptomatischen Zusammenhang verneint, kann es letztlich nicht maßgeblich herangezogen werden. Insoweit ist bereits allgemein zu sehen, dass sich die Gründe – abgekürzt gem. § 267 Abs. 4 StPO – nicht ansatzweise substantiiert mit der Fragestellung auseinandersetzen. Die Beweiswürdigung beschränkt sich allein auf die bloße Feststellung, dass nach dem Gutachten Beides nicht vorgelegen habe und somit eine Unterbringung nach § 64 StGB nicht in Betracht komme. Ein näheres Hinterfragen anhand eines vorbereitenden schriftlichen Gutachtens ist nicht möglich, da ein solches zuvor nicht eingeholt worden war. Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass in einem Fall eine ausdrückliche Feststellung zum Suchthintergrund durchaus getroffen wurde und es sich bei weiteren Taten ohnehin um Drogendelikte im Zusammenhang mit dem Eigenkonsum handelte. In möglichem Widerspruch zu der ablehnenden Entscheidung einer Unterbringung ohne zureichende Beweiswürdigung steht auch, dass nach den Feststellungen die Einbruchdiebstähle auch zur Finanzierung des Kokainkonsums begangen worden seien.

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Letztlich entscheidend für eine ganz erheblich reduzierte Bedeutung der Feststellungen ist, dass das Urteil an einem unauflösbaren inhaltlichen Widerspruch leidet. Einerseits werden Drogenabhängigkeit und symptomatischer Zusammenhang verneint und mit dieser Begründung von einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen. Andererseits wird sodann – im unmittelbaren Kontext – jedoch ausgeführt, dass der Angeklagte die Möglichkeit habe, gem. §§ 35, 36 BtMG die Zurückstellung der Strafvollstreckung zu beantragen. Dieser Hinweis kann bei vernünftiger Auslegung letztlich auch nur so verstanden werden, dass seitens der Kammer die grundsätzlichen rechtlichen Voraussetzungen angenommen wurden; es wäre abwegig zu mutmaßen, die Kammer habe auf die Möglichkeit hinweisen wollen, der Angeklagte könne einen von vornherein unbegründeten Antrag (!) stellen. Eine Zurückstellung nach § 35 BtMG setzt jedoch – in völliger Übereinstimmung mit § 64 StGB – voraus, dass sowohl eine Betäubungsmittelabhängigkeit als auch eine Kausalität zwischen dieser und den Straftaten bestehen muss3. Liegt auch nur eine dieser Voraussetzungen nicht vor, scheidet eine Zurückstellung schlechterdings aus.

Das Oberlandesgericht Karlsruhe sieht sich vorliegend letztlich nicht in der Lage, eine sichere Erklärung für die Widersprüchlichkeit der Urteilsgründe zu finden. Möglicherweise unterlag die in Zweierbesetzung entscheidende Kammer – der Vorsitzende war wegen Urlaubs ohnehin an der Unterschrift verhindert – einem Rechtsirrtum, wenngleich sich die Voraussetzungen bereits anhand des bloßen Gesetzeswortlautes erschließen lassen. Ebenso kommt jedoch in Betracht, dass zwischen der Kammer, dem Verteidiger (im Einvernehmen mit dem Angeklagten) und der Staatsanwaltschaft eine „stillschweigende Übereinkunft“ dahin bestand, eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu unterlassen und den Angeklagten stattdessen „auf die Möglichkeit des § 35 BtMG zu verweisen“. Obgleich dies nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ausgeschlossen ist4, zeigt die geläufige Rechtswirklichkeit, dass eine solche Praxis durchaus nicht selten zu beobachten ist. Dabei sind es oft gerade die Angeklagten selbst, die „§ 35 BtMG“ für eine weniger belastende Konsequenz halten und deshalb einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vorziehen.

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Ausgehend vom Entfallen des üblichen Beweiswertes ausdrücklicher Urteilsfeststellungen wäre die Staatsanwaltschaft verpflichtet gewesen, nunmehr anhand der gegebenen Indizien eine neue eigene Bewertung vorzunehmen. Insoweit bestehen durchaus konkrete Hinweise, dass auch die Taten des früheren und möglicherweise auch des einbezogenen Urteils in einem Zusammenhang zu einer Betäubungsmittelabhängigkeit gestanden sind.

Die Strafurteile stellten fest, dass der Antragsteller nach bereits in der späteren Jugend begonnenem Konsum von Cannabis ab dem Alter von 28 Jahren, d.h. seit etwa 1994, regelmäßig die über ein hohes Suchtpotential verfügende Droge Kokain konsumierte. Schließlich habe er täglich zwei bis vier Gramm hiervon zu sich genommen. Angesichts des Preises für Kokain, der für ein Gramm bei guter mittlerer Qualität in einer Größenordnung von 60, – EUR anzusiedeln ist5, hätte der Antragsteller bei drei Gramm täglich monatlich für den Eigenkonsum Kokain zum Gesamtpreis von etwa 5.500, – EUR benötigt. Im Hinblick auf die desolaten wirtschaftlichen Verhältnisse – sehr hohe Schulden aus früherer selbständiger Tätigkeit in der Baubranche und späterer überwiegender Arbeitslosigkeit – lag auf der Hand, dass der Antragsteller den Drogenbedarf nur durch die Begehung erheblicher und vielfacher Straftaten wirtschaftlich decken konnte. Dabei ist für eine Zurückstellung ausreichend, dass bloße Mitursächlichkeit gegeben ist6. Demzufolge steht einer Zurückstellung nicht entgegen, dass der Antragsteller ausweislich der Urteilsgründe jedenfalls auch den allgemeinen Lebensbedarf habe finanzieren wollen.

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Der Antragsteller hat den Drogenkonsum auch nicht, wie oft zu beobachten, erst im Rahmen der Vollstreckung der Freiheitsstrafe behauptet. Er war vielmehr bereits Gegenstand einer eigenständigen Einvernahme, die die Kriminalpolizei durchgeführt hat. In dieser gab der Antragsteller an, sich mit dem Mitbeschuldigten zur Begehung von Einbruchsdiebstählen entschlossen zu haben, da „sie gerne eine Nase gezogen hätten“. Ausweislich eines handschriftlichen „Suchtverlaufs“ teilte er u.a. ergänzend mit, ab dem Alter von 28 Jahren Kokain und Speed konsumiert zu haben, schließlich drei bis fünf Gramm täglich. Da er eine nasale Konsumform praktizierte, ist eine solche Menge durchaus glaubhaft. Die Straftaten habe er zur Finanzierung der Sucht begangen.

Passend zu diesen Angaben des Antragstellers steht darüber hinaus, dass die Untersuchung einer Urinprobe vom 08.04.2002 bezüglich Kokain einen Wert von 2021 ng/ml erbrachte [positiver Befund ab über 300 ng/l])).

Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluss vom 17. November 2014 – 2 VAs 11 -12/14; 2 VAs 11/14; 2 VAs 12/14

  1. Körner/Patzak/Volkmer, aaO, § 35 Rn. 92; Weber, BtMG, 4. A. § 35 Rn. 50; MK-Kornprobst, BtMG, § 35 Rn. 52[]
  2. OLG Karlsruhe, StraFo 2009, 470 mit Anm. Malek; OLG Oldenburg StV 2001, 467; OLG Hamm MDR 1984, 75; Weber, aaO, § 35 Rn. 49; MK-Kornprobst, aaO, § 35 Rn. 52[]
  3. Körner/Patzak/Volkmer, aaO, § 35 Rn. 57ff und 95ff[]
  4. BGH NStZ-RR 2012, 314[]
  5. vgl. Körner/Patzak/Volkmer, aaO, Stoffe Teil 1 Rn. 143[]
  6. Weber, aaO, § 35 Rn. 34; MK-Kornprobst, aaO, § 35 Rn. 45[]
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