Corona-Verbote vor dem Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass auch zur nachträglichen Klärung der Verfassungsmäßigkeit außer Kraft getretener Verbote in den Corona-Verordnungen der Länder vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde der Rechtsweg der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle zu erschöpfen ist.

Corona-Verbote vor dem Bundesverfassungsgericht

In der hier vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen -und nicht zur Entscheidung angenommenen- Verfassungsbeschwerde wandten sich die Beschwerdeführer gegen das Ausgangsverbot nach § 5 Absätze 2, 3, 4 Satz 2 und § 7 Nummer 9 der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BayIfSMV) vom 16.04.20201 . Verstöße hiergegen könnten als Ordnungswidrigkeiten sanktioniert werden, obwohl das verbotene Verhalten nicht hinreichend bestimmt sei. Dadurch seien sie bei jedem Verlassen der Wohnung einem unkalkulierbaren Sanktionsrisiko ausgesetzt. Dies verletze sie in ihren Grundrechten auf Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Diese Regelungen waren wortgleich auch in der nachfolgenden Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 01.05.20202 enthalten. Mit der nach § 24 Satz 2 insoweit am 6.05.in Kraft getretenen Vierten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 05.05.20203 sind -nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde- die Ausgangsbeschränkungen entfallen; seither gelten Kontaktbeschränkungen.

Die Beschwerdeführer haben nicht vorgetragen, dass sie einen Antrag auf Überprüfung der angegriffenen Verordnungsregelungen im Rahmen einer prinzipalen Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit Art. 5 des bayerischen Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) gestellt haben. Im Gegenteil argumentieren sie, dass eine Verweisung auf fachgerichtlichen Rechtsschutz wegen Aussichtslosigkeit nicht in Betracht komme; der Bayerische Verwaltungsgerichtshof4 habe die angegriffenen Vorschriften in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Dritter überprüft, ohne sie vorläufig außer Kraft zu setzen.

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Das Bundesverfassungsgericht behandelte die Verfassungsbeschwerde mit Blick auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde als unzulässig:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Sie wahrt nicht den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 2 BVerfGG. Dieser verlangt, dass vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen werden, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden, sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen5.

Danach haben die Beschwerdeführer, die sich mit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Normen einer landesrechtlichen Verordnung wenden, den nach § 47 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit Art. 5 AGVwGO eröffneten Rechtsweg der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nicht erschöpft.

Der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber diesem fachgerichtlichen Verfahren steht nicht entgegen, dass die angegriffenen Regelungen nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde außer Kraft getreten sind. Eine Verweisung auf die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle wäre nur dann unzumutbar, wenn in diesem Verfahren eine nachträgliche Feststellung der Vereinbarkeit von außer Kraft getretenen Normen mit höherrangigem Recht grundsätzlich nicht erlangt werden kann. Davon kann jedenfalls hinsichtlich der in den Corona-Verordnungen der Länder enthaltenen Verbote und Beschränkungen nicht ausgegangen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits entschieden, dass ein Normenkontrollantrag auch gegen eine bereits aufgehobene Rechtsnorm zulässig sein kann, wenn während des Normenkontrollverfahrens eine auf kurzfristige Geltung angelegte Norm etwa wegen Zeitablaufs außer Kraft getreten ist6. Die in den Corona-Verordnungen enthaltenen Verbote sind aber gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie typischerweise auf kurze Geltung angelegt sind mit der Folge, dass sie regelmäßig außer Kraft treten, bevor ihre Rechtmäßigkeit in Verfahren der Hauptsache abschließend gerichtlich geklärt werden kann. Es kommt hinzu, dass die Verbote die grundrechtliche Freiheit häufig schwerwiegend beeinträchtigen. Da sie – wie hier die als Ordnungswidrigkeit bewehrten Ausgangsbeschränkungen – zudem in der Regel keines Verwaltungsvollzugs bedürfen, liegt eine nachträgliche Klärung ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten im Verfahren der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nahe.

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Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der Überprüfung von bereits außer Kraft getretenen Verboten in den Corona-Verordnungen der Länder auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten auch dann gegenüber dem verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren nach § 47 Abs. 1 VwGO subsidiär, wenn einstweiliger Rechtsschutz nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht nur summarisch, sondern nach eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage abgelehnt wurde, was die Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf den in einem Verfahren Dritter ergangenen Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28.04.20207 geltend machen. Auch dann ist es möglich, dass das Obergericht im Hauptsacheverfahren zu einem anderen Ergebnis gelangt, zumal zur Rechtmäßigkeit der verschiedenen Corona-Verbote noch keine gefestigte obergerichtliche oder höchstrichterliche Rechtsprechung besteht. Anderenfalls ist nicht ausgeschlossen, dass die Vereinbarkeit der Verbote mit den – bundesrechtlichen – Grundrechten des Grundgesetzes noch in einem Revisionsverfahren überprüft wird. Im Übrigen hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hier die Vereinbarkeit der als Ordnungswidrigkeit bewehrten Ausgangsbeschränkungen mit Art. 103 Abs. 2 GG in dem oben genannten Beschluss nicht etwa abschließend bejaht, sondern angenommen, dass der Normenkontrollantrag in der Hauptsache „voraussichtlich überwiegend unbegründet sein wird“8.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht deshalb ausnahmsweise vor Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes zulässig, weil sie allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, die das Bundesverfassungsgericht auch ohne vorherige fachgerichtliche Aufbereitung der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen beantworten könnte9.

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Diese Ausnahme ist auf Fälle beschränkt, in denen sich ein Beschwerdeführer unmittelbar gegen ein förmliches Gesetz wendet und das fachgerichtliche Verfahren für ihn bestenfalls dazu führen kann, dass das angegriffene Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird. In diesen Fällen wird einem Beschwerdeführer nicht zugemutet, zunächst ein fachgerichtliches Verfahren anzustrengen, wenn dessen Durchführung keine verbesserten Grundlagen für die dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltene Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes erwarten lässt. Anders liegt es hingegen, wenn – wie hier – der Beschwerdegegenstand eine untergesetzliche Norm ist. Insoweit steht auch Fachgerichten die Kompetenz zur Normverwerfung zu, so dass selbst dann, wenn allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen sind, auch ohne Anrufung des Bundesverfassungsgerichts Rechtsschutz erlangt werden kann10.

Im Übrigen hängt die verfassungsrechtliche Beurteilung der angegriffenen Corona-Verbote nicht allein von spezifisch verfassungsrechtlichen Fragen ab. Auch für die nachträgliche Klärung der Vereinbarkeit außer Kraft getretener Corona-Verbote mit den Grundrechten wird es wesentlich darauf ankommen, welche tatsächlichen Rahmenbedingungen der Coronavirus-Pandemie sowie fachwissenschaftliche – virologische, epidemiologische, medizinische und psychologische – Bewertungen und Risikoeinschätzungen während der Geltungsdauer der Normen bestanden. Dabei können sich die maßgeblichen tatsächlichen Umstände in den Ländern auch deutlich unterscheiden. Zudem kann für die Entscheidung die Auslegung der in den Verordnungen enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe maßgeblich sein. Folglich besteht auch mit Blick auf eine nachträgliche Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit außer Kraft getretener grundrechtseinschränkender Bestimmungen in den Corona-Verordnungen der Länder Bedarf an einer fachgerichtlichen Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen. Damit sprechen zugleich gewichtige Gründe gegen eine sofortige Entscheidung über solche Verfassungsbeschwerden vor Erschöpfung des Rechtswegs nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wegen allgemeiner Bedeutung11.

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 3. Juni 2020 – 1 BvR 990/20

  1. BayMBl Nr.205, BayGVBl S. 214[]
  2. BayMBl Nr. 239, BayGVBl S. 255[]
  3. BayMBl Nr. 240, Nr. 245, BayGVBl S. 271[]
  4. BayVGH, Beschluss vom 28.04.2020 – 20 NE 20.849[]
  5. vgl. BVerfGE 107, 395, 414; 49, 252, 258[]
  6. BVerwG, Urteil vom 29.06.2001 – 6 CN 1.01 10[]
  7. BayVGH, Beschluss vom 28.04.3030 – 20 NE 20.849[]
  8. BayVGH, Beschluss vom 28.04.2020 – 20 NE 20.849 28[]
  9. vgl. BVerfGE 150, 309, 327 Rn. 44[]
  10. vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.03.2020 – 1 BvR 712/20, Rn. 16[]
  11. vgl. BVerfGE 8, 222, 227; 13, 284, 289; BVerfG, Beschluss vom 31.03.2020 – 1 BvR 712/20, Rn. 17[]

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